I.

Frankfurt, den 29. April 1830


Du närrisches weißes Buch, ich dachte nicht, dich je wieder zu sehen. Da bin ich, und jetzt plaudere ich wieder mit dir von alten und von neuen Sachen, und du hörst mich geduldig an und gibst mir recht wie immer.

Krank sein, gefangen und gefesselt schmachten und alles geduldig ertragen, bis der Tyrann müde geworden! Nein. Ein Mann von Ehre sollte sich schämen, krank zu sein länger als vier Wochen. Ich war es länger als ein Jahr. Wie lieben wir das Leben, das uns doch so wenig liebt und das wie ein gezähmtes wildes Tier seinen Herrn vergißt und hinausspringt ins Freie, sobald es den Käfig offen findet.

Und was gewinnt man dabei? Späte Leiden erfrischen die Seele nicht mehr. Es ist kein Gewitter, das den Durst der jugendglühenden Natur löscht – es ist der Herbstwind, der herabjagt, was noch grün an den Bäumen war; alles raschelt und ächzt wie die Brust eines Sterbenden, und die welke Erinnerung wird im Sturme zerstreut.

Einst in schönern Jahren ... ich hatte mich einer Rose genaht und mich tief verwundet an ihren Dornen – da rettete eine Krankheit meine Seele. Und als ich aufstand, war auch die Natur genesen. Weggeschmolzen war der Schnee, mein Schmerz und der Zorn. Ich hatte alles vergeben, alles vergessen. Meine Brust war offen, wie die Säulenhalle eines Tempels, und der Frühling lustwandelte in mir, wie ich in ihm. Und jetzt! die Genesung und der Frühling haben sich wieder begegnet; aber es ist ganz anders. Ich bin nur etwas munterer geworden, weil ich ein verdrüßliches Geschäft beendigt.[765]

Sind das grüne Bäume? Ist das Himmelsblau? Ist das Abendrot? Ach ja, es ist ganz artig gemalt und auch sehr ähnlich; ich habe das Original gekannt.

Einst war mir die Nachtigall die Rose der Luft. Mir dufteten ihre Töne und blutlockende Dornen verwundeten das entzückte Ohr. Jetzt höre ich sie nur noch und mit wahrem Vergnügen. Die Christgeschenke des Frühlings lagen hellerleuchtet vor mir, und ich war unentschlossen wie ein Kind, was ich zuerst genießen, zuerst mir aneignen sollte. Ich zögerte zu wünschen. Dort das Wäldchen, hier das Tal, den Berg drüben, die Mühle, den Wassersturz? Jetzt kann ich bedenken und wählen.

Der Frühling, die Nachtigall, das Morgenrot, des Mädchens holder Blick – es ist nichts. Alles ist die Jugend. Die Welt ist ein Spiegel, was hineinschaut, schaut heraus. Er gibt euch nur zurück, was ihr ihm geliehen, er dankt euch nicht mit einem Lichtstrahle ärmlicher Zinse. Ja, wer ihn durchschauen könnte, wer es vermöchte, die Folie des Lichtes abzustreifen! Die Welt ist hinter dem Leben; aber wo endet das Leben? Die Welt ist nichts. Die Jugend – es ist ein dunkles Wort. Wir alten klugen Leute sprechen es aus und verstehen es nicht. Ein Traum der vorigen Woche ist uns heller. Und gut, daß es so ist; gut, daß wir im Alter die Jugend vergessen, denn wäre es anders, es wäre schlimm, es gäbe Zweifel, die uns zu Tode quälten.

Für welches Lebensalter bestimmt uns denn die Geburt? Für welches bilden wir uns heran? Für welches erziehen wir unsere Kinder? Habt ihr je darüber nachgedacht? Ich zweifle. Für alle! Ja, so sollte es sein, aber so ist es nicht. Der Knabe wird dem Jünglinge, der Jüngling dem Manne, der Mann dem Greise aufgeopfert. Und will der Greis, nachdem seine Freiheit überreif geworden, sie endlich genießen und leben für das Leben, kömmt die[766] Religion und sagt: nicht so, alter Junge, die Schule ist noch nicht aus, das Leben kömmt erst nach dem Tode, der Sarg ist die Wiege deiner Freiheit. Die Religion? Nein, wir wollen nicht lügen und nicht heucheln. Die Kirche sagt's, diese Abenteuererin, die unter hundert Namen und Gestalten durch die Welt zieht und den Leichtgläubigen vorlügt, sie habe zwei Königreiche, eines da oben, die Freunde zu bezahlen, die ihr Geld geborgt, und eines unten, die zu züchtigen, die ihr hart und mißtrauisch kein Kredit gegeben.

Was berechtiget uns, das blanke Gold der Jugend dem blassen trügerischen Alter darzuleihen, das hohe Zinsen verspricht, weil es aller Schuldscheine lacht und sich nicht scheut, Bankerott zu machen?

Wir leben immer nur für die Zukunft, ewiges Stimmen und nie beginnt das Konzert. Ein Wechsel wird mit dem anderen bezahlt; es ist eine Liederlichkeit ohnegleichen. Die Zinsen blasen das Kapital auf, und Toren, welchen nie das bare Geld des Lebens lacht, halten sich für reich, wenn der Luftballon ihrer Hoffnungen recht hoch steigt. Wo nur das hinaus will! Lieber Gott, du bist doch sonst so gut, rede einmal, sei nicht verschwiegen wie ein Diplomat, sage uns, wo das endlich hinaus will.

Ihr könnt es gedruckt lesen: Von allen Menschen, die geboren werden, stirbt fast die Hälfte in der Kindheit; das Jünglingsalter erreichen weniger als die Hälfte, bis zu dem fünfzigsten Jahre, bis zu dem Alter, wo man für Arbeiten, Mühen, Entbehrungen zu ernten anfängt, gelangt weniger als ein Dritteil, und dem Wohle dieses kleinen Dritteils werden zwei große Dritteile aufgeopfert! Den Jungen gehört die Welt, und die Alten bewirtschaften, benutzen und beherrschen sie. Eltern, die Schule, Erziehung, der Staat, alle sorgen nur für die Hochbejahrten, und die Jugend ist verdammt, die Magd des Alters zu sein![767]

Die alten klugen Leute sprechen von der Leidenschaft der Jugend und von ihrer eigenen herrlichen Erfahrung. Aber die Leidenschaft, die jedem Alter angemessen, ist seine Vernunft. In jedem Alter glauben wir vernünftig zu sein und sehen die Vernunft des verflossenen Alters als Leidenschaft an. Und die Erfahrung macht unruhig, unglücklich, denn sie lehrt uns nur die Ausnahmen von der Regel. Die Regel zu kennen, braucht man keine Erfahrung, die lehrt das Buch und das eigene Herz. Nur der Unerfahrene hat recht, nur er ist glücklich. Darum glaubet der Jugend; was die Jugend glaubt, ist ewig, euer Wissen aber vergeht.

Und die Natur in ihren Menschengesetzen ist nicht vernünftiger und gerechter als der Mensch in seiner Freiheit. Nicht die unerfüllten Wünsche meiner armen Brüder schmerzen mich, mich betrübt, daß die Erfüllungen kommen, wenn der Wunsch, der sie gerufen, schon längst begraben ist.

Das Kind möchte herumspringen: es muß in der Schule bleiben und Lateinisch lernen. Der Jüngling darf hinaus ins Freie: da sitzt er in der Kammer beim Schattenrisse der Liebsten und seufzt. So lange wir reiselustig, haben wir kein Geld: wenn wir reich geworden, sind wir alt und bequem, wir spielen Boston und unser Kasino lockt uns mehr als Rom und Neapel. Dann kommen die Freundinnen unserer Nichten, herzen und küssen den lieben Onkel, trippeln ihm unbarmherzig auf seine gichtischen Füße und stören ihn im Mittagsschlafe. Satanskinder! warum seid ihr nicht dreißig Jahre früher gekommen, da der Onkel noch Neffe war, nach dem Essen nicht schlief, sondern trank und das Podagra nicht hatte? Lacht nicht, lacht nicht! Ich habe Neffen, die werden mich rächen.

Als Knabe hatte ich einen Wunsch, so heiß wie keinen seitdem. Es war ein Säbelchen, zum Tabaksräumer dienend, das ich bei einem andern Knaben gewahrte. Ich[768] hatte eine schlaflose Nacht darüber. Jetzt könnte ich solcher Säbelchen in Dutzenden kaufen, aber ich mag sie nicht. Sie könnten vor meinen Füßen liegen, ich würde sie nicht aufheben. Dafür habe ich andere Gelüste, und ich möchte rasend werden, denke ich daran, daß mir vielleicht später alle diese Sachen kommen, wenn sie mir gleichgültig geworden.

Robert, oder der Mann wie er sein sollte, verschaffte mir von meinem Hofmeister eine Ohrfeige, die ich heute noch spüre. Diesen Robert hatte ich mir zum Muster genommen; ich wollte ein Arzt werden wie er, der unentgeltlich heilte, aber noch viel tugendhafter als er. Wegen Klara du Plessis und Klairant versäumte ich meine Übersetzung im Döring und mußte die Bank hinunterrücken, und über die Leiden der Hardenbergischen Familie habe ich mehr geweint als später über meine eigenen. Ach, seitdem hat kein Kummer, noch so groß, mein Brot benetzt, wie damals die Tränen den Apfel benetzten, an dem ich lesend aß und den mir die Ohrfeige aus der Hand warf! Und jetzt! bin ich so glücklich, daß mir einer Ohrfeigen gibt, weil ich lese und liebe? Wer stört mich? doch still – ich verspreche es dir, guter Lafontaine, nie, nie will ich dich kritisieren!

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 765-769.
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