Vierzigster Brief

[215] Paris, Sonntag, den 6. März 1831


Wäre ich ein Dichter nur acht Tage lang! Ich wollte ein Freudenlied singen, daß Berge und Wälder dabei tanzten, oder ein Trauerlied, daß die Sterne darüber weinen müßten und erlöschten in ihren eigenen Tränen. Ich fühle es in mir, aber es will sich nicht gestalten. Nur prosaisch kann ich jubeln ... heute ist heute, und morgen ist morgen; ich will nicht weiter denken. Alles Gute und Schöne hat sich bestätigt, aber das Beste und Schönste ist noch nicht entschieden. Ein Handelshaus erhielt gestern die Nachricht: die Russen waren gänzlich zerstreut, und, was alles entscheide, hinter ihrem Rücken wäre Litauen aufgestanden. Aber das heutige ministerielle Blatt berichtet, die Regierung habe gleich spätere Nachrichten wie jenes Handelshaus, und diese, obzwar gut lautend, sprächen noch von keiner Entscheidung. Wenn es wahr würde, wenn Rußland, dieser Riese von Eisen, auf Füßen wie Ton, zur Erde stürzte, umgeworfen von Kindern, die ihm zwischen die Beine gekrochen – wie wollten wir lachen! Dann wenn ein Tyrann[215] sich unartig beträgt, würde man, ihn zu schrecken, rufen; der Pole kommt! warte, ich hole den Polen! wie man Kindern droht: ich hole den Schornsteinfeger. »Wie ein Knäuel Zwirn will ich die Polen zusammenwickeln« – hat Nikolas geprahlt. Nun, er hat sie zusammengewickelt; aber der Knäuel ist zur Bombe geworden, die ihn zerschmettert. Aber wie furchtsam macht reines Glück! Selbst die sonst so kecken Pariser Blätter, die immer so leichtfertig lügen, wagen nicht, sich ihrer Freude über den Sieg der Polen zu überlassen; sie fürchten Enttäuschung. O Vater im Himmel, schicke mir nicht solche Trauer! Laß mich diesen Brief freudig endigen, wie ich ihn angefangen. Bis Mittwoch noch beschütze die Polen! Wenn die Polen entscheidend siegen, dann wird, wie ich hoffe, Paris illuminiert. Ich beleuchte mein ganzes Haus, und merken Sie sich das – zehn Lampen stelle ich besonders an ein Fenster, die sind für Sie und Pauline. Denn Ihr Armen dürftet am Abend der herrlichen Entscheidung doch nicht Eure Freude leuchten lassen; ja wenn der russische Gesandte öffentliche Trauer verlangte von unserm Römersenate, ihr dürftet Eure gewohnten Nachtlichter nicht anzünden und müßtet im Dunkeln zu Bette gehen.

Solange das Schicksal bei guter Laune bleibt und die Tyrannen neckt, wollen wir von Possen sprechen. Die Zeit des Ernstes kommt nur zu gewiß. Verzweifelte Spieler, verdoppeln sie immer ihren verlornen Einsatz, und da können sie wohl einmal alles wieder gewinnen, ehe sie zugrunde gehen. Ich habe im italienischen Theater den »Don Juan« gehört. Seit vierzehn Tagen schon hatte ich mein Billett dazu. Dreimal wurde die Oper angekündigt und dreimal wieder abgesagt, weil die Malibran katarrhalische Launen bekam! Endlich kam es zur Aufführung. Ich rechnete so sicher auf mein Entzücken, als man auf das Entzücken jedes deutschen Landes rechnen[216] kann, sooft ein Erbprinz wird geboren werden – morgen, übermorgen, übers Jahr, im zwanzigsten Jahrhundert, im dreißigsten, im siebentausendsten, im ersten Jahrhunderte nach dem Untergange der Welt; denn die Natur kann untergehen, aber deutsche Treue nicht. Doch wie kam es ganz anders – nämlich mit »Don Juan«. Eingeschlafen bin ich nicht; denn es war die interessanteste Langeweile, die ich je empfunden. Uns Deutschen ist der »Juan« wie das Vaterunser; wir sind damit aufgewachsen: er war uns zugleich Abc und hohe Schule der Musik. Aber was haben diese Italiener, diese parisierten Italiener daraus gemacht! Die wissen noch weniger von Gott und Teufel, von Himmel und Hölle, als wir Deutschen von der Erde wissen. Es schien, als wäre ihnen die Musik zu vornehm, sie waren schüchtern, ängstlich, es war, als ständen sie auf glattem Marmorboden eines Palastes, vor einem Könige auf seinem Throne, sie schwankten und stammelten. Was sie vortrugen, war alles schön, alles richtig; aber es war einstudiert, und der Zeremonienmeister hatte jede ihrer Bewegungen geordnet. Die Brust war ihnen zwischen den beiden Taktstrichen eingeengt, und sie wagten nicht, tiefer zu atmen, als es die Note vorschrieb, und die Malibran nicht besser als die andern. Sie dauerte mich, und ich hätte ihr zurufen mögen: aber, liebes Kind, wovor fürchten Sie sich denn? Mozart ist am Ende doch auch nur ein Mensch wie Rossini, welche Zerline! Ich erinnere mich, wie ich als Junge die Flöte spielen lernte, bei Herrn *** (der Lehrer war ganz des Schülers würdig), und wir im Duette Zerlinens süßes Wundlied bliesen. Sie können sich denken, daß wir das süße Wundlied wie ein Pflasterlied herabgestrichen. Aber doch klingt es mir heute noch schöner aus jenen entfernten Jahren zurück, als es mir aus der Brust der Malibran tönte. Es war kein Glaube und keine Liebe[217] darin. Gekleidet war sie geschmacklos bis zum Unsinn. Es war gewiß unter den Zuschauern keine Putzmacherin und kein Friseur, sonst hätte ich von einer Ohnmacht hören müssen. In den Haaren staken ihr zehen bis zwölf lange und steife messingne Stangen, die in große dicke messingne Kugeln endigten, welche nicht einmal blank gescheuert waren. Sie sah aus wie eine Gartenmauer, gegen das Übersteigen von Spitzbuben gehörig bewahrt. Zerline fürchtet sich vor Spitzbuben! – Don Juan war ein alter häßlicher Sünder, der keine Katze hätte verführen können. Elvira eine betrübte Kokette. Der Geist sah aus wie ein weißer Schornsteinfeger. Donna Anna (Madame Lalande) war gut; sie hat gewiß den Don Juan in deutscher Schule gelernt. Am Leporello fand ich zu loben, daß er nicht so den Hanswurst macht wie bei uns. Chöre und Orchester, sonst so vortrefflich, waren von der allgemeinen Kälte und Ängstlichkeit nicht frei. Der himmlische Lärm im ersten Finale, die höllische Freude im zweiten – das ging alles verloren; es war still zum Einschlafen. Wenn ich mir diese Leere und Stille nur erklären könnte! Chor und Orchester voller besetzt als bei uns; es sind die nämlichen Noten, es ist dasselbe Tempo, gleiches Forte – und doch war es still! und – stellen Sie sich vor – Don Juan beim Abendessen hat roten Wein aus einem breiten Glase getrunken! Langsamen roten Wein, wenn man den Teufel erwartet! Jeder dumme arme Sünder, ehe er zum Galgen geführt wird, trinkt wenigstens Rum. Ein Bekannter, der während der Vorstellung hinter der Szene war, erzählte mir, die Malibran hätte nach ihrem Abtreten geweint, weil sie nicht genug applaudiert worden, und sie weine immer, wenn sie kälter als gewöhnlich aufgenommen wird. Das ist gewiß eine schöne Empfindlichkeit an einer so großen Künstlerin.

Verdrießlich war ich ohnedies während der zweiten[218] Hälfte des »Don Juan«, und die heilige Cäcilie selbst mit ihrer Baßgeige hätte mich nicht aufheitern können. Nach dem ersten Akte ging ich ins Foyer. Da fand ich eine Menge Menschen in einem dicken Knäuel zusammengewickelt, und ein kurzes Männchen in der Mitte, rund wie ein Kern, erzählte von den polnischen Angelegenheiten in der Abendzeitung. Und der Knäuel war so dick, daß ich nicht durchdringen konnte, und ich hörte nichts und mußte mit der Pein der Ungewißheit wieder heruntergehen. Mein Nachbar im Orchester, still früher, fragte mich auf Deutsch: »Nicht wahr Sie sind ein Deutscher?« – »Ja.« – »Aus Frankfurt?« – »Ja, woher wissen Sie das?« – »Ich dachte es mir.« – »Kennen Sie Herrn Worms de Romilly?« – »Nur dem Namen nach.« – »Er ist eben vorbeigegangen, wenn er zurückkömmt, will ich ihn Ihnen zeigen.« – Bald kam er, und er zeigte mir ihn. Aber ich dachte bei mir: was geht mich der Worms de Romilly an? Darauf fragte ich den Herrn, ob er nicht wisse, was im Messager stände, es verlaute, die Polen hätten gesiegt. Er machte ein mürrisches Gesicht und antwortete: »Geschwätz, es ist kein wahres Wort daran.« Ach! dachte ich, jetzt kenne ich den Herrn, und ich begreife, warum ihn der reiche Bankier Worms de Romilly interessiert. Dann fragte er mich: »Wie stehen die Kurse in Frankfurt?« Ich antwortete aus dem Stegreif – ich weiß nicht mehr ob 70 oder 72 oder 74 oder 78. Da sah er mich an, zugleich wie ein Narr und wie einen Narren, und sagte: »Das ist nicht möglich, das müssen die vierprozentigen sein«, und er zog die »Berliner Zeitung« aus der Tasche, um nachzusehen. »Ja freilich«, erwiderte ich, »es sind die vierprozentigen«, und ich murmelte: »Hole der Teufel die vierprozentigen und die fünfprozentigen und das ganze nichtsprozentige Papiervolk!« Bis halb zwölf Uhr mußte ich da sitzen, bis ich mir im Messager Beruhigung holte.[219]

Ich hätte fortgehen können, aber ich war ein Narr und geizig und berechnete, daß mich jeder Akt des »Don Juan« sechs Franken kostete. Der deutsche Kaufmann neben mir, so prozentig er auch war, liebte doch leidenschaftlich den »Don Juan« und verehrte ihn wie die Bibel. Nach jeder Szene zankte er sich mit einigen Geigen im Orchester herum und behauptete, es wäre etwas ausgelassen worden. Das machte ihn etwas steigen bei mir – um ein Drittelchen.


Dienstag, den 8. März


Das deutsche Blatt, das in Straßburg erscheint, hat unsere schuldbewußten Staatsmänner aus ihrem Schlafe geweckt und sie in tödlichen Schrecken gesetzt, als wäre ein Gespenst vor ihr Bett getreten und hätte sie mit kalter feuchter Hand berührt. Das Blatt erscheint als Beilage des Courrier du Bas-Rhin, unter dem Titel: »Das konstitutionelle Deutschland«. Es enthielt unter andern genaue und getreue Berichte über die Staatsverwaltung im Württembergischen, besonders über den himmelschreienden Wucher, den die Regierung mit dem Salze treibt. Gleich wurde ein Herr von Schlitz von Stuttgart nach Straßburg geschickt, um den Redakteur des Courrier du Bas-Rhin zu bestechen, daß er nichts mehr gegen Württemberg aufnehme. Dieser aber wies den Antrag ab, erbot sich jedoch, gegründete Widerlegung aufzunehmen. Doch wie leugnen, was jedes Salzfaß im Lande bezeugt? Das Geld zu Bestechungen nimmt man aus dem Beutel des armen Volks: aber gute Gründe gibt und verweigert nur das Recht, das kein württembergischer Untertan ist. Darauf wandte man sich an den französischen Gesandten in Stuttgart und bat um Hülfe. Dieser aber zuckte seine diplomatischen Achseln und sagte, es wäre leider Preßfreiheit in Frankreich und nichts dagegen zu tun. So hat Herr von Schlitz seinen[220] Witz verloren, die Württemberger Bauern bezahlen die Straßburger Reise und bekommen das Salz nicht wohlfeiler als bisher. Es ist himmlisch, wie man diese Sünder quälen kann durch ein einziges freimütiges Wort.

Haben Sie gelesen, mit welcher schönen Rede der König von Bayern seine lieben und getreuen Stände begrüßt? Er hat mit ihnen gesprochen wie ein Schulmeister mit seinen Jungen. Er sagte, es gäbe nichts, das himmlischer wäre, als König von Bayern zu sein. Ach, mein Gott, ich glaube es ihm. Wenn ich das Unglück hätte, ein Fürst zu sein, so würde es mich etwas trösten, wenigstens ein deutscher Fürst zu sein: denn dieser erfährt erst in jener Welt, wie schwer es ist, gut zu regieren, und wie viele Dummheiten er gemacht während seines Lebens. Der König hat ein Gesetz über die Preßfreiheit angekündigt, über – das heißt gegen. Nun möchte ich doch wahrhaftig wissen, was dieser Bettlerin noch zu nehmen wäre! Und was macht die bayrische Regierung so keck? Woher kommt's, daß sie, und sie mehr als jede andere deutsche Regierung, der öffentlichen Meinung trotzt, sie neckt, herausfordert und quält ohne allen Gewinn für sie? Es kommt daher, weil sie mit Frankreich einverstanden ist, weil sie auf diesen Schutz rechnet, wenn ihre Untertanen sich empören sollten, weil sie ihre Unabhängigkeit nach außen, um den Preis der Schrankenlosigkeit nach innen, verkauft hat. So war es unter Napoleon auch. Dieser verstand die deutschen Regierungen sehr gut. Er wußte, daß der Deutsche gern ein Knecht ist, wenn er nur zugleich auch einen Knecht hat. Er machte die deutschen Fürsten unbeschränkt ihren Untertanen gegenüber, und dafür wurden sie seine Untertanen. Das ist die schöne Zukunft des deutschen Volks! Nur seine Fürsten haben in einem Kampf mit Frankreich zu gewinnen oder zu verlieren; es selbst wird Schmach und Sklaverei finden, besiegt oder siegend –[221] gleichviel. Doch davon genug für heute! Alle meine Sacktücher sind bei der Wäscherin, und es wäre viel dabei zu weinen.

Warum wundert Sie, daß Sie von Medor nicht früher gehört? Habe ich doch selbst erst nach einem Aufenthalt von fünf Monaten von ihm erfahren. In Paris ist ein Hund nicht mehr als in Deutschland ein Untertan, an den man erst denkt, wenn er Abgaben zu zahlen hat. Von Medor fing man erst an zu sprechen, als Maler, Lithographen, Biographen, Dichter, Bänkelsänger und Hundewächter die Erfahrung gemacht, daß mit dem Tiere etwas zu verdienen sei. Kürzlich hörte ich erzählen, Medor sei gar nicht der echte liberale Hund, sondern ein falscher; den rechten habe ein Engländer gekauft und fortgeführt. Es ist aber gelogen. Ich habe es aus Medors eignem Munde, daß er im Juli tapfer gefochten. Zweifeln Sie vielleicht, daß ich das Hundegebell verstände? Ich meine, das lernt man bei uns so leicht wie jede andere Sprache.


Mittwoch, den 9. März


Mittwoch ist da. Es sollte nicht sein, es ist zu Ende mit den Polen! Wir wollen darum nicht verzweifeln, die Freiheit verliert nichts dabei. Die Erben haben sich vermindert, desto größer wird die Erbschaft. Schmerzlich ist es, daß Polen sich als Saatkorn in die Erde legen mußte; aber der Same wird herrlich aufgehen. So laut schreit das vergossene Blut, daß es der taube Himmel selbst hört und Gott schicken wird, wenn auch zu spät zur Hülfe, doch nicht zu spät zur Rache. Nichts Schlimmes ahndend ging ich gestern nachmittag, das Modell von Petersburg zu sehen, das hier gezeigt wird. Ich bewunderte die herrliche Straße, die prächtigen Paläste dieser schönsten Stadt der Welt. Ich stellte mich vor den Palast des Kaisers und dachte: da sitzt er und wartet ungeduldig auf das letzte Röcheln eines geschlachteten[222] Volks. Von dort hatte ich nur einige Schritte zur Börse. Ich trat hinein und erfuhr das Entsetzliche. Bei allem meinem Gram erquickte mich die Schadenfreude, die ich über die Kaufleute empfand. Das französische Papiervolk ist so jammervoll und jämmerlich als das deutsche. Diese Blut- und Schweißkrämer waren nach den polnischen Nachrichten wie zwischen Hund und Wolf. Sie wußten nicht, wohinaus. Eine unterdrückte Empörung, eine besiegte Freiheit machte ihnen Freude; aber dann bedachten sie wieder, daß der Sieg der Russen einen Krieg mit Frankreich und den Renten wahrscheinlich mache, und da gingen sie umher, mit einer roten und mit einer bleichen Wange. Es war zu schön.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 3, Düsseldorf 1964, S. 215-223.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe aus Paris
Gesammelte Schriften: Band 8. Briefe aus Paris (1830-1833)
Briefe aus Paris
Briefe aus Paris

Buchempfehlung

Jean Paul

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon