[448] »Bei der größten Wahrheitsliebe kommt derjenige, der vom Absurden Rechenschaft geben soll, immer ins Gedränge: er will einen Begriff davon überliefern, und so macht er es schon zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist, welches für etwas gehalten sein will. Und so muß ich noch eine andere allgemeine Reflexion vorausschicken, daß weder das Abgeschmackteste noch das Vortrefflichste ganz unmittelbar aus einem Menschen, aus einer Zeit hervorspringe, daß man vielmehr mit einiger Aufmerksamkeit eine Stammtafel der Herkunft nachweisen könne.« Mit diesen Worten beginnt Goethe in seiner Italienischen Reise die Beschreibung der tollen Land-, Garten-, Haus- und Kunstwirtschaft, die der Prinz Pallagiona auf seinen Besitzungen bei Palermo treibt. Durch die Anführung dieser Rede sichere ich den einen oder den andern Vorteil. Meinen eignen – sollte es mir nicht gelingen, den Tadel, den ich gegen das Bild auszusprechen gedenke, fest zu begründen, den des Dichters – sollte es mir gelingen.
Was ist der Zweck der dramatischen Kunst? Nur zur Frage, nicht zur Antwort ist hier Raum. Auch ist genug, des flüchtig zu gedenken, daß die Kunst eine Nachahmung der Natur in dem Sinne sei, daß sie das Schaffen, nicht die Geschöpfe der Natur nachahmt, daß sie schafft wie, nicht was die Natur. Die bildende Kunst tut es der äußern, die dramatische der menschlichen Natur, das heißt, der Geschichte nach. Sie stellt die Kraft und die Reizbarkeit, das Handeln und das Leiden des Menschen dar. Wie nun aber jede Kraft durch ihre Begrenzung, durch den Stoff, auf den sie einwirkt, bestimmt, und wie[448] jedes Leiden durch eine äußere Kraft erregt wird, so ist der dramatische Künstler zugleich ein bildender; er hat in seinen Werken nicht bloß die wahre Beschaffenheit der menschlichen, sondern auch die der großen Natur, die Verhältnisse rein aufzufassen und treu darzustellen. Und wie er diese Forderung erfüllt, das wäre der erste Versuch, der über den Gehalt eines dramatischen Werkes anzustellen sei. Wir wollen diesen Maßstab an eine Geschichte, die wir, wie folgt, ersinnen, anlegen:
Einer der Großen des Landes will die bestehende Regierung stürzen. Die Verschwörung wird entdeckt, er muß flüchtig werden, mit ihm fliehen seine Angehörigen. Man zieht seine Güter ein, er wird zum Tode verdammt, und die Strafe des Gesetzes wird am Bildnisse des Schuldigen vollzogen. Darauf kehrt der Flüchtige verkleidet zurück, sein Unternehmen noch einmal zu versuchen. Er wird erkannt, eingekerkert, entgeht aber dem Henkertode, da er früher im Kerker stirbt. Welche Empfindungen wird dieser Tod bei den Hinterlassenen erwecken, zu welcher Handlung wird er sie anreizen? Gewiß, sie werden um den verlornen Gatten, Vater und Bruder trauern, sie werden seinen Tod beweinen – aber auch rächen? Nein. Nicht eine blutige Tat, die Triebfeder einer blutigen Tat kann die Angehörigen eines Geopferten zur Rache auffordern. Und war die Triebfeder zur Verurteilung und Einkerkerung des Grafen eine gehässige, zu bestrafende? Der Graf hatte sich wirklich verschworen, das Gesetz hat ihn gerichtet. Wen sollte die Rache treffen? Den Fürsten des Landes, der, was seine Pflicht war, den Staat vor Aufrührern geschützt? Die Richter, die das Urteil gesprochen? Tritt ja die Rache auf, so kann sie es nicht als eine Tat der Zärtlichkeit und Liebe, nur als eine Tat der Politik kann sie erscheinen. Die sie zu vollführen übernommen, müssen, gleichgesinnt mit dem Verstorbenen, die mißlungene Verschwörung von neuem[449] anzetteln, und der Trieb, den Tod eines geliebten Freundes zu rächen, mag sie dann zu ihrem Unternehmen noch mehr anfeuern. Aber alleiniger Zweck kann unter solchen Verhältnissen die Rache nicht werden. Wenn nun die Regierung, welcher das Opfer fiel, durch Eroberung einer andern Macht vertrieben wird, wenn dieser neuen Regierung die Familie des Gestorbenen ergeben ist, wenn daher die Trauer um den Toten an dem Ehrgeize keinen Unterstützer findet, dann wird sie verstummen und nicht mehr auf Rache sinnen. Gegen wen sollte diese ferner gerichtet sein? Gegen die Polizeidiener, die den flüchtigen und zurückgekehrten Grafen erkannt und ins Gefängnis geführt, oder etwa gegen einen armen schlechten Teufel von Auflaurer, der um eine Handvoll Geld den Geächteten verriet? Oder gegen wen sonst? Nun wahrlich, es erratet's keiner, wenn ich es ihm nicht sage ... Doch laßt uns zum Bilde zurückkehren; denn die hier erzählte Geschichte ist der Inhalt dieser Tragödie – erzählt, soweit die Geschichte möglich ist; wo das Unglaubliche beginnt, lasse ich den Dichter selbst reden.
Ein Graf Nord hatte die spanische Herrschaft in Neapel zu stürzen gesucht. Flüchtig, nach entdeckter Verschwörung, ward sein Bild an den Galgen geschlagen. Als Mönch verkleidet, kehrt der Graf zurück, wird erkannt, verhaftet und stirbt im Gefängnisse. Dieses ereignete sich wenigstens zehn Jahre vor der Handlung, die in der Tragödie sich vor unseren Augen abspielt. Der Schauplatz ist auf dem Schlosse des Grafen Gotthard von Nord, Bruders des Verstorbenen, in der Schweiz. Außer diesem befinden sich noch daselbst und treten als Hauptpersonen auf: Kamilla, die verwitwete Gräfin Nord; ihr Sohn Leonhard, ein Jüngling von 18 Jahren; ihr Vater Marchese di Sorrento; ein Maler Spinarosa und der Schloßkastellan. Die Familie hatte sich aus dem politischen Sturme hierher gerettet. Aber seitdem hatte sich[450] ihr Schicksal aufgeheitert. Die österreichische Herrschaft hatte sich Neapels bemächtigt, und die neue Regierung die eingezogenen Güter des verstorbenen Grafen und seiner Angehörigen letztern zurückgestellt. Der alte Marchese erwartet einen Boten aus Italien mit der Bestätigung seines Glücks.
Da er flüchtig und verarmt eine Freistätte suchte, ließ er seinen Enkel Leonhard, noch Kind, in Italien zurück. Unbekannt mit seiner Herkunft, als verlassene Waise, kam der Knabe in eines Malers Hände, der dessen Naturanlage zur Kunst sorgfältig entwickelte. Meister Spinarosa, durch einen geheimen Zug des Gemüts an den Knaben gekettet, ward sein Lehrer, Freund, Vater, und da der Zögling heimgeholt wurde, um ferner in dem erneuerten Glanze des Großvaters zu leben, begleitete ihn Spinarosa, gedenkend, sich nie mehr von ihm zu trennen. Sie waren einen Tag früher, ehe die Handlung des Dramas beginnt, auf den Gütern des Grafen Nord angekommen. Da lernt nun Leonhard den Marchese als seinen Großvater, Kamilla als seine Mutter, den Grafen Nord als seinen Oheim kennen. Er erfährt von dem Marchese seines Vaters Schicksal, wie dieser eine Verschwörung angezettelt, wie er sich flüchtete, wie sein treues Bild am Galgen aufgehängt wurde, wie er darauf zum zweiten Male sich verkleidet nach Neapel gewagt, wie er erkannt wurde, denn:
– – – – – – – – – – – – – Das Bild
Am Galgen, von verruchter Hand gemalt,
Es war zu treu und wurde sein Verräter.
Worauf Leonliard erwidert:
O pfui! Wer hat die Kunst so tief entweiht!
Das ist nun die Schraube, um welche sich die Handlung dreht, und geschraubter findet sich wohl auch keine in der ganzen dramatischen Welt. Man möchte Leonhards[451] Worte des Unwillens, die wir soeben aussprechen gehört, wiederholen: denn nie haben possierlichere Stelzen den Dienst des Kothurns vertreten. Viele Jahre sind seit dem Tode des Grafen vorüber, und noch ist alles Sinnen und Trachten des Marchese und des alten Kastellans darauf gerichtet, wie sie den Maler entdecken, der das Bild verfertigt, das man an den Galgen hing; denn dieses Bild, reden sie sich ein, weil es so treu gewesen, habe den Grafen verraten. Und nicht allein diese, sondern selbst ein Kardinal in Neapel, der Oheim des Marchese, hat sich jene Narrheit in den Kopf gesetzt; denn der von ihm an den Marchese geschickte Bote erzählt:
Auch Seine Eminenz sind tief empört
Und wollen ihre ganze Macht gebrauchen,
Den Maler zu erforschen; denn solch ein Bild
Mit diesem Fleiß und dieser Sicherheit
Zu malen, meinen sie, sei nur das Werk
Der schändlichsten Verräterei – –
Meinen sie! Alle Ehrfurcht vor der Meinung einer Eminenz; aber ich kann mich nicht darein finden. Kenner der ausübenden Henkerkunst werden es besser wissen als ich, was es mit der Hinrichtung im Bildnisse eigentlich für eine Bewandtnis hat. Wird nicht, wie es mir wahrscheinlich dünkt, nur irgendein Bild symbolisch an den Galgen geschlagen, mit der Absicht, es solle den flüchtigen Verbrecher vorstellen, oder wird wirklich das Konterfei des Verurteilten und in der Absicht dazu gebraucht, daß er erkannt und ausgeliefert wird? Angenommen, daß dieses sich so verhalte und daß der Graf wirklich daher erkannt und eingekerkert worden sei, weil sein treues Bildnis ihn verraten; wie kann aber auch der witzigste Argwohn auf den Gedanken kommen, daß ein Maler aus Bosheit, in der Absicht, den Grafen den Henkern zu überliefern, das Bild gemalt habe? Er müßte es dann aus der Erinnerung gemalt haben, denn hätte[452] der geächtete Graf sei nem Pinsel gesessen, dann braucht' er ihn ja bloß beim Kragen zu fassen und der Gerechtigkeit einzuhändigen. Also ein Maler wäre zur Polizei oder zum Kriminalgericht gekommen und hätte gesagt »ich bin ein Feind des flüchtigen Verbrechers, da habe ich euch aus Rache sein Bild gemalt; ich stehe euch dafür, es gleicht ihm wie ein Ei dem andern, schlagt es an den Galgen, es wird seine Dienste tun!« Aber wäre es nicht möglich, ja wahrscheinlich, daß das Bild des Grafen früher, und keineswegs zu diesem schrecklichen Vorhaben, gemalt worden wäre und daß man es unter den Möbeln des Geächteten, die man mit den Palästen, in denen sie waren, wie erzählt, konfisziert hatte, gefunden und zu peinlichen Zwecken benutzt habe? Ja die Familie, der Marchese, mußte ja daran denken, daß sich der Graf einmal habe malen lassen, da dieser Umstand wegen eines gewissen Vorfalles, der sich dabei ereignet hatte, der Gräfin Kamilla unvergeßlich bleiben mußte. Indessen, genug der Bedenklichkeiten und Einwendungen, es gibt unerklärliche Idiosynkrasien des Gemüts, und der Haß gegen einen unbekannten, vermutlich ruchlosen Maler mag eine solche sein. Ja, es muß eine Idiosynkrasie hier stattfinden, denn man glaube nicht etwa, daß die Anverwandten, von heftiger Liebe und Zärtlichkeit für den schon vor Jahren verstorbenen Grafen immer noch beseelt, zu solchen Rachephantasien sich verblenden ließen. Sie haben ihn alle nicht sonderlich geliebt. Er war ein roher, harter Mensch. Der Marchese klagt, sein Schwiegersohn habe ihm nur Unglück in die Familie gebracht. Kamilla, sein Weib, hatte eine frühere Neigung durch ihre ganze Ehe stets ungeschwächt bewahrt. Der Graf Gotthard von Nord konnte dem verstorbenen Bruder auch nicht gut sein, da er ihm genannte Kamilla, die früher ihm selbst als geliebte Braut bestimmt gewesen, weggeschnappt hatte. Der junge Leonhard kannte[453] seinen Vater kaum. Nur der alte Kastellan bedauert seinen jungen Gebieter, den er als Knaben auf den Armen getragen, aufrichtig, die übrigen aber tragen ihn nur in effigie im Herzen und lieben ihn in contumaciam – sie haben es nur mit seinem Bilde zu tun.
Wie gesagt – Schwiegervater, Sohn, Bruder, Kastellan, alle sinnen darauf, wie sie den verräterischen Maler finden und züchtigen könnten. Da spricht der Kastellan:
Ich habe drüber Jahre lang gebrütet,
Wie ich ihn kennen will.
Der gute Mann hat das folgendermaßen angefangen. Zuerst hat er sich nach Neapel geschlichen, das aufgehängte Bild nächtlicherweise vom Galgen abgenommen und dafür ein anderes hingehängt; sodann ist er durch vieles Überlegen und Suchen dahintergekommen, daß in der Ecke des Gemäldes der Künstler ein Zeichen hingemacht (sein Monogramm). Jetzt war der Weg zur Rache gefunden. Sie wollen sich sämtlich auf die Wanderung begeben, den Mordmaler aufzusuchen, übertragen jedoch, wie billig, dem jungen Leonhard die Rache. Dieser wird feierlich mit einem Schwerte umgürtet, zum Ritter geschlagen und ihm der Eid abgenommen, des Vaters Tod zu rächen! Während sie sich aber auf solche Weise rüsten und beraten, hat ihnen der böse Geist das Opfer schon zugeführt; denn der Maler, der das Galgenbild gemalt, ist kein anderer als Spinarosa. Wie er in das Haus seiner Feinde gekommen, ist oben schon gesagt; jetzt muß erzählt werden, auf welche Weise er dazu kam, den Grafen Nord zu malen. Zwar scheint dieses so natürlich, aber der gerade Weg taugt in keinen Tragödien; um gehörig spät zum fünften Akte zu gelangen, müssen krumme Wege eingeschlagen werden.
Gräfin Kamilla brachte ihre Kinderjahre in einem Kloster zu. Da ereignete sich, daß daselbst mehrere Bilder restauriert werden sollten. Der berühmte Meister, dessen[454] Kunst man in Anspruch nahm, hatte keine Zeit und schickte einen seiner Schüler, einen Deutschen namens Lenz. Wie dieser nach und nach die beschädigten Madonnen ausbesserte, bekamen sie alle das Gesicht der schönen Kamilla. C'est l'amour qui a fait ça! Die kleine Kamilla erwiderte die Liebe des jungen Malers. Da ward sie aus dem Kloster gezogen und dem Grafen Nord angetraut. Dieser hat von der Liebschaft gehört und will dem Maler, der seine Braut, wenn sie es auch damals noch nicht gewesen, zu lieben wagte, einen Streich spielen. Er läßt ihn rufen, um sich malen zu lassen. Lenz kommt, ohne zu wissen, daß er den Mann seiner Geliebten vor sich habe, und malt den Grafen. Als das Bild fertig ist, ruft der Graf Kamilla herbei, hunzt den armen Lenz in ihrer Gegenwart herab und sagt, das Bild tauge nichts. Nachdem er die Absicht, den Jüngling in Gegenwart der Geliebten zu beschämen und zu ärgern, erreicht, läßt er ihm den bedungenen Lohn auszahlen. Dieser aber wirft ihm das Geld vor die Fuße, stürzt fort, ändert seinen Namen und irrt in der Welt umher. Auf diese Weise ward das verhängnisvolle Bild geboren, das den Grafen das Leben kostete. So sinnreich bestrafen Dichter die Bosheit!
Jetzt ist Lenz unter dem Namen Spinarosa in der Nähe seiner Geliebten. Die Flamme seines Herzens hat er durch alle Wege seines Lebens treu gewartet, und auch sie hat die Neigung für ihren Jugendfreund ungeschwächt erhalten. Noch hat er sie, sie ihn nicht gesehen. Wie rührend wird die Erkennung sein! Welch ein freudiger Schrecken wird beide überfallen! ... Ach nein, daraus wird leider nichts, denn Kamilla ist blind, trägt eine Binde vor den Augen und hat sich so verändert, daß sie unkenntlich geworden ist. Wie, blind ist sie? Das ist nicht möglich. Also darum muß der unschuldige, unglückliche Maler mit einem Degen totgestochen werden, weil die[455] Dame blind ist? Hätte sie gesehen und ihn erkannt, dann wären alle Mißverständnisse und der daraus entsprungene Jammer verhütet worden. Darf ein dramatischer Künstler sich so etwas erlauben? Darf er die Bühne zum Lazarette machen? Wenn das habsüchtige, räuberische Schicksal, diebisch oder gewaltsam, in das schwache, unbewahrte Menschenherz einbricht, wenn dann die Angst unsere Schritte beflügelt, das Entsetzen uns unbeweglich macht, das Mitleid unsere Empfindung in Tränen auflöst – Angst, weil das drohende Geschick so übermächtig – Entsetzen, weil es zu flüchtig, ihm zu enteilen – Tränen, weil der Liebende ein Mensch ist wie wir, dem wir in jedem Nerven, in jedem Gliede den Schmerz nachempfinden – kann alles dieses auch dann in uns eindringen, wenn das duldende Schlachtopfer des Geschickes nicht menschlich gestaltet ist wie wir? Wenn es einen Schmerz fühlt, für den wir keinen Nerven haben, wenn das Unglück bei ihm durch eine offene Pforte eindringt, die bei uns verschlossen ist und bewehrt? Was kümmert uns ein Jammer, der durch Blindheit veranlaßt wird! Wir haben unsere guten Augen, wir sehen umher, uns kann so etwas nicht erreichen. Was kann einem Blinden nicht alles Trauriges begegnen, ohne daß es der Tücke des Fatums bedürfe! Er kann von einer Höhe stürzen und den Hals brechen; er kann mit einem Stocke einen bellenden Hund treffen wollen und seinen Vater erschlagen; er kann seinem eignen Kinde statt Zucker Rattengift in die Milch mischen. Die Gerichte können ihn darauf des Mordes beschuldigen und zum Tode verurteilen. Seine Frau stürzt sich aus Verzweiflung ins Wasser. Das ist gewiß Jammer genug; aber es ist ein pathologischer, kein dramatischer. Auch Shakespeare hat kranke, geisteszerrüttete, blinde Menschen auf die Bühne gebracht. Allein bei ihm erscheint der Wahnsinn nicht als Quelle, sondern als Ausfluß des dramatischen Geschickes, und[456] seine Blinden sind nur als Teile der Szenerie hingestellt, wie man Blitz, Donner und Seestürme auf die Bühne bringt, um einem schauerlichen Gemälde einen entsprechenden Rahmen zu geben. Aber im Bild ist die Blindheit der Gräfin die Wurzel aller Leiden, die Ursache aller Verwirrung, und man kann ohne schadenfrohen Kitzel nicht daran denken, daß der Hofrat Himly aus Göttingen, wenn er zufälligerweise einige Monate früher als Spinarosa nach der Schweiz gekommen und die blinde Gräfin durch ihn geheilt worden wäre, dem Schicksale und dem Herrn von Houwald einen rechten Possen gespielt und jenes um seine Beute, diesen um seine Tragödie geprellt hätte.
Aber an welchem Augenübel leidet denn eigentlich die schöne Gräfin, und wie kam sie dazu? Hat sie den grauen oder schwarzen Star? Hat sie ein Fell oder Flecken im Auge? Ist sie blind geboren? Ist das Übel nach einem Nervenfieber oder nach einer Entzündung übriggeblieben? Ach nein, das alles nicht. Sie hat sich um ihren verstorbenen Gatten blind geweint. Wahrhaftig, das ist romantisch, welch eine Treue, welch eine Liebe, welche Zärtlichkeit! Liebe? Zärtlichkeit? Ei, bewahre der Himmel! Sie hat ihren Mann nie geliebt, sie war der Neigung ihrer Jugend stets treu geblieben, der junge deutsche Maler lebte verborgen in ihrem Herzen. Und doch hat sie sich um ihren Gatten blind geweint? Das ist unglaublich! Ei, es muß wohl wahr sein; sie selbst und ihr Vater erzählen es. Der Marchese sagt seinem Enkel Leonhard, da er ihm das traurige Ende, das sein Vater in Neapel genommen, mitteilt:
Durch unsere Freunde ward mir bald die Kunde.
Ich sucht' es deiner Mutter zu verbergen;
Denn sie lag damals mit dir an den Blattern
Darnieder; aber sie erfuhr es doch;
Und ob die frohen Stunden ihrer Ehe[457]
Ihr gleich nur spärlich zugemessen waren,
Doch war sie tief und auf den Tod betrübt,
Und in dem scharfgesalznen Tränenquell
Des Grams verloschen ihre schönen Augen.
Und die Gräfin sagt von ihrem verstorbenen Manne:
Ich hab' ihn lang beweint, doch meine Tränen
Sie löschten wohl der Augen schwaches Licht,
Doch nimmer die geheime mächt'ge Flamme
Der ersten Liebe.
Sie, Marquis, haben Ihre Sache gut gemacht; Sie wußten Ihrem Märchen einige Wahrscheinlichkeit zu geben. Indem Sie erzählten, die scharfgesalzenen Tränen des Grams hätten die schönen Augen Ihrer Tochter ausgelöscht, ungeachtet sie eine unglückliche Ehe gehabt, da fühlten Sie selbst, wie unglaublich das sei, und da haben Sie, anscheinend ganz absichtslos, die Bemerkung eingeflochten, daß die Gräfin zur selben Zeit an den Blattern krank gelegen. Es war dieses ein feiner ophthalmologischer Zug. Die Spötter, die an der aufrichtigen Betrübnis Ihrer Tochter zweifeln mochten, können in ihrem Sinne annehmen, sie sei von den Blattern, aber nicht aus Trauer blind geworden. Aber Sie, schöne Gräfin, haben sich gewaltig verschnappt. Wie! Sie wollen uns weismachen, daß die nämlichen Tränen, die nicht stark genug gewesen waren, die geheime, mächtige Flamme Ihrer ersten Liebe zu dämpfen, dennoch vermochten, das Licht Ihrer Augen auszulöschen, und Sie sagen uns das in vier aufeinanderfolgenden Zeilen, damit der Widerspruch recht handgreiflich werde? Gehen Sie uns, Sie sind sehr schlimm, Sie haben so etwas von einer Witwe zu Ephesus. Ihre Blindheit war nichts als eine Folge der Blattern, aber um sich das Ansehen einer zärtlichen betrübten Witwe zu geben, haben Sie den Leuten aufgebunden. Sie hätten sich um Ihren Mann blind geweint.[458]
Nun zurück zur Geschichte! Maler Spinarosa wird von dem Marchese aufgefordert, seine blinde Tochter zu malen, doch ohne daß sie davon wisse; denn sie habe sich immer gesträubt, einem Pinsel zu sitzen. Spinarosa wird in das Zimmer seiner Geliebten geführt. Er erkennt sie zwar nicht, und sie weiß nichts von seiner Gegenwart. Aber das in unsern neuern Tragödien so beliebte Dehnen und Sehnen, die magnetische Sympathie, das schwermütige Wesen, die sauersüße Empfindung, wobei einem ganz jämmerlich zumute wird, läßt sich alsbald verspüren. Er wird ahndungs- und andachtsvoll, ihr wird heiß und schwül, sie bekommt das Asthma und muß ins Freie. Da kniet er mitten im Zimmer nieder, die Abendglocken läuten dazwischen. Um den langen ungewissen Zustand zu verkürzen, sage ich gleich, daß er endlich von Kamillas Gesellschafterin erfährt, wen er gemalt habe, daß er der Vertren seine Hoffnung mitteilt, jetzt die Geliebte heiraten zu können, daß diese ihm sagt: daraus werde wohl nichts werden; denn der Marchese sei ein stolzer Mann.
Jetzt zu einem andern. Wenn ich Sprünge mache und außer Zusammenhange die Geschichte erzähle, so ist das nicht meine Schuld. Die Handlung hat mehrere Episoden, die ihr an Bedeutung nicht nachstehen. Sie könnten Stoff geben zu vier bis sechs Tragödien. Die Personen laufen verwirrt durcheinander, zerstoßen sich die Köpfe und versperren sich wechselseitig den Weg. Keiner weiß, wohin er gewollt, und alle verfehlen das Ziel. Der Graf Gotthard von Nord, Bruder des Verstorbenen, liebte Kamilla. Sein Vater hatte sie ihm ehemals als Braut zugedacht, seine zweite Mutter aber, aus Liebe zu ihrem eigenen Sohne, diesem Kamilla zugewendet. Der Graf hatte darauf das Malteserkreuz genommen. Da jetzt Kamilla Witwe, denkt er sich mit ihr zu vermählen, das Kreuz mit einer Frau zu vertauschen, und nachdem er sich vom Papste die nötige Dispensation verschafft,[459] entdeckt er dem Marchese seine alte Neigung zu Kamilla und bittet um ihre Hand. Dieser willigt mit Freuden ein, unterrichtet aber den Grafen von der früheren Neigung, die seine Tochter für einen deutschen Maler hegte. Der Graf will Kamilla ausholen, er spricht mit ihr von Herzensangelegenheiten und erhält das Geständnis, daß sie ihren Lenz nie vergessen werde. Der Graf erfährt von Spinarosa, daß Lenz lebe und daß dieser sein Freund sei. Der Graf ist hochherzig, er ladet Spinarosa ein, ihn nach Deutschland zu begleiten, um Lenz aufzusuchen. Er will seinen beglückten Nebenbuhler Kamillen in die Arme führen.
Kamilla hatte auch erfahren, daß Lenz noch lebe, und seitdem spricht sie wachend und träumend von ihm. Ihr Vater, der Marchese, der darin ein Hindernis zu ihrer Verbindung mit dem Grafen findet, bittet Spinarosa, er solle vorgeben, sein Freund Lenz wäre kürzlich gestorben, wie er soeben aus einem Briefe erfahren. Dieser jammert, in Dialogen und Monologen, ob so grausamer Zumutung; endlich verspricht er's zu tun und nimmt sich vor, in nächster Nacht heimlich das Schloß zu verlassen, um seiner Qual und dem Schmerze Kamillas zu entgehen. Er bittet den Kastellan, ihn nachts verstohlen die Pforte zu öffnen, ihn aber vorher in die Ahnenbildergalerie des Schlosses zu führen, weil er seine Augen noch einmal an dem von ihm gemalten und dort aufgehängten Bilde Kamillas weiden wolle. Der Kastellan verspricht es zu tun. Nun erinnere man sich, daß dieser alte treue Diener sich seit vielen Jahren in den Kopf gesetzt, durch das Monogramm des Galgenbildes den verräterischen Maler ausfindig zu machen. Darauf entdeckt er auf dem neugemalten Bilde Kamillas das nämliche Monogramm und schließt daraus, daß Spinarosa das Galgenbild verfertigt habe. Der Umstand, daß dieser sich heimlich aus dem Hause stehlen wolle, bestätigt ihn in[460] seinem Argwohne. Natürlich will der Mörder entfliehen, weil er sich entdeckt glaubt. Dem Marchese wird die Sache mitgeteilt, und beide nehmen sich vor, den Maler in der Bildergalerie zu belauschen, zu überfallen und zur Rede zu stellen. Um Mitternacht wird Spinarosa von dem Kastallan in die Galerie gelassen. Dort spricht er eine Zeitlang mit dem Bilde Kamillas. Darauf gewahrt er ein verhängtes Bild. Er zieht den Vorhang weg! Hölle und Teufel! Wut. Er zieht den Degen und stößt damit das Bild, es durchbohrend, von der Wand herab. Es war das Konterfei des von ihm gemalten Grafen Nord, der ihm seine Geliebte entzogen und ihn so schnöde behandelt. Sollte ihn dieser Anblick nicht in Wut setzen? In dem nämlichen Augenblicke stürzt der Marchese und der Kastellan herein. Das an den Galgen geschlagene, von dem Kastellan dem Galgen abgestohlene und in die Galerie gehängte Bild des Grafen wird von Spinarosa herabgeworfen. Das ist lautes Bekenntnis seiner Tat. Der Marchese zieht den Degen, und da sich der Maler ihm nicht entgegensetzen will, durchstößt er ihn.
Dies geschah um Mitternacht. Wie schafft man sogleich Kamilla herbei? Diese hatte ihrer Gesellschafterin gesagt, sie wolle diese Nacht etwas lange aufbleiben in der Nähe der Galerie, weil dann Geister dort herumwandeln sollen, und sie wolle hören, was Wahres daran sei. Auf den Mordlärm eilt sie herbei. Sie sieht den blutenden Geliebten. Sie sieht ihn, denn in diesem Augenblicke erhält sie das Gesicht wieder, der Wahnwitz überfällt sie, und sie sinkt tot hin. Der Maler stirbt auch, und der Marchese bedauert seine Übereilung. Man hätte wahrhaftig den Maler wohlfeiler sterben lassen können!
Und käme nun der Dichter dieser Tragödie und spräche: »Herr Rezensent, Sie wollen schlau sein, aber wie haben Sie sich ertappen lassen! Sie konnten glauben, daß es mir damit Ernst gewesen? Es konnte Ihnen entgehen,[461] daß ich mich durch mein Bild über die dramatische Scharlatanerie und Kinderpossenreißereien der deutschen Poeten habe lustig machen wollen?« – Wahrhaftig, ich würde rot werden und mich schämen. Man hat die Sprache in dieser Tragödie gelobt, sie soll blühend, bilderreich sein; aber gar manches wird gemalt und gar manche Kräuter blühen. Ich kann die Bearbeitung so wenig loben als die Wahl des Stoffes und will, meinen Tadel zu begründen, einige Stellen ausziehen.
Der Kastellan beginnt das Stück mit folgenden Worten:
Lauft! lauft! und reißt die Türen auf und zu,
Als sei das wilde Heer hier eingezogen! –
Wie mir ob dem Spektakel fast der Mund
Erstaunend offen steht, so sperrt die Burg
Auch ihre längst verschloßnen Tore auf.
Die Türen zureißen ist falsch. Reißen heißt gewaltsam trennen; wenn aber die Tür heftig zugeschlagen wird, so wird sie gewaltsam mit dem Türpfosten verbunden. Will der Kastellan ein Maul haben wie ein Tor, so habe ich nichts dagegen; aber wenn ihn der Mund fast offen steht, das heißt nur halb, so kann er es mit dem zum Empfange der einziehenden Gäste ganz geöffneten Tore nicht wohl vergleichen. Nun laßt uns weiter gehen; wenn der Kastellan schlecht spricht, so beweist das noch nichts gegen die übrigen; auch in einem prächtigen Palaste ist die Bedientenstube schlechter tapeziert und möbliert als die Zimmer der Herrschaft. Freilich spricht der Kastellan so preziös, so sentenziös, daß man ihn mit seiner Herrschaft verwechseln könnte ... Der junge Leonhard in der Unterredung mit dem Kastellan sagt:
Was du die Welt nennst, liegt mir noch verborgen;
Doch hat die Kunst mir eine aufgetan;
Da steht der Glaub' und die Erfahrungen
Der alten Meister seit Jahrhunderten
Gesammelt – –[462]
Einem Knaben wie Leonhard ist allerdings die Welt verborgen, allein er ist sich dessen nicht bewußt. Der muß die Welt schon viel kennen, der es weiß, daß er sie nicht genug kennt. Über den Unsinn dieser Rede will ich mich nicht weiter verbreiten; daß es der junge Mensch als Maler an eitlem Kunstgeschwätze nicht wird fehlen lassen, das läßt sich denken, sowie auch, daß er ganz unausstehlich altklug spricht. In unsern neuen Tragödien gebärden sich die Helden wie die Kinder und die Kinder wie Erwachsene. Der kleine Otto in der Schuld ist hierin mit seinem Beispiele vorausgegangen. Der sanfte Raffael, wenn er den Kunstschüler Leonhard nach Art des Novalis und des Klosterbruders hätte sprechen hören, würde freilich nur gelächelt haben; aber der kräftige Michelangelo hätte mit seiner derben Faust dem Jungen gewiß einige Ohrfeigen gegeben und ihm zugedonnert: Arbeite, Pursche, und räsoniere nicht! ... Der Marchese, in der Erzählung, die er seinem Enkel von der mißlungenen Unternehmung des Vaters gegen die Regierung von Neapel macht, sagt:
Und weil dein Vater, der Verschwörung Haupt,
Zum Tod verurteilt worden war, so hing
Man wenigstens von ihm ein treues Bild
In contumaciam am Galgen auf.
»Verurteilt worden war«, – überhaupt alle diese Verse, sind doch etwas gar zu bürgerlich und herablassend. »Wenigstens« hat etwas Drolliges. In den beiden letzten Versen herrscht Unsinn. Der Verbrecher wird in contumaciam, d.h. als der Vorladung nicht Gehorchender, als Ausbleibender gehängt, aber nicht das Bild, das wird in Person gehängt. Um ein Bild in contumaciam, in effigie aufzuhängen, müßte man seine Kopie an den Galgen schlagen. So hängt in manchen Bildergalerien ein Raffael, ein Tizian in contumaciam, das heißt, nicht das Original, welches nicht zu haben war, sondern die Kopie. Der[463] Ausdruck in contumaciam, steif, hölzern, übertölpelnd wie er ist, gehört in ein Lehrbuch des peinlichen Prozesses, aber in kein Dichterwerk. Das hängt sich zentnerschwer an den Flügel des Pegasus. Das gemeine Wort Galgen, welches der gemütliche Dichter »der Vergeltung Säule« nennt, kommt in dem Bild so häufig vor und macht auf selbst ehrliche Ohren einen so unangenehmen Eindruck, daß in der Handschrift dieses Dramas, dessen sich die hiesige Bühne bedient, mit Recht das viel erhabnere, poetischere Hochgericht dafür gesetz wurde.
In der ersten Szene des dritten Akts spricht der Kastellan mit dem Grafen Nord von seinem Racheplan gegen den Mordmaler, wenn er ihn fände. Der Graf sucht ihn zu besänftigen und sagt:
– Blinde Rach' ist eine gier'ge Wölfin,
Die ihrer eignen Mutter Leib zerfleischt,
Indes sie selbst mit Reue schwanger geht.
Also die Rache ist eine Wölfin. – Das läßt sich hören. Die ihrer Mutter Leib zerfleischt – mag hingehen, obzwar die Naturgeschichte nichts davon sagt; denn wie ist es denkbar, daß sich die alte starke Wölfin von ihrer schwächeren Tochter sollte beißen lassen? Aber freilich, diese Tochter ist so schwach und jung nicht mehr; denn sie ist schwanger, so daß, indem sie von der Mutter frißt und das abgerissene Fleisch durch die Verdauung in ihr Blut übergeht, ihre Leibesfrucht damit ernährt und der Enkel mit der Großmutter gefüttert wird. Aber womit ist die Wölfin schwanger? Mit – Reue. Hat man je gehört, daß eine Wölfin mit Reue trächtig geht? Oder bezieht sich die Reue auf Rache, die Rache geht mit Reue schwanger, so ist diese ganze Bildnerei und Vergleichungsart durchaus fehlerhaft in stilistischer Beziehung. Will man einen Begriff durch Versinnlichung oder etwas Körperliches durch Vergleichung mit einem andern Körperlichen[464] anschaulicher machen, so muß man bei der Natur des Vergleichenden stehenbleiben und darf nicht zum Verglichenen zurückkehren. Man darf in kein Landschaftsgemälde natürliche Blätter und Blumen anbringen. Ich will ein Beispiel anführen, wie man einen solchen Fehler macht und vermeidet. Ihr möchtet einem schönen Mädchen über ihre großen leuchtenden Augen und seidenen Augenwimpern etwas Schmeichelhaftes schriftlich oder mündlich sagen. »Deine Augen gleichen zwei Sonnen«, das mag hingehen, ob es zwar auch nicht ganz recht ist; denn man sieht nie am Himmel zwei Sonnen nebeneinander. Nun weiter: »Deine Augen sind zwei glänzende Sonnen, über welche, das blendende Licht zu mildern, zwei seidene mit Fransen gerändete Vorhänge herabhängen.« Das wäre falsch, denn über der Sonne befinden sich keine Vorhänge. Wenn ihr aber sagt: »Deine Augen sind zwei kristallne Fenster, über welche Vorhänge mit schwarzseidenen Fransen hängen«, so ist das ein ganz vortreffliches Bild, was auch ein Tapezierer dagegen einwenden möchte.
Julie, der Kamilla Freundin, entdeckt, daß Spinarosa kein anderer als Maler Lenz sei. Sie will Gewißheit haben und ihn ausholen. Sie fragt ihn nach seinem wahren Namen. Spinarosa sagt:
Gibt euch mein Name
Von unserm Leben nicht ein treues Bild?
worauf Julie erwidert:
Auch dornenlose Blumen trägt der Lenz,
Sagt, habt Ihr nie den Maler Lenz gekannt?
Abgesehen von der Gemeinheit dieses Wortspiels, so liegt auch ein widriger Pleonasmus darin. »Dornenlose Blumen trägt der Lenz«. Sie legt einen Nachdruck auf das Wort Lenz. Gut, sie will ihn sticheln. Allein wozu das Sticheln, wenn sie gleich darauf mit den Worten:[465]
»Habt Ihr den Maler Lenz gekannt?« ihn unter die Rippen stößt? –
Es ist von dem schändlichen Mordmaler die Rede. Der Marchese sagt:
O schändlicher Verrat! Den Bösewicht,
Der hier aus Gift und Rache Farben mischte,
Kennt' ich ihn nur, ich tauchte diesen Pinsel
(an den Degen fassend)
In seines Herzens roten Farbentopf,
Bleich wie die Wand sein Angesicht zu malen!
»Aus Gift und Rache Farben mischt«. Diese Mischung taugt nichts: Gift ist eine Substanz und Rache ein Begriff. Es ist gerade so, als wollte man Mehl und Unschuld untereinandermischen. Das Schwert einen »Pinsel« zu nennen, ist nur einem betrunkenen Husaren im Wirtshause erlaubt, keinem Marquis. Das Herz einen »roten Farbentopf« zu heißen, mag der Dichter verantworten. Wie aber will er es anfangen, aus einem Topfe mit roter Farbe weiß zu malen? Das ist ein Taschenspielerstreich!
Nennt der Marchese das Schwert einen Pinsel, so macht dagegen Leonhard den Pinsel zum Schwerte:
Wer konnte wohl die Kunst so tief entweihen
Und seinen Pinsel zu dem Richtschwert machen?
Bei ebendieser Gelegenheit läßt sich der Kastellan wie folgt vernehmen:
Der Meuchelmord
Ist nicht so schändlich; 's ist ein einziger Stoß
In Hast und Wut geführt ...
Allein der Maler saß und malt' und traf!
Besonnen brütet' er die Schandtat aus
Und gab das Kücklein in des Henkers Pflege,
Daß es im luftigen Käfig dort gedeihe,
Wo es von fremder Ehr' und Leben fraß ...[466]
Die Schandtat ist ein junges Huhn; gut. Es kommt in des Henkers Pflege – nicht gut. Es gibt sich kein Henker mit der Hühnerzucht ab, außer zu seinem häuslichen Bedarf; er nimmt keine Hühner in Kost gegen Bezahlung. Das Huhn gedeiht im luftigen Käfig. Es ist wahr, zweckmäßig ist, sie hoch zu stellen, damit sie der Marder nicht holt; aber wer hat je einen Hühnerkorb unter dem Galgen aufgehängt? Noch mehr, das Kücklein wird mit fremder Ehr' und Leben gefüttert, statt mit Gerste. Das ist unerhört. Oder ist es die Schandtat, die Ehre und Leben frißt? Aber dann muß ich meine Bemerkung, die ich oben bei der mit Reue trächtigen Wölfin gemacht, hier herabziehen. Ist die Schandtat einmal zum Kücklein geworden, so muß sie als Huhn leben und sterben und darf nie mehr wieder Schandtat werden.
Aber diese Kritik hat sich sehr ausgedehnt, daß ich die Leser bitten muß, zu ihren Anfangsworten noch einmal zurückzukehren.[467]
Buchempfehlung
Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.
62 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro