VIII.

[793] Soden, den 9. Mai


Ich bin erst drei Tage hier, und schon ist mir die Zeit über den Kopf gewachsen. Lang, lang, lang! Ich war der erste und bin noch der einzige Brunnengast; ich bin der Kurfürst von Soden. In einigen Wochen nennt man mich den Nestor unter den Kurgästen. Doch was wird mir das nützen bei den künftigen Damen, flösse mir auch die Weisheit süß wie Honig von den Lippen? Man kann, gleich Mahomet, noch im vierzigsten Jahre ein Held werden und Länder erobern; aber nach der Ansicht aller weiblichen Historiker endet das heroische Zeitalter der Männer mit dem dreißigsten Jahre. Schlimm! Ich werde ein geistlicher Kurfürst bleiben.

Aus meinem Fenster übersehe ich den Hof, und zwar genauer und besser als andere Fürsten den ihrigen, und ich erfahre alles, was darin vorgeht, ganz der Wahrheit gemäß. Er hat einen großen Vorzug vor dem alten Hofe von Versailles: dieser hatte nur ein Oeil de boeuf, meiner aber hat viele. Er besteht übrigens, wie gewöhnlich, aus wenigen Menschen und zahlreichem Vieh. Unser Hofleben ist keineswegs ohne Abwechslung; außer dem Alltäglichen geschieht auch täglich etwas Neues. Ich passe sehr auf und werde, gleich St. Simon, Memoiren schreiben.

Gestern in der Nacht war der Hof sehr unruhig. Das große Tor wurde auf – und zugeschlossen, es wurde geschrieen und geflüstert, und viele Menschen gingen mit Lichtern hin und her. Ich konnte erst spät einschlafen. Heute morgen erfuhr der Hof und zwei Stunden nachher das Dorf die höchst erfreuliche Nachricht, daß kurz vor Mitternacht die Kuh glücklich gekalbt habe. Die hohe Kalbbetterin befindet sich so wohl, als es unter solchen Umständen möglich ist. Es ist keine Schmeichelei, wenn ich sie die hohe nenne. Sie ist eine Schweizerkuh und[793] so hoch und stattlich, als mir je eine vorgekommen; sie ist die Königin des Stalles. Ich wurde ihr gestern nach dem Diner von der Viehmagd präsentiert. Ich begnügte mich, sie zu bewundern, sprach aber nicht mit ihr, da sie nicht mit mir zu reden anfing. Mir fiel zu rechter Zeit ein, was vor zwanzig Jahren an einem Hofe, der später im Brande von Moskau zerstört worden ist, einem ehrlichen Deutschen von meinen Bekannten begegnet ist. Er wurde der Königin präsentiert, machte die üblichen drei Bücklinge und begann seine wohleinstudierte Rede mit sanfter Stimme herzusagen. Da trat der Zeremonienmeister hervor, fiel ihm in das Wort und sagte zurechtweisend: on ne parle pas à la reine! Daran dachte ich im Stalle.

Heute früh fand ein Zweikampf zwischen einer Hofgans und einer aus dem Dorfe statt, die, obzwar nicht hoffähig, sich eingedrungen hatte. Die Hofgans packte die Zudringliche am Flügel, diese machte es ebenso mit ihrer Gegnerin, so daß die beiden zusammen ein Oval bildeten. Sie drehten sich einander festhaltend im Kreise herum und walzten auf diese Weise, Brust an Brust gelehnt, Haß atmend, miteinander. Der Staub wurde aufgewühlt, die Federn stoben. Der Kampf dauerte über eine Viertelstunde lang. Endlich mußte die eitle Bauerngans, tüchtig gerupft, mit Schmach bedeckt und von Spott verfolgt, die Flucht ergreifen. Die übrigen Hofgänse hatten natürlich die Partei ihrer Standesgenossin genommen. Es war ein Geschnatter, ein Gepfeife und ein Flügelschlagen, daß es gar nicht zu beschreiben ist. Besonders zeichnete sich eine alte Gans mit gelbem Halse durch ihre Heftigkeit und Bosheit aus; sie schnaufte vor Wut und kam dem Ersticken nahe. Sie schnatterte dabei mit solchen ausdrucksvollen Gebärden, daß ich, ob mir zwar die Gänsesprache fremd ist, jedes ihrer Worte verstehen konnte. Sie sagte: – versteht sich auf französisch[794] denn eine Hofgans wird sich wohl hüten, anders als französisch zu schnattern – »Ces petites villageoises effrontées avec leur petite mine de grands écus se glissent partout. Bientôt nous autres gentiloies n'aurons guères de privilèges ici, et la haute basse – cour sera aussi sale qu'une borne de rue. Violà les beaux fruits de la moderne philosophie! Voilà les funestes effets du libéralisme caressé par des pieds royaux! Notre gracieux maître le taureau a toujours été sourd aux sages remontrances de ses vieilles et fidèles servantes. Il est cosmopolite et philozone et court après les jeunes idées. Il périra et entraînera dans sa chûte, le trône, l'autel et la vieille volaille! –« Eine junge Gans, die hinter der alten stand, als diese sich so ereiferte, machte einen spöttischen Schnabel und kicherte verstohlen. Weil sie jung war, fürchtete sie jeunes idées nicht, und sie war darum weniger aristokratisch.

Was man sich seit einigen Tagen zugeflüstert, ist endlich laut und kund geworden: Der Hofhund ist in Ungnade gefallen und hat seine Stelle verloren. Seine Knochen bezieht er als Pension fort und kann sie verzehren, wo er will. Man begreift nicht, was er in seinem Amte verschuldet haben kann. Er hatte nichts zu tun, als, so oft einer kam und ging, zu bellen und jeden Ein – und Austretenden einige Schritte zu begleiten. Er war gleichsam ein Oberzeremonienmeister. Einige behaupten, er habe ein Hühnchen gebissen; andere sagen, er sei der Lieblingsgans der Wirtstochter auf verbotenen Wegen begegnet und habe nicht zu schweigen gewußt. Mehrere sind der Meinung, er habe mit dem Reitpferde des Herrn einen Streit gehabt und sei durch dessen Einfluß gestürzt worden. Wieder andere wollen wissen, er habe treuloserweise einem fremden Hofe alles zugeschleppt, was er in dem seinigen erwischen konnte. Wohlwollende sagen dagegen, an dem allen sei kein wahres Wort; sondern der neue Wirt habe seinem Lieblingshunde die Stelle des[795] Hofhunds geben wollen und darum habe der alte Platz machen müssen. –

Ein liberales Rind hat mit seinem Kopfe ein Loch in die Mauer gestoßen, so groß, daß es Stirn und Schnauze hindurch stecken kann. Jetzt brummt es den ganzen Tag in den Hof hinaus und genießt unbeschränkte Brummfreiheit. Der Wirt, als ein kluger Mann, hat es wohl berechnet, daß dem liberalen Ochsen der Verstand nicht hinreicht, sich auch mit Leib und Füßen aus dem Stalle zu befreien, läßt darum das Loch unbesorgt offen und bekümmert sich gar nicht um das Brummen.

Den ganzen Tag, von Morgen bis Abend, spaziert die Truthenne im Hofe herum und wirft, ungemein kokett, den Hals herüber und hinüber. Zwei Truthähne folgen ihr beständig, und vor Eifersucht und Ärger blähen sie sich auf und werden blau im Gesichte. Sie sind so argwöhnisch, daß keiner den andern nur einen Hühnerschritt vorausgehen und der Gebieterin näherkommen läßt. Diese sieht sich nie nach ihnen um, und als wollte sie ihre Liebe und Geduld auf die Probe stellen, geht sie nie gerade, sondern bewegt sich in den launenhaftesten Quadrillenfiguren. Aber die Anbeter treten unermüdlich in ihre Spur. Wie unmännlich, albern und verächtlich mir das Betragen dieser Truthähne vorkommt, das kann ich gar nicht beschreiben.

– Ach! Ach! Die Zeit wird mir erschrecklich lange. Wie einsam ist der Mensch unter Vieh! Doch wollte ich gern allen menschlichen Umgang entbehren, wäre nur wenigstens Adel hier.


Was ist ein Badeort ohne Adel?

Was der Zwirn ist ohne Nadel,

Was die Nähnadel, ohne Zwirn,

Was ein Kopf ist ohne Gehirn,

Was die Kartoffel ohne Salz,

Was Baden ist ohne die Pfalz.[796]


Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 793-797.
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