|
[603] Paris, Mittwoch, den 21. November 1832
Schon gestern wollte ich zu schreiben anfangen; aber da lag mir der Schrecken von vorgestern zehn Pfund schwer in den Fingern, und ich konnte nicht. Sie wissen jetzt, daß man unsern guten König hat umbringen wollen, und daß die beste aller Republiken in großer Gefahr war. Nie hat sich die Vorsehung so glänzend gezeigt als dieses Mal. Sie hat nicht allein verhindert, daß der König getroffen werde, welches ihr als Leibwache der Fürsten Pflicht war; sondern sie hat auch verhindert, daß keiner von den Hunderten von Nicht-Königen, die den König eng umschlossen, und um die[603] sie sich nicht zu bekümmern hat, verletzt werde. Sie hat noch mehr getan. Sie hat, was ihr ein leichtes gewesen wäre, den Mörder (oder den Elenden, wie die Minister in allen Blättern sagen) nicht den Händen der Gerechtigkeit überliefert, sondern ihn entwischen lassen, damit er ohne Buße sterbe und jenseits in ewiger Verdammnis leide. Der Mörder gab sich alle mögliche Mühe, entdeckt zu werden, aber es half ihm nichts. Statt einen andern Tag zu wählen, wo dem Könige, da er weniger bewacht ist, so leicht beizukommen wäre, wählte er gerade einen Tag, wo viele tausend Soldaten alle Straßen besetzt hielten, wo unzählige Polizeiagenten unter dem Volke gemischt waren und der König selbst von einem dichten undurchdringlichen Gefolge umpanzert war. Statt sich auf die freie Straße hinzustellen, wo nach der Tat Hoffnung zur Flucht blieb, stellte sich der Mörder auf die Brücke, wo auf zwei Seiten nicht auszuweichen war und die zwei engen Zugänge augenblicklich gesperrt werden konnten, wie es auch wirklich geschehen. Die Kugel war nirgends zu finden, und der König war naiv genug, abends bei Hofe zu erklären, er habe die Kugel nicht zischen hören. Sehen Sie, das nennt man regieren, und wenn Sie das jetzt nicht begreifen, bleiben Sie dumm ihr Leben lang. Bei dieser Gelegenheit aber konnte ich mich schämen, daß ich, ein Liberaler, erst mit anderthalb Jahren begreife, was die Absolutisten schon längst verstanden und erklärt haben: daß nämlich nichts lächerlicher sei als eine konstitutionelle Monarchie. Wenn in Petersburg, Wien und Berlin solche Polizeikomödien aufgeführt werden, dort, wo nur Kinder und unerfahrene Menschen auf der Galerie sitzen, die alles für Ernst nehmen und, gleich Kotzebues Landedelmann in der Residenz, imstande sind, einen Schauspieler durchzuprügeln, der als Graf Leicester die schöne Maria Stuart verraten – dort hat doch der Spaß einen Zweck, und[604] findet sich ja einmal ein naseweiser Theaterkritiker, der das Spiel beurteilt, dreht man ihm den Hals um. Hier aber, wo Öffentlichkeit, wo Preßfreiheit herrscht, wo tausend Menschen es laut ausprechen, es sei ein Polizeischuß gewesen – wozu? Darum ist eine konstitutionelle Monarchie ein lächerliches Ding, darum bin ich Republikaner geworden und verzeihe es den andern, wenn sie Absolutisten sind. Einer von uns wird den Sieg davontragen; das Justemilieu aber, diese Mißgeburt mit zwei Rücken, bestimmt, auf beiden Seiten Prügel zu bekommen – wird sie bekommen und wird, nachdem ihm aller Saft ausgedrückt worden, wie eine Zitronenschale auf die Gasse geworfen werden.
Aber in diesem Augenblicke erhalte ich Ihren Brief und ich will mich eilen, ihn zu beantworten, ehe das Gemetzel in Antwerpen angeht, das vielleicht die Sperrung des Postenlaufs nach Deutschland zur Folge haben kann. Die Holländer in der Zitadelle haben zweihundert Mörser, die Franzosen in der Stadt vierhundert. Diese sechshundert Mörser können in Zeit von einer Stunde zwölftausend Menschen zerstoßen. Dann gäbe es zwar zwölftausend Narren weniger in der Stadt; aber sie dauern mich doch, die armen zerquetschten Menschen! Es bleiben so viele Narren noch übrig, daß man den kleinen Abgang nicht spüren wird. Sich totschießen zu lassen um einen Taufnamen, daß ein König Wilhelm oder Leopold heiße! Die Erde ist das Tollhaus der Welt, und alle Narren des Firmaments sind da versammelt.
Es darf Sie nicht wundern, daß die vier Bände Tugend von Balzac mir keine Langeweile gemacht. Denn erstens ist es weibliche Tugend, die mich nicht hindert, ich meine nicht mehr. Dann sind es gerade nicht immer tugendhafte Personen, die auftreten, sondern im Gegenteil. Nachdem man aber mit den andern den Blumenweg der Untugend gewandert, stellt der Verfasser tugendhafte[605] Betrachtungen an, die man sich gefallen läßt, weil sie nichts kosten; denn man hat den Profit voraus. Aber ich kann Ihnen den Balzac nicht genug loben. Noch ein anderes Werk liegt auf meinem Tische von dem nämlichen Schriftsteller; ich habe es aber noch nicht gelesen: Physiologie du mariage ou méditations de philosophie éclectique sur le bonheur et le malheur conjugal. Publiées par un jeune célibataire. Zwei Teile. Es wird aber noch lange dauern, bis ich mit Ihnen von dem Buche sprechen kann; denn ich will es nicht bloß lesen, sondern studieren. Und warum studieren? Darüber hängt noch der Schleier des Geheimnisses; aber man wird erstaunen zur gehörigen Zeit. Wichtige Dinge sind im Werke.
Schicken Sie mir doch künftig zur Erleichterung des Briefportos ein Verzeichnis derjenigen Personen in Frankfurt, die noch nicht arretiert sind. Sie treiben es dort ins Große, und es fehlt ihnen wenig mehr zu einer Macht des ersten Ranges. Wenn sie in Frankfurt einen Jarcke gebrauchen, sollten sie sich an mich wenden; ich habe hier einen guten Freund, der gar zu gern ein Spitzbube werden möchte; er hat aber bis jetzt noch keine Gelegenheit dazu gefunden. Er besucht mich um keinen Preis und weicht mir aus, soviel er kann, aus Furcht, für einen ehrlichen Mann gehalten zu werden und dadurch seinem Fortkommen zu schaden. Nach dem Eschenheimer Turm wässert mir der Mund, ich möchte gar zu gern darin sitzen. Welch ein romantisches Gefängnis! Auf der einen Seite die Aussicht nach der Promenade, auf der andern in die Zimmer des Herrn von Nagler. Sein erster Legationssekretär stünde den ganzen Tag am Fenster, meine Seufzer zu dechiffrieren. Welch einen schönen Roman könnte unser Frankfurter Walter Scott daraus machen! Ist es wahr, daß der Senat den Mühlberg will befestigen lassen, angeblich gegen die[606] Franzosen, eigentlich aber, um die rebellischen Frankfurter im Zaume zu halten, und daß man alle Staatsverbrecher nach der Brückeninsel deportieren will? Gestern in der Kammer hat man davon gesprochen.
Hören Sie. Ein Deutscher hier, der sich für die Auswanderung nach Amerika interessiert und dafür schreibt, forderte mich neulich auf, auch dahin zu ziehen. Ich antwortete ihm: daß täte ich wohl gern, wenn ich nicht fürchtete, daß, sobald unsere vierzigtausend am Ohio wären und nun der neue Staat organisiert werden sollte, von diesen vierzigtausend guten deutschen Senaten neununddreißigtausendneunhundertneunundneunzig den Beschluß fassen möchten, sich aus Deutschland ein geliebtes Fürstenkind zum Oberhaupte kommen zu lassen. Es war ein Scherz des Augenblicks; aber nachdem er verschallt, fiel mir bei, wieviel Ernst in der Sache sei. O! wäre ich nur sicher in meiner Vermutung – auf der Stelle ginge ich nach Amerika, bloß um unsterblich zu werden; denn es wäre ein gewürzhafter Spaß, der mich einbalsamierte, meine Gebeine eine Jahrtausend gegen Verwesung schützte – es wäre ein unsterblicher Spaß.
Donnerstag, den 22. November
Die Rede, mit welcher der König die Kammer eröffnet, ist wieder die alte Vorrede der Tyrannei. Die Regierung erklärt sich für schwach und verlangt Kraftbrühen. Man weiß, aus welchen Bestandteilen diese zusammengesetzt werden: förmliches Recht zu jedem beliebigen Unrechte, Unterbrechung der Konstitution und Belagerungszustand, sooft man Furcht hat, besonders Beschränkung der Preßfreiheit, um der heiligen Allianz eine Bürgschaft für Frankreichs Ohnmacht zu geben. Vielleicht fällt aber noch heute eine Bombe aus Antwerpen in den Topf. Die Kammer hat gestern ihre Majorität ausgesprochen. Sie hat sich nicht für die linke Seite erklärt, aber auch[607] nicht für die Doktrinairs. Dupin ist zum Präsidenten ernannt worden, er wird also Minister werden. Sein Blatt ist der Constitutionnel, daraus können Sie also sein System kennen lernen. Es ist aber besser, Sie lesen den Balzac. Ich bin so kleinlaut und genügsam geworden, daß ich mit Dupin zufrieden genug bin. Da mir eigentlich nur an Deutschland liegt, so hoffe ich, daß Dupin Kasimir Périers Krämerpolitik gegen das Ausland nicht fortsetzen wird.
Daß sich Dr. Bunsen steif gemacht, das hat mich sehr amüsiert. Wenn sich alle steiften, ginge alles besser. Aber wenn man einen Deutschen ins Gefängnis führt, ist er imstande und zieht Schuhe an, um recht flink zu gehorchen.
Adieu. Ich gehe auf die Börse, um Neuigkeiten zu erfahren. Das tue ich jetzt oft. Man hat gestern einen jungen Mann arretiert, der den Schuß nach dem König getan haben soll. Er hat dadurch sich verdächtig gemacht, daß er seine großen Backenbärte abschneiden ließ. Was man vorsichtig sein muß! Gerade heute wollte mir der Barbier auch meine Backenbärte stutzen; aber aus Furcht, die Polizei könnte denken, ich wollte mich unkenntlich machen, ließ ich es nicht geschehen. Ich warte damit, bis der Mörder eingestanden; dann bin ich sicher.
– Ich danke es den unbekannten Freunden sehr, daß sie mir die Polizeihunde angeben, die nach Paris geschickt werden. Zwar bringt mir selbst die Warnung keinen Nutzen, da ich nichts zu vertrauen habe und auch keinem trauen würde als dem Teufel selbst, der eigentlich ein ehrlicher Mann, weil er sich für nichts anders ausgibt, als was er ist. Aber es gibt andere hier, die etwas zu verschweigen haben, und welche von der schwarzen Magie der heiligen Allianz nicht viel wissen. Diese werde ich warnen. Übrigens sooft ein Liberaler als ein Judas ausgegeben wird, muß man das ohne Untersuchung nicht annehmen. Es ist eine von den Künsten[608] der Polizei, um unter den Patrioten Mißtrauen zu erregen und Verbindungen zu verhindern. Ich werde sehen. Es ist etwas in den Augen eines Menschen, was der geübteste Schurke nicht in seiner Gewalt hat. Dieses Etwas verrät ihn. Adieu!
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe aus Paris
|
Buchempfehlung
Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.
188 Seiten, 6.40 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro