Fünfundsechzigster Brief

[428] Paris, Freitag, den 30. Dezember 1831


Ihre Frage wegen der Simonisten möchte ich Ihnen gern klar und genau beantworten; aber ich weiß nicht viel davon. Da ich mich nicht schämte, unwissend hierin zu bleiben, will ich mich auch nicht schämen, meine Unwissenheit zu gestehen. Sie ist um so weniger zu entschuldigen, da mir bekannt, daß der Simonismus eine der wichtigsten Erscheinungen, ja noch mehr ist: der Inbegriff von vielen wichtigen Erscheinungen dieser Zeit. Das schwebte vor mir in der Luft, und genauer untersuchte ich es nicht. Es ist nicht zu ändern. Hier in Paris braucht man nur einen halben Magen; denn der gefällige Kochtopf übernimmt die Hälfte der Verdauung. Hier in Paris braucht man gar kein Herz; denn da alle öffentliche Gedanken in öffentliche Empfindungen übergegangen, ist das Klima davon warm geworden, und man braucht die Brust nicht einzuheizen. Aber tausend Beine braucht man hier, um nach allem Merkwürdigen zu gehen, tausend Augen und Ohren, alles Merkwürdige zu sehen und zu hören, und tausend Köpfe, um alles aufzufassen, sich anzueignen und zu verarbeiten.

Die Simonisten halten jeden Sonntag öffentliche Vorlesungen, in welchen sie ihre Lehren zusammen stellen und erläutern. Ich habe aber diesen Predigten nie beigewohnt. Man muß zwei Stunden vorher da sein, um Platz zu[428] finden, und so viele Zeit mochte ich nicht darauf verwenden. Aus gleichem Grunde war ich auch noch nie in einer Kammersitzung, bei den Verhandlungen der Assisen, noch in einer der öffentlichen Versammlungen, die hier fast jede Woche gehalten werden. Das bürgerliche Leben, das in seinem ganzen Umfange und in allen seinen Stockwerken öffentlich geworden, hat die Architektur hinter sich gelassen, die monarchisch und aristokratisch geblieben. Es gibt in Paris kein öffentliches Gebäude, das selbst für das bescheidenste Bedürfnis einer Volksversammlung Raum genug hätte. Es ist lächerlich, wie wenige öffentliche Sitze in der Deputiertenkammer sind. Die Regierungen, wenn sie die Freiheit mit keinen moralischen Schranken mehr umziehen dürfen, engen sie wenigstens soviel und solang als möglich mit Steinmauern ein. Der Saal, den die Simonisten haben, der ist nun besonders klein, und ich glaube, daß sie ihn aus Schelmerei so gewählt, damit die Zuhörer um so begieriger herbeiströmen. Wo die Pariser keinen Platz finden, da eilen sie am liebsten hin, besonders die Frauenzimmer; es ist ihre Wonne, gestoßen und gedrückt zu werden.

Was mich bis jetzt von einer nähern Bekanntschaft, nicht mit den Grundsätzen, sondern mit den Lehren der Simonisten, abgehalten, ist die monarchische Verfassung ihrer Kirche. Sie haben einen Papst; vor solchem kreuze ich mich wie vor dem Satan. Sie haben eine Autorität; die fürchte ich noch mehr als den Räuber im finstern Walde. Ich lasse mich von keiner Wahrheit gern einschränken; ich trinke, wie der goldgelockte Felix im »Wilhelm Meister«, am liebsten aus der Flasche. Wenn ein Papst mir sagt: zweimal zwei ist vier – glaube ich es ihm nicht, und habe ich es früher gewußt, fange ich an, daran zu zweifeln. Zwar weiß ich recht gut, daß keine neue Kirche der monarchischen Leitung entbehren kann; das Christentum selbst blieb schwach, ward verfolgt[429] und geschlagen, solange es republikanisch war, und wurde erst stark, siegend und erobernd, als es einen höchsten Bischof an seine Spitze stellte. Jedem Staate ist die monarchische Gewalt in seiner Kindheit die Laufbank, in seinem Greisenalter eine Krücke; Freiheit gehört dem Jünglingsalter und den männlichen Jahren. Aber, ob ich auch das begreife, verabscheue ich doch die Monarchie für jedes Verhältnis und für jede Zeit. Ein junger Staat soll lieber auf allen vieren kriechen und etwas später gehen lernen, soll lieber, sobald er das Greisenalter erreicht, sich freiwillig den Tod geben, als gemächliche und schnellere Entwicklung seiner Glieder, als einige Jahre Frist jämmerlichen Daseins mit der Freiheit bezahlen. Wie einem die Regierung oft alle bürgerliche Gesellschaft, das System die schönste Philosophie verleiden kann; so verleidet einem die Kirche jeden Glauben. Muß ich selig sein im Paradiese, dann will ich lieber in der Hölle leiden. Es liegt gar nicht so viel daran, daß eine neue Wahrheit sich schnell und weit umherverbreite; sie wird leicht an Würde verlieren, was sie an Macht, im Werte verlieren, was sie im Preise gewinnt.

Sie fragen mich: ob die Simonisten etwa das reine Christentum herzustellen suchen. Ich glaube es. Aber was heißt reines Christentum? Es gibt nur eine reine Quelle des wahren Glaubens, und aus dieser fließen die mannigfaltigen Ströme der Religionen, die nach und nach den Schlamm der Ufer abspülen und sich mit allem besudeln, was die schmutzigen Menschen hineingeworfen. Die Simonisten mögen wohl in Frankreich sein, was die Carbonari in Italien sind. Was diese wollen, weiß ich zwar auch nicht klar; doch daß sie einen edlen Zweck haben, daß sie suchen, Licht in das dunkle Lügengebäude des Papsttums zu bringen und die Zwingburgen der Gewalt niederzureißen: das erfahre ich von der unbeschreiblichen[430] Wut, mit welcher die geistliche und weltliche Macht in Italien den Carbonarismus verfolgt.

Der hier erscheinende Globe ist das Apostelblatt der Simonisten; eine Art hausierende Bibel, die alle Tage den wahren Glauben frisch und warm in die Häuser bringt. Doch ich kann keine Milch vertragen und lese darum das Blatt nicht. Von den drei stereotypen Lehren, die der Globe als Mottos täglich hinter seinem Titel hat, kann ich nur die erste annehmen; die zweite ist mir zu trivial; die dritte finde ich falsch, und eine vierte, mir die erste, mangelt gänzlich. Erste Grundlehre. Les institutions sociales doivent avoir pour but l'amélioration du sort moral, physique et intellectuel de la classe la plus nombreuse et la plus pauvre. Daß die bürgerliche Gesellschaft nur für die Mehrzahl, nur für die ärmeren Klassen zu sorgen habe, diesem Grundsatze kann man dann erst beitreten, nachdem man stillschweigend angenommen, daß die Minderzahl der Geist- und Güterbegabten, daß jene Glücklichen, für welche schon die Natur gesorgt, den Schutz und den Beistand der bürgerlichen Gesetze entbehren können. Dann aber bleibt in jenem Grundsatze die reinste, heiligste unverletzlichste Vorschrift, wie der Sittlichkeit, so der Religion übrig. Weil sie rein ist, wird sie von allen besudelt; weil sie heilig ist, wird sie verspottet; weil unverletzlich, täglich übertreten. Doch ich mag nicht davon sprechen. Wer nur etwas gelebt hat, und nur einen Tag nicht sich allein, der konnte wahrnehmen, wie man überall und zu allen Zeiten das niedre Volk als unorganisches Produkt betrachtet, als Erde, Steine, Sand, Wasser – von Gott, dem Hofarchitekten der Vornehmen und Reichen, herbeigeschafft, diesen das Leben wohnlich und angenehm zu machen. Aber der Tag wird kommen, wo der zum Himmel gestiegene Tränendunst aller der Millionen Unglücklichen als Sündflut niederstürzen und die Reichen mit allen[431] ihren aufgesparten Gütern bedrohen wird, und dann werden Schrecken und zu späte Reue die hohle Brust der Hartherzigen ausfüllen, und sie werden das Erbarmen, dessen Rufe sie nie gefolgt, selbst anrufen.

Zweite Grundlehre. Tous les privilèges de la naissance, sans exception, seront abolis. Werden hier die altertümlichen bekannten Privilegien gemeint, wie die des Adels, der Pairs oder sonst eines bevorrechteten Standes, so ist das eine so entschiedene Wahrheit, ein so fest gegründetes Recht, daß man durch ein schadenfrohes Erwähnen derselben nicht die Anmaßung des Widerspruchs herausfordern sollte. Nicht die Vernunft ist auf der Seite der Gleichheit, sondern auf der Seite der Ungleichheit ist der Wahnsinn. Aber der Vernunft ziemt es nicht, dem Wahnsinn entgegenzutreten, ihm den Weg zu versperren; sondern sie soll warten, bis er herbeikömmt, bis er losbricht. Dann soll sie ihn besprechen, heilen und, wenn er sich unheilbar zeigt, ihn an die Kette legen und unschädlich machen. Jedes Wort, noch ferner gegen den Adel gesprochen, ist ein Schwertstreich, dem Schlachtfelde entzogen; die Zeit des Redens ist vorüber.

Dritte Grundlehre. A chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses œuvres. Eine heillose Irrlehre! Die Wahrheit ist ganz auf der entgegengesetzten Seite. Je mehr Verdienst, je weniger Lohn; das ist die Regel der Vernunft. Verdienst ist die reine Vorausbezahlung, welche die Natur solchen Menschen leistet, denen sie vertraut, und der, dem sie geworden, hat keinen weitern Lohn zu fordern. Bezahlung werde dem Verdienstlosen, der nichts von der Natur geerbt. »Jeder Kapazität nach ihren Werken«, ist auch falsch. Was der Mensch ist, bestimmt seinen Wert und also seinen Preis, nicht das, was er tut. Ist das, was er tut, seiner Natur gemäß, ist es bloß Lebensäußerung, Selbsterhaltungstrieb, und er hat dafür keinen Lohn zu fordern; ist es seiner[432] Natur zuwider, kann es nichts Gutes sein. Diese Irrlehre der Simonisten entspringt aus einer andern, zu welcher sie sich bekennen, der von einer Gütergemeinschaft, – eine Lehre der verderblichsten Art, weil sie den Menschen nicht allein in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch in seinen reinmenschlichen Verhältnissen zugrunde richtet. Freiheit und Gleichheit bestehen darin, daß jeder einzelne Mensch in seiner Lebenssphäre, sei nun dieser Kreis so eng gezogen als man wolle, Despot sein darf; nicht aber darin, daß man alle diese Persönlichkeiten zerstört und daraus einen allgemeinen Menschenteig knetet, den man Staat, Kirche, Gemeinde, Volk nennt. Wenn die Lebensgüter gemeinschaftlich sind, wenn das Recht sich alles nehmen darf, was bleibt dann noch dem schönen Vertrauen zu fordern, was der Liebe zu geben übrig? Man wirft den Simonisten vor – ob der Vorwurf gegründet, weiß ich nicht –, sie wollten die Ehe aufheben. Es fällt mir schwer, das zu glauben. Manche Religionen, mancher politische Bund haben im Verlaufe späterer Entartung sittenverderbliche Grundsätze angenommen; aber eine neue Religion, eine neue Gemeinde wurden nie auf Sittenlosigkeit gegründet. Doch einen andern Grundsatz sprechen die Simonisten deutlich aus: den der Emanzipation der Weiber. Wollen sie damit täuschen, oder täuschen sie sich selbst – ich weiß es nicht. Vielleicht heucheln sie diesen Grundsatz, um die Frauen für ihre Sekte zu gewinnen. Ist es ihnen aber Ernst, dann sind sie in einem Wahne befangen, der nur darum nicht verderblich ist, weil er nie zur Wirklichkeit werden kann. Bei einer flüchtigen Betrachtung scheint es zwar Gewinn, wenn das weibliche Geschlecht emanzipiert würde, wenn es gleiche sittliche, gleiche politische Rechte mit den Männern erhielte; der Kreis der Menschheit, scheint es, würde dadurch erweitert werden. Aber es ist Täuschung. Selbständigkeit des Weibes würde[433] nicht allein die Bestimmung des weiblichen, sondern auch die des männlichen Geschlechts vereiteln. Nicht das Weib, nicht der Mann allein drücken die menschliche Natur aus; nur Mann und Frau vereinigt bilden den vollkommenen Menschen. Nur in der Ehe, nur im Familienleben wird der Zweck der Menschheit erreicht.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 3, Düsseldorf 1964, S. 428-434.
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