Ankündigung der Wage

[667] Wer mag wohl ohne Lächeln oder Schmollen die Ankündigung einer neuen Zeitschrift in die Hände nehmen? Auch der gutmütigste Leser nicht, wenn er ein Deutscher ist. Denn diesem erscheint das lange Aussprechen über vaterländische Dinge nicht als das notwendig fortdauernde Atmen eines gesunden freien Geistes, sondern als das Stöhnen einer beengten Brust, welches Bedrückung verrät und als Zeichen eines Übelbefindens unerfreulich ist. Die Klagen der öffentlichen Redner, welche die Oberflächen aller Verhältnisse überziehen, dünken dem Deutschen nur der Schimmel zu sein, der sich unsern verdorbenen Einrichtungen angesetzt hat, und die als Werk der Fäulnis seine Trauer erregen. Den Lesern solcher Gesinnung ihren Wahn zu entziehen, als solle eine Zeitschrift nur als Sekundenzeiger an einer Uhr dienen, um den ungeordneten Puls des Staates zu verraten, nicht aber als das Triebwerk selbst, welches die Gänge der Zeit regelmäßig erhält und ihre Fortschritte abmißt, – dieses zu tun wird ein künftiges Bestreben der hier angekündigten Blätter sein. – Aber es gibt auch Andersdenkende, welche die Lust und Würde des freien Wortes besser erkennen und dennoch mit Überdruß die Zahl der Tagesblätter wachsen sehen, weil deren nur wenige[667] von der breiten staubigen Landstraße abweichen, durch anmutigere Pfade ziehen und die Langeweile dabei nur dann unterbrochen wird, wann die auf einem Wege, aber nach entgegengesetzter Richtung Wandernden sich begegnen und mit den Köpfen aneinanderstoßen. Mit diesen letztern möchte ich mich sogleich verständigen und darzutun suchen, daß eine Zeitschrift auch ohne eigentümlichen Wert, und welcher weiter nichts gelänge als die Vermehrung der schon bestehenden, dennoch von Ersprießlichkeit sei.

Und wahrlich so ist es! Wie zahlreiche Straßen und Kanäle, die durch das Gebiet eines Landes kreuzen, immer für Anzeichen eines gutgeordneten und reichen Staates gehalten worden, da viele Wege auf häufige Bewegung deuten und durch sie große und mannigfaltige Kräfte sich verkünden, so zeugt es nicht minder von einem lebhaften Umtausche der Gedanken, wenn ihrer freien und schnellen Mitteilung viele Wege offenstehen.

Wenn ein Zeitschriftsteller auch nur der Fuhrmann der Wissenschaft und der Geschichte wäre, bliebe er doch ein ehrenwerter Mann; aber er ist mehr als das. Er reicht uns das Gefäß, das unentbehrlich ist, um an der Quelle der Wahrheit für den Durst des Augenblicks zu schöpfen.

Denn die Ausbeute edler Wissenschaft, durch mühsame Forschung aus der Tiefe des menschlichen Geistes zutage gebracht, liegt oft in verborgenen Gemächern lange Zeit unberührt, dem Besitzer ohne Lust und Vorteil, dem Entbehrenden unbekannt oder unzugänglich, und so geschieht, daß viele in klar gewordenen oder dunkeln Bedürfnissen mitten unter ihren Schätzen darben. Alles Wissen ist nicht mehr als das Metall, womit sich das Leben bezahlt; für sich ungenießbar, gibt es nur Anweisung auf Genuß, und erst durch Hingeben empfängt man seinen Wert. Aber die Barren der Wahrheit,[668] von Reichen an Geist in großen Werken niedergelegt, sind nicht dienlich, um die kleinen täglichen Bedürfnisse der Unbemittelten damit zu vergelten. Diese Brauchbarkeit hat nur das ausgemünzte Wissen.

Die Zeitschriften sind es, welche diese Münzen bilden; von der Ausbeute der Erkenntnis geprägt, unterhalten sie den Wechselverkehr zwischen Lehre und Ausübung. Nur sie führen die Wissenschaft ins Leben ein und das Leben zur Wissenschaft zurück. Auch ihre tadelnswerte Seite mag nicht unberührt bleiben. Die Gutgesinnten mögen, um dem übelwollenden Spotte zuvorzukommen, freiwillig eingestehen, daß Zeitschriften sowenig als Münzen zu ihrer Haltbarkeit der Beimischung unedler Metalle entbehren können; aber nichts entwürdigt eine Sache, was ihre Brauchbarkeit vermehrt. Wahrlich, das Kupfer, das durch Tagesblätter unter das Volk gebracht wird, ist mehr wert als alles Gold in Büchern. Wenn auch manche Wahrheit nur mit Irrtum vermischt ausgebreitet [werden] und ein richtiges Urteil oft nur Eingang finden kann, wo es an Vorurteil sich knüpft, so wird doch endlich das Untaugliche zu Boden sinken und das Gute allein sich emporhalten. Konnte doch die Vaterlandsliebe der Deutschen sich nur an einem ungebührlichen Hasse gegen ein fremdes Volk entzünden, und lodert nicht jetzt die schöne helle Flamme gereinigt fort, nachdem der schmutzige Schwamm, der sie erzeugte, schon längst verglommen ist?

Im deutschen Lande war der Baum der Erkenntnis eine ehrwürdige Eiche, die dem müden Menschen Schatten, aber der hungrigen Seele keine Speise gab, und die Kunst war eine Blumenflur, die nur das Aug' ergötzte. Reicher an Quellen des Wissens ist wohl kein anderes Land, und dennoch dürstet das Volk; denn die Wünschelrute, welche jene zutag' bringt, ist in den Händen der schuldbewußten Furchtsamen, die in den sturmbewegten[669] Wellen, welche das schlecht gesteuerte Schiff verschlingen, und in dem Labetrunke im Becher nur die anverwandten Wassertropfen sehen. Wenn Kinder glücklich sind, die, im engen Gehäuse der Gegenwart lebend, weder Vergangenheit noch Zukunft kennen; wenn der Blinde glücklich ist, der die Blitze am Himmel nicht fürchtet, weil er sie nicht sieht; wenn der Buchgelehrte glücklich ist, den in seinem Treibhause der Wissenschaft die kalte frische Luft der Welt nicht berührt – dann waren es die deutschen Völker auch. Wenn aber nur der glücklich ist, der alle Kräfte, die er [in] sich fühlt, gebrauchen und in das große Triebwerk des bürgerlichen Lebens der Menschen immer den Blick richten und, wenn es Zeit ist, auch eingreifen darf; und wenn der nicht glücklich ist, der wie in einer Uhrwerkstätte immer nur Zeiger, nur Federn oder nur Zifferblätter gedankenlos zu machen hat – so waren es die Deutschen auch nicht. Sie sind auf dem Wege, es zu werden. Für wen die Geschichte arbeitet, weiß keiner vorherzusagen, aber wer am meisten dabei gewann, für den hat sie gearbeitet. Und wer möchte den Bemühungen der dreißig letzten Jahre mehr abgewonnen haben als unser Vaterland, das am meisten zu erwerben hatte, weil es am wenigsten besaß?

Die Aussagen der Zeit zu erlauschen, ihr Mienenspiel zu deuten und beides niederzuschreiben, wäre ein ehrenvoller Dienst, selbst wenn er nicht gefahrvoll wäre. Daß er auch dieses ist, vermehrt seinen Reiz, und nur die Schwachheit vermag einer solchen Lockung zu widerstehen. Die Menschen haben Furcht, als wären sie Geschöpfe von nur augenblicklicher Dauer. Darum unterbleibt so vieles Gute in Worten wie in Taten.

Zu jenem Dienste sind noch lange nicht genug berufen, und doch ist so vieles daran gelegen, daß die Zeitschriften sich vermehren; ja, oft wäre zu wünschen, daß[670] die Tagesblätter in Stundenblätter auseinandergingen, damit nichts überhört werde und verloren gehe. Der beobachtenden Blicke können nie zu viele und die Berichte des Geschehenen nicht zu häufig werden. Die Entwickelungsstufe, über welche jetzt die Menschheit schreitet, bringt Verborgenes hervor, das sich schnell wieder bedeckt, sobald die Stufe erstiegen ist, und erst nach Jahrhunderten des Stillstandes, wenn das Menschengeschlecht von neuem einen Schritt macht, wiedererscheinen wird. Wie dort, wo dem Leben Gefahr droht, seine Geheimnisse hervorspringen und in den Erscheinungen der Krankheit sich uns die Gesetze des Wohlbefindens offenbaren, so müssen wir an den Gebrechen dieser Zeit die Regel ihrer Vollkommenheit lernen und, um den innern Bau der bürgerlichen Gesellschaft zu erforschen, schnell, ehe sie sich schließen, durch ihre offenen Wunden sehen.

Die Wage, als ein Tagebuch der Zeit, soll nichts unbedacht lassen, was die Teilnahme der Verständigen und Gefühlvollen besitzt oder verdient. Sie wird besprechen: das bürgerliche Leben, die Wissenschaft und die Kunst, vorzüglich aber die heilige Einheit jener drei. Denn nicht die Kraft und Bewegung des er sten, nicht die Fruchtbarkeit der andern, nicht die Blüte der dritten vermag für sich allein die Menschheit zu beseligen; nur ihre Verbindung kann es. Und das ist's was das gegenwärtige Geschlecht an Glück und Bedeutung über das vergangene erhebt, daß es Arbeit und Arbeit, Lust und Lust nicht mehr so feindlich teilt und die Toga des Bürgers zugleich das Feierkleid des fröhlichen Menschen und das Hausgewand des ruhenden Vaters sein darf.

Woher es komme, daß wir, ungleich den Völkern des Altertums, uns der Meinung unterworfen haben, daß das menschliche Dasein zur Knechtarbeit bestimmt, daß die Freude nur die vergängliche Blüte, nicht die dauernde[671] Wurzel des Lebens sei, daß wir nur genießen, um zur Entbehrung neue Kräfte zu sammeln, der Zukunft jede Gegenwart aufopfernd, und dieses bis in die Ewigkeit hinüberrechnend – woher alle dieser Jammer fließe – dies in wenigen Worten zu sagen, wäre gefährlich, und fruchtlos ist's, wo man, sich verständlich zu machen, vieler Worte bedarf. Aber wahrlich, seitdem uns des Lebens Spiel nicht heilig mehr erscheint, ist uns das Heilige zum Spiel herabgesunken. Das glücklichste aller Völker, bei dem jene düstere Lebensansicht am wenigstens vorherrscht und das den alten Griechen am meisten gleicht, ist das französische. Wer in seinen Zeitschriften liest, wie auf derselben Blattseite Talmas Spiel auf der Bühne und das der Minister in den Kammern, beides mit gleichem Ernste und gleicher Heiterkeit, besprochen wird; der Deutsche, der dies wahrnimmt und nur lächelt, nicht trauert, der weiß es nicht, welch einen Vorsprung die Franzosen vor uns haben, die wir immer nur plötzlich und mit Gefahr der Gesundheit aus dem umschlossenen gewärmten Tempel der Kunst in die kalte Zugluft des bürgerlichen Lebens übertreten.

Die Kunst, welche, das Geschöpf zum Schöpfer erhebend, und, indem sie das Leben ein- und fortpflanzt, allen Wesen, die sie beseelt, Unsterblichkeit gibt, hat vor dem Kriege des Himmels mit der Erde und des Ewigen mit der Vergänglichkeit schon längst sich und alle ihre Habe geflüchtet. Als die Griechen noch Götter und Helden besaßen, hatten sie Tempel und Bildwerke für beides. Als im Mittelalter in den Staaten Italiens ein kräftiges und üppiges Bürgerleben sich entfaltete und die Nacht des Wissens durch den Stern der Religion erhellt ward, da entblieben die Dichter und Maler auch nicht. Wie aber könnte Bildnerei bei einem Volke ohne Umriß und öffentliches Leben und Malerkunst da gedeihen, wo Philosophie mit dem Glauben kämpft? – Die deutsche[672] Dichtkunst liegt im Dämmerscheine; ob es Morgenoder Abenddämmerung sei – ich weiß es nicht. Schöne rote Streifen am Himmel reden für beides. – Die Tonkunst ist die einzige, deren die Deutschen Meister sind und worin sie den übrigen Völkern es zuvortun. Den Verstand der Franzosen mit dem Gefühle der Italiener verbindend, ist die deutsche Musik plastisch und malerisch, Geist und Herz finden gleiche Befriedigung in ihr, und man braucht in ihrem Genusse nicht dem Himmel um der Erde willen zu entsagen. Könnten die Deutschen in Tönen reden und nach diesen Worten auch handeln, sie wären das erste aller Völker und würden vielleicht sich selbst achten. Da Werke auch verschiedener Künste wohl miteinander verglichen werden dürfen, weil die Darstellung des Gottähnlichen im Vergänglichen das gemeinschaftliche Streben aller ist, so mag die deutsche Tonkunst ihren Mozart kühn an die Seite Raffaels, Shakespeares und Canovas stellen.

Diesen Künsten soll in der Wage ein Platz angewiesen werden, welcher der Würde, die sie im öffentlichen Leben der Deutschen genießen, angemessen ist.

Die Schauspielkunst zeigt jetzt in Deutschland einen raschen Lebenstrieb, und der Volkstümlichkeit bald vorgehend, bald nacheilend, verdient sie eine hohe Aufmerksamkeit. Deren Gänge und Halte wird diese Zeitschrift nie aus dem Blicke verlieren. Es ist nicht bloß der Kunstsinn und das Gefühl fürs Schöne, die sich an der Beurteilung dramatischer Werke und ihrer Darstellung auf der Bühne üben, es treten noch andere Dinge hervor, welche hierbei die Teilnahme fesseln. Das stehende Schauspiel eines Orts ist selten besser, nie schlechter als die Zuhörer darin, und so wird es die höflichste Art, einer lieben Bürgerschaft überall zu sagen, was an ihr sei, daß man über ihre Bühne spreche.

Die Wissenschaft, dieses Meer, wohin alle Ströme des[673] Lebens fließen, hat lange nur einige Küstenstriche der menschlichen Wohnstätten bespült und das große Festland trocken gelassen. Aber in den Stürmen und Erdbeben unserer Zeit wurden oft die Ufer durchbrochen und Wasserzungen in das Land hineingeführt. Aus dem Ozean selbst haben fruchtbare Inseln sich erhoben, die herrlich grünen und blühen. Die deutsche Wissenschaft glich auch darin dem Meere, daß sie gesalzen und ungenießbar war; doch haben wir in unsern vielen Nöten die Destillation des Meerwassers für den Trank etwas erlernt, und seitdem sind unsere Fahrten fröhlicher geworden. Man sagt, die Wissenschaft in Deutschland habe an Tiefe verloren; es mag sein, aber sie hat an Ausbreitung gewonnen. Die durch Dünger getriebene Gelehrsamkeit der Kunstgärtnerei zieht den Blick nicht so heiter an als die ins Freie gepflanzte Wissenschaft, durch deren Zweige der frische Hauch des öffentlichen Lebens weht. Aus dem Leipziger Meßverzeichnisse, dem schönsten unter allen in Deutschland erscheinenden Büchern, er sieht man mit Freude, wie der vaterländische Sinn immer mehr und mehr heranwachse und selbst die entferntesten Wissenschaften herbeieilen, das Bürgertum zu begrüßen.

In unserer Zeitschrift sollen die vorzüglichsten Werke der vaterländischen Wissenschaft, jene zumal, die von bürgerlichen Dingen handeln, beurteilt werden, und damit keine Einseitigkeit der Kritik sich geltend machen könne, wird man die Aussprüche von Männern verschiedenartiger Ansichten zu erlangen suchen.

Auf das bürgerliche Leben endlich, in welchem die verschiedenen Kräfte der menschlichen Natur sich vermählen und fruchtbar werden, wird unser Blick und Sinn, wie die Zeit selbst es tut, am häufigsten gerichtet sein. Hätten die, welche alle Macht besaßen, die Befriedigung eines natürlichen Triebes nicht so lange verwehrt, dann[674] wäre dieser gesunde Trieb nie in eine krankhafte Sucht ausgeartet. So mögen sie denn ihre unbeschreibliche Angst als Strafe ihres Vergehens in Demut tragen.

Nämlich: Narren von Philosophen hatten das Menschengeschöpf ganz drollig in ein dreistöckiges Haus abgeteilt und Staatsbaumeister diesen willkommenen Plan schnell und schadenfroh ausgeführt. Unten solle das Vieh wohnen, über ihm der Mensch, nächst dem Dache der Bürger. Diese verschiedenen Bewohner Eines Hauses lebten lange in stiller Feindschaft und offnem Hader. Wenn das Erdgeschoß knurrte und biß, ließ der Fromme über ihm sich in Sittenpredigten vernehmen, und die Memme im dritten Stocke versteckte sich und keifte aus ihrem Schlupfwinkel hervor. Die schlaue, immer wache und lauernde Zwingherrschaft benutzte diesen Streit, um jeden allein nach seiner Art zu bändigen, was nie gelungen wäre, wären die Hausbewohner einig geblieben. Dem Tiere gab sie zu essen oder machte es durch Hunger zahm; den Menschen umhüllte sie mit den Wolken des Aberglaubens, diese für den Himmel erklärend; den Bürger schreckte sie. So regierte man jahrhundertelang die Menge nach Willkür, bloß weil jeder einzelne Mensch mit sich selbst zerfallen war. Da geschah es zu unserer Zeit, daß unter dem Dache jenes Hauses Feuer ausbrach und dessen Erdgeschoß durch Überschwemmungen litt. Die Zerstörung[en] des Gebäudes unten und oben nötigten nun das Tier und den Bürger, zum Menschen ihre Zuflucht zu nehmen, und seitdem wohnen sie zum Ärger der Bösen friedlich in einer Stube beisammen.

Der Zwist der Hausgenossen ist geschlichtet, der Staatsbewohner ihrer dauert fort. Dem geendigten Waffenkriege, der fünfundzwanzig Jahre die Länder Europens durchzog, folgte, was ihm vorhergegangen war, ein Krieg der Meinungen. Dieser Kampf wird nur gefährlich,[675] wenn er dafür geachtet wird: es ist sonst nichts zu fürchten als die Furcht. Daß nach heftigen Stürmen die aufgeregten Wellen nicht gleich besänftigt fortfließen, ist in der Ordnung der Dinge, und besser ist es, daß die überspannten Gemüter durch mäßige Anstrengung zur Ruhe übergehen als plötzlich zur Abspannung überspringen.

Wie die Zeitschriftsteller diesen Meinungskampf über Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens zu beobachten und seinen abwechselnden Erfolg zu berichten hätten, darüber ist mehr gesprochen als gedacht worden. Eine falsche Ansicht hat die andere verdrängt, aber die größte Betrügerin hat den Platz behauptet: die Lehre nämlich, daß der heftige Gedankenkrieg, der jetzt herrsche, von den Schriftstellern selbst erst angefacht, dann unterhalten, dann beschrieben worden, und es wäre alles ruhig geblieben ohne sie. Es ist, als sage man, der kranke Mensch werde von allen seinen Schmerzen geheilt, sobald man ihm den klagenden Mund verbände. Einem solchen Wahnwitze gegenüber stillzuschweigen, ist leichter als nur gelassen zu eifern. Doch auch zu letztern ist hier der Ort nicht, und es soll nur gesagt werden, was als Vorbereitung not tut.

Mancher Tadel schon hat diejenigen getroffen, die über unsere bürgerlichen Einrichtungen öffentlich sprachen. Die Schriftsteller, diesmal im Besitze der Übermacht, haben die Vorwürfe, die sie empfingen, zürnend und kräftig zurückgeworfen. Der Streit ist nicht ohne Verwicklung, doch bedarf es mehr Gerechtigkeit als Schlauheit, um den Richterspruch zu fällen. Mir, der ich jetzt eben selbst auf die Seite der Angeklagten trete, ziemt keine Entscheidung hierüber. Sie bleibe dem Leser überlassen, und zu dessen Richtschnur werde einiges hier mitgeteilt von dem, was diese, und von dem, was jene sagen.

Man kann von dem Schriftsteller nicht fordern, daß er[676] ohne Haß und ohne Liebe sei und über alle Wolken der Selbstsucht erhaben die Gewitter nur unter sich wahrnehme. Wie sollte er allein von den Banden der Eigenliebe frei bleiben und nicht auch manchmal in dem Gesetze seines eigenen Vorteils die Regel der Weltordnung zu sehen glauben? Aber das mag jederzeit von ihm verlangt werden, daß er der Möglichkeit jenes Einflusses sich bewußt bleibe und nicht keck und unbesonnen auf die Unfehlbarkeit seiner Ansichten trotze. Daß er sie gegen jeden zu verfechten und geltend zu machen suche, ist nicht unrühmlich, weil es für den Ernst der innern Überzeugung spricht. Aber wer den Fehdehandschuh herausfordernd hingeworfen hat, darf keinen Kämpfer zurückweisen und, wie es oft geschieht, seine aus selbstbewußter Schwäche entspringende Furcht hinter eine angenommene Geringschätzung verbergen. Es gibt in Deutschland auch nicht eine Zeitschrift, welche so unparteiisch wäre, daß sie die ihr feindlich begegnenden Meinungen nicht bloß dann aufnimmt, wenn sie erprobt hat, daß sie sie schlagen werde, sondern es auch täte, wenn der Sieg zweifelhaft oder dem Sieger geblieben ist. Sie nehmen immer nur die Leichen ihrer Feinde mit prahlerischer Großmut gastlich auf. Der Sklave seiner eigenen Meinung trägt auch schimpfliche Ketten; man soll nicht der Diener der guten Sache, sondern ihr Freund sein. Es gibt nur eine verwerfliche Meinung, die verwerfende, welche keine andere als die ihr gleichen duldet. Eine Zeitschrift müßte jeder Ansicht offenstehen, und einer schädlichen oder dafür gehaltenen den Platz zu versagen, ist ebenso unverständig, als es wäre, aus der Naturgeschichte die Lehre der Giftpflanzen und bissigen Tiere verdrängen zu wollen. In der Wage soll jede Ansicht, auch wenn ihr der Herausgeber nicht gewogen ist, dennoch eine willige Aufnahme finden; ja, sie soll sehr willkommen sein, weil am Widerspruche die[677] Wahrheit erstarkt. Nur möge man es nicht als einen Verrat an der Gastfreundschaft ansehen, wenn der Wirt selbst das, was ihm an seinen Gästen nicht behagt, freimütig tadelt oder geschehen läßt, daß es andere rügen. Was zu verschiedenen Zeiten nicht unedle Menschen behauptet haben, wiederholen die Schlechten unserer Tage gern und oft: daß das Wissen seine Wendekreise habe, über welche hinaus Geist und Herz verkohle, und daß die glücklichsten Völker im gemäßigten Klima der Zweifel wohnen. Vielleicht ist Wahrheit in dieser Lehre; denn auch in den schönsten Sonnentagen der Geschichte haben Priester und Tempel ein noch schöneres Licht stets vor der Menge bewahrt. Aber wäre dies auch, wie weit entfernt von der heißen Zone des Wissens ist noch jetzt die europäische Menschheit, und wie lau und sanft ist all ihr Wollen und ihr Tun. Darum sei man unbesorgt, froh des heranbrechenden Völkerfrühlings und fürchte nicht die Bewegung im Freien. Sie hat nur allzulange gedauert, die Alleinherrschaft des geheizten Ofens, die drohend oder liebkosend die frierenden Bürger in der Staatskinderstube zurückgehalten hat, und die verdunstete Luft darin war ganz unerträglich geworden.

Nach jenen kommen die Schwächlinge, die jedes Wort, das nicht gelispelt wird, wie ein Donner aufschreckt. Sie sagen euch leise, ganz leise ins Ohr: es wäre freilich nicht alles, wie es sein sollte; aber sie bäten höflichst keinen Lärm zu machen, der stillen Lehre wolle man in der Stille folgen. Habe ja längst die Sitte auch für die Meinungskriege an die Stelle eines wilden Handgemenges den Gebrauch anständiger Kunstwaffen gesetzt! – So reden sie. – Aber wißt ihr, welche am meisten sich auf die Erfindung des Pulvers berufen? Diejenigen, die am wenigsten an dieser Erfindung teilhaben. Sie wollen ihre Schwäche hinter Menschlichkeit und ihre Furcht hinter den Anstand verstecken. Es ist wahrlich[678] gut, daß der Geist des Menschen seine ursprüngliche Naturkraft wieder gebrauchen lerne und die Berechnungen der tückischen Feuergewehre zuschanden mache. Wahr ist's, auch im Streite der Meinungen gibt es Waffen, deren Gebrauch in Kriegen das Völkerrecht, in Zweikämpfen die Ehre verbietet; es gibt öffentliche Redner, die entweder mit vergifteten Pfeilen die Rache der Heimtücke üben oder mit Prügeln den Faustkampf der Gemeinheit durchfechten. Diesen nicht gleich zu sein, ist nicht einmal rühmlich. Der Herausgeber wird sich ernstlich bemühen, die Wärme der Leidenschaft ohne ihre Ungebührlichkeit sich anzueignen, und Gott gebe, daß ihm dieses Bestreben für gelungen angerechnet werde; denn gar verschieden sind die Deutungen der Menschen! Aber die Preßfreiheit in ihren jetzigen Flegeljahren hat Unarten milderer Art. Auch sie vermeiden ist gut, sie entschuldigen ist besser, und das beste sie ganz unschuldig finden. Man denke nur daran, daß es eine Zeit gab, wo Kinder artig genannt wurden, wenn sie steif wie Wachskerzen um den elterlichen Tisch saßen und Messer und Gabel wie nach dem Takte der Galeerenruder an den Mund brachten, und daß damals die Erziehung gleich einer garstigen Raupe die schönsten Blüten der Jugendjahre abfraß. Man sei dieser Vergangenheit eingedenk und wolle dem aufblühenden deutschen Volke aus Grämlichkeit und mißverstandener Liebe die Spiele nicht verderben, welche die beste Schule für den männlichen Ernst ist.

Über die Freimütigkeit, welche demjenigen, der über bürgerliche Angelegenheiten des Vaterlandes und fremder Staaten öffentlich urteilt, zieme oder nicht, sei mir noch ein freundlich – ernstes Wort verstattet. Ich hoffe mit Männern zu reden, bei denen eine kindische Geisterscheu nie Eingang fand und welche kein Rauschen der Blätter erschreckt. Das lange Stubenleben hat die Deutschen[679] dem öffentlichen entwöhnt, und das beständige Tragen von Schafs- oder Wolfspelzen hat Niedere und Vornehme gegen den Eindruck jedes Lüftchens empfindlich gemacht. Sie haben eine unüberwindliche Ängstlichkeit, den Gegenstand ihres Tadels genau zu bezeichnen und kenntlich zu machen. Sind sie etwas betrunken, dann machen sie die Augen zu, nehmen einen Anlauf, rennen in die dickste Gefahr hinein und sagen – Herr Esel! Aber, Herr Sempronius Esel zu rufen, dazu hat ihr Mut nie hingereicht. – Hat doch selbst der heldenmütige Ankündiger dieser Zeitschrift nicht eher gewagt, den Namen Sempronius hineinzuschreiben, als bis er sich überzeugt, daß er nicht im Kalender stehe. – Wohin führt aber jene Scheu, nichts Schlechtes bei seinem Vornamen zu nennen, sondern höchstens dessen Familiennamen zu gebrauchen? Da die Familie der Esel sehr groß ist, so werden die Tadler bei ihrer Vorsicht zwar nicht beunruhigt, aber es wird auch nichts gebessert, und alles bleibt beim alten. Es zeigt einen großen Mangel an Hochherzigkeit, wenn man keinen Tadel zu geben oder zu empfangen versteht. Wer sich einer Tugend bewußt ist, spricht den Tadel ohne Ängstlichkeit aus, weil er ihn ohne Demütigung anhört; aber bei selbstbewußtem Mangel irgendeiner Tüchtigkeit fühlt man sich durch jede Schwäche entmutet und durch ihren Vorwurf entehrt.

Sie kommen und sagen: man möge tadeln, ohne zu reizen, man möge Wunden heilend berühren, ohne wehe zu tun, man möge belehren, doch unter der einfältigen Maske der eigenen Wißbegierde. Sie fordern viel, und es ist schwer, sie zu befriedigen. Wie man in einem vom Sturme bewegten Schiffe mit Zierlichkeit strauchle oder falle, dies lehrt und lernt kein Vestris. Und von den Herolden der öffentlichen Meinung, die schon seit vielen Jahren schwindelnd schnell um die ganze Windrose kreist, von den Klägern des allgemeinen Wehes wagt[680] man zu fordern, daß sie sich höflich verneigen, wenn der Boden unter ihnen wankt, daß sie behutsam zwischen die faulen Eier gehen und an jede Tür leise anklopfen, ehe sie sie öffnen? Bescheidenheit und immerfort Bescheidenheit! Aber die Natur gibt ihre Not durch einen Schrei zu erkennen, und nur auf der bretternen Bühne singt der Schmerz in A-moll.

Wenn es Männer gibt, die auch im Kriege der Gedanken Mut mit Anmut verbinden und gleich Spartern geschmückt und unter süßen Flötentönen die ernste Schlacht bestehen, so sind sie wahrlich vor allen zu ehren. Aber so hochbegabt mögen nur wenige sein, und der Herausgeber dieser Blätter gehört nicht zu ihnen. Er bekennt es frei, daß die Kunst, die der Verfasser des Buches Welt und Zeit besitzt, die Bäume hinter dem Walde zu verstecken, ihm ebenso fremd ist als der Wunsch nach ihr. Wer seine Pfeile unter den Haufen abdrückt, in der Hoffnung, er werde nur den Schuldigen treffen, kann viele Unschuldige verletzen und den Strafbaren dennoch verfehlen.

Die gemäßigten Schriftsteller, als solche angesehen, wenn sie nur der geeichten Maße sich bedienen, sind die allein gefährlichen. Sie bilden die wahre Aqua Tofana, welche die öffentliche Meinung siech und welk macht und deren Gift weder durch Geschmack noch Farbe noch schnelles Wirken eine rettende Warnung gibt. Indem sie Fürsten und Völkern zugleich schmeicheln durch das zur Hälfte zugesprochene Recht, jener auf Eigenmacht, dieser auf Freiheit, machen sie die einen lüstern, die andern schlaff und verderben beide.

Noch so manches wird, verschuldet oder nicht, den Zeitschriftstellern, die nicht sind wie die oben erwähnten, als Vergehen angerechnet. Aber, da es in unsern Tagen leichter ist, andere als sich selbst betrügen, so mögen die schlauen Eiferer, wenn sie allein sind und sie keiner beobachtet,[681] die Hand auf ihr Herz legen und sich fragen: ob ihnen der Gebrauch der Redefreiheit oder ihr Mißbrauch gefährlicher dünke? Sie werden die Antwort hören.

Oft reißt die Geschichte ein Wort stammelnd auseinander, aber es sollen die Zeitschriftsteller nicht gleich einem Echo nur die letzte Silbe der Ereignisse, sondern das ganze verständliche Wort wiederholen. Die Begebenheiten, diese Früchte der Zeit, haben ihren Endpunkt der Reife, wo sie gesammelt werden müssen; doch gelingt es nicht immer, sich jener flüchtigen Minute zu bemächtigen. Daher geschieht, daß die Zeitschriftsteller bald den Baum der Geschichte zu frühe schütteln und ihren hungrigen Gästen unreifes Obst vorsetzen, bald es zu spät tun, wann die Früchte schon faul und ungenießbar geworden sind.

Der Herausgeber dieser Blätter glaubt, daß Mißgriffe erwähnter Art öfterer, als es geschieht, vermieden werden könnten. Doch wird manches andere von Zeitschriftstellern gefordert, was nicht immer gewährt werden kann. Glaubt man etwa, die Forderung, stets nur wirkliche Begebenheiten, niemals Lügen zu verkündigen, wäre so leicht zu erfüllen? Ei, gewiß nicht. Es werden jetzt so schön plattierte Lügen verfertigt, daß sie von echten Nachrichten gar nicht zu unterscheiden sind. Man sei doch nachsichtlicher hierin und bedenke, daß große Lügen, die allgemeinen Glauben suchen oder finden, für die Zeitgeschichte nicht minder wichtig sind als wirklich geschehene Dinge, weil sie am deutlichsten aussprechen, was die öffentliche Meinung wünscht, hofft oder fürchtet.

Daß eine Zeitschrift wie eine Postkutsche an bestimmten Tagen und Stunden abgehe, gleichviel ob leer oder voll, diese Einrichtung ist ganz vortrefflich, der Tod und die Ehe lassen es wenigstens an blinden Passagieren niemals fehlen. Aber da es solcher Anstalten schon so viele gibt,[682] so ist ihre Vermehrung unnötig. Die Wage wird sich erst dann in Bewegung setzen, wenn Geschichte oder Wissenschaft sie befrachtet hat, und ihre Erscheinung kann daher an keine bestimmte Zeit gebunden sein.

Sie hätte wohl gewünscht, ihre Ansichten in Scheidemünze auszugeben, daß die Leser auch das kleinste und flüchtigste Ereignis erstehen mögen; aber die Erfüllung dieses Wunsches blieb versagt. Cäsar, heißt es, habe den hagern Cassius gescheut, doch bei dem beleibten Antonius sei ihm wohlgemut gewesen. Die Herrscher wechseln, und die Herrschsucht bleibt; darum wird auch jetzt noch der flinke Geist gefürchtet, und nur neben dem Dickbäuchigen fühlt man sich sicher. Große Schriften sind ungehinderter in ihrem Laufe, die kleinen bleiben manchmal hängen – Dat veniam corvis, vexat censura columbas. – Darum, o werte Leser, findet ihr künftig, daß in unsern Reden nicht alles Geist und Blut ist, sondern auch unnützes Werg darinsteckt und Tagblättergedanken mit Wulst umgeben erscheinen, so wißt ihr, warum es geschah; sie haben sich nicht ausgestopft, um sich zu brüsten; sondern nur, um dicker und beliebter zu werden.

Der Geist des öffentlichen Lebens erfrischt noch lange nicht genug alle Glieder des deutschen Staatskörpers, am wenigsten in jenen Landstrichen, die in der Mitte zwischen süddeutscher und norddeutscher Gesinnung liegen. Den Bewohnern jener Gegend dämmert es nur noch über vaterländische Dinge; unter ihnen ist es nicht dunkel genug, um das Licht unentbehrlich zu finden, und nicht hell genug, um es zu entbehren. Für sie tut es am meisten not, daß die zerstreuten Lichtstrahlen sich zu einem Brennpunkte vereinen, der ihre Vaterlandsliebe entzünde. Bedarf es einer lautern Aufforderung an die vielen geistreichen und mutigen Männer unter ihnen, zu einem so edlen Vorhaben sich zu verbinden, und kann[683] der Herausgeber der Wage anders als mit Zuversicht auf ihren Beistand zählen?

Gefährlich ist nur das unterdrückte Wort, das verachtete rächt sich, das ausgesprochene ist nie vergebens. Es ist Täuschung oder Schwachsinn, zu wähnen, die Rede sei ja fruchtlos gewesen. Was die öffentliche Meinung ernst fordert, versagt ihr keiner; was ihr abgeschlagen worden, das hatte sie nur mit Gleichgültigkeit verlangt.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 1, Düsseldorf 1964, S. 667-684.
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