[237] Einige Stunden später fand sich die Familie des Doctor Brandeis friedlich vereint um den großen, viereckigen, nußbaumenen Eßtisch, dessen vier Seiten vollständig durch die Eltern und die sechs Kinder besetzt waren. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um die Vorfallenheiten des heutigen Actus und ward vorzugsweise zwischen Ludwig und den Eltern geführt, während die Jüngeren aufmerksam zuhörten. Der Vater gab wiederholt seine Zufriedenheit mit Ludwigs wohlgelungner Rede zu erkennen, was ein so strahlendes Lächeln auf dem Antlitz seiner Frau hervorrief, daß Ludwigs Augen sich unwillkürlich mit Thränen füllten, als er ihrem zärtlichen Mutterblick begegnete. Was hatte sie nicht schon gelitten, wie viel gebeten, wie viel vermittelt, um den heftig aufstrebenden Sohn und den strengen entschiedenen Vater gegenseitig in gutem Einvernehmen zu erhalten. Die Harmonie des heutigen Abends war ihrem Mutterherzen ein süßer, reicher Lohn, ein Moment, aus dem sie neue Kraft zu neuem unermüdlichen Wirken sog. – Nachdem der Tisch abgeräumt war, schob der Vater seinen Sessel[237] etwas zurück, setzte sich behaglich darin zurecht, zündete seine Pfeife an und überschaute mit zufriedenem Lächeln den frischen Kinderkranz. Es war dies die einzige Stunde des Tages, wo der fleißige, unermüdlich thätige Mann sich Ruhe und Erholung gönnte, und nicht leicht durfte eines der Kinder um diese Zeit an dem elterlichen Tische fehlen. Nur Ludwig ging gewöhnlich bald weg, um noch in seinem Zimmer zu arbeiten, aber dies war nicht blos ein Vorwand, um dann den Abend mit den Kameraden zuzubringen, sondern er arbeitete wirklich angestrengt, oft zu lange, was der Mutter oft bange Sorge bereitete. Am heutigen Abende blieb er natürlich da, und nachdem die Mutter eine große Schüssel voll Linsen auf den Tisch ausgeleert hatte, die ganze Gesellschaft einladend, sich an der Arbeit des Auslesens zu betheiligen, schob er seinen Stuhl zwischen die beiden jüngsten Schwestern und fing an eifrig auszulesen. Sein Beispiel bewog den 15jährigen Fritz, der noch zaudernd dasaß, gleichfalls an dem banausischen Geschäfte Theil zu nehmen. Als die verhängnißvolle Schüssel in der Ferne sichtbar ward, fing er bereits an, etwas von Horaz und Elendt-präpariren hinzumurmeln, nun jedoch hielt er es nicht mehr unter seiner Gymnasialschülerwürde, eine von Aschenbrödelchens Tauben vorzustellen – wobei er nicht ermangelte, mit scharfen Blicken die ausgelesenen Linsenhäufchen der Schwestern zu mustern, ob sich nicht etwa noch ein vergessenes Gersten- oder Wickenkorn darin finde, in dieser Weise vollständig den werdenden Sinn des Mannes bekundend, der selbst das ihm Fernliegende mit größerer Genauigkeit ausführt, als das Mädchen. Um so größere Freude gewährte es Ludwig, dem kleinen Pedanten gegenüber unvermerkt den reingelesenen Linsen der Schwesterchen wieder einen Theil des Ausgestoßenen einzuverleiben, was Fritz zu einer heftigen Anklage bei der Mutter reizte und die unschuldig Angegriffnen zu nicht minder lebhaften Vertheidigungen. Endlich verrieth sich der Uebelthäter[238] selbst durch sein lautes Gelächter, und obgleich die Mutter mißbilligend sagte: »Ludwig, du machst mir die Kinder noch ganz schlimm mit Deinem ewigen Necken«, schienen doch die Geneckten, nachdem sie erst wußten, woher der Streich kam, durchaus nicht beleidigt. Der Ludwig dürfte sie necken, nur vom Fritz könnten sie das Hofmeistern nicht leiden – so erklärten die beiden Gekränkten und begannen unverdrossen auf's Neue den Gersten- und Wickenkörnern den Krieg zu erklären. Der Vater hatte schmunzelnd den kleinen Vorgang mit angesehen, denn, abgesehen von der Neckerei, gab es kaum ein angenehmeres Bild für sein Auge, als wenn er seine ganze Familie, groß und klein, bei einer nützlichen Arbeit vereinigt erblickte. Seine eigne Jugend war erfüllt gewesen von Arbeit und Schaffen, an sich selbst hatte er den Werth erkannt, welcher für's ganze Leben daraus erwächst, wenn der Mensch, was auch später sein Beruf sei, schon frühe in practischer Thätigkeit geübt wird. So duldete er auch bei den Kindern nie ein faules Herumschlendern, auch das Kleinste mußte schon mit anpacken, wo es galt. Leider werden sie immer seltner, diese Familien, welche, den gebildeten Ständen angehörend und Bildung im vollsten Sinne pflegend, doch nicht blos den Mägden die materiellen Sorgen überlassen, sondern wo Mutter und Kinder vereint sich um eine Menge der täglichen Lebensbedürfnisse bemühen, und so die kleinen Hände von früh auf mit bauen lernen an dem Wohlstand des Hauses, der auch wirklich zum Theil ihrem kindlichen Fleiße zugeschrieben werden darf.
Noch einmal übersah der Vater lächelnd die emsigen Arbeiter, dann sagte er, nachdem er sich lange im Innern überlegt, ob er vor den Kindern davon sprechen solle, während doch zuletzt das Interesse an der Sache überwog: »Sag' einmal, Ludwig, hast Du nichts von Frankfurt gehört?«
Ludwig hob den Kopf, sah den Vater an und sagte: »Nein, Vater!«[239]
»Gewiß nicht?« fuhr Jener fort und blickte ihn fest an.
»Wahrhaftig nicht, aber was ist denn?« fragte er, nun seinerseits gespannt.
Der Vater sah sich noch einmal im Zimmer um, dann sprach er mit gedämpfter Stimme: »Ich habe es vorhin in der Stadt gehört, es soll gestern Abend Krawall in Frankfurt gewesen sein?«
»Krawall?« wiederholte Ludwig erstaunt, »haben sich die Bäcker und Metzger wieder einmal durchgeprügelt?
»Nein, die Sache ist schlimmer, Studenten wollten den Bundespalast und die Constablerwache stürmen, es soll eine Schildwache ermordet worden sein, Genaueres weiß man noch nicht.«
»Haben sie gesiegt?« rief Ludwig und sprang hoch von seinem Stuhle auf.
»Studentenkrawall«, wiederholte die Mutter, indem sie die fleißigen Hände sinken ließ und nach ihrem Manne umsah, der plötzlich in ganz verändertem Tone sagte:
»Ludwig, wie dumm, wie können sie gesiegt haben? Einfältige Bubenstreiche sind das, von Kindern, die nicht einmal überlegten, wie nahe die Bundesfestung ist; noch in der Nacht wurden Preußen und Oesterreicher von Mainz hinüber geschickt, um den Bundespalast zu schützen«.
Ludwig hatte sich wieder gesetzt und sah finster vor sich hin: »Freilich, es ist Unsinn, baarer Unsinn«, sagte er, »eine Handvoll Studenten gegen das brutale Soldatenvolk, das überall wie Pilze aus der Erde wächst; aber dem miserablen Bundestag mag das kleine Erdbeben doch wohl bekommen!«
»Ludwig, Ludwig«, sagte der Vater, »rede nicht so«.
»Was kann ich dazu, wenn es nun einmal so ist!« fuhr Ludwig dagegen auf.
»Du brauchst es nicht zu sagen«, antwortete der Vater heftig, »es ist schon schlimm genug, daß Du es denkst«.[240]
»Ach, streitet Euch nicht,« fiel die Mutter unruhig ein, »ich bin nur froh, daß wir den Ludwig noch in Sicherheit hier haben, daß er die Universität noch nicht bezogen hat. Gott, Kind, wenn Du mir je in eine solche Geschichte verstrickt würdest!«
»Sei ruhig, Mutter«, antwortete Ludwig sanft, »ich weiß, daß Verschwörungen nie etwas nützen; ich hasse die Tyrannei, aber ich werde mich doch nie in solche Dinge einlassen«.
»Du solltest mir auch nur mit derartigen Geschichten kommen«, begann der Vater wieder mit so heftig strengem Ton, daß Ludwig purpurroth ward und den Kopf wieder stolz zurückwarf, »was soll überhaupt das Gerede von Tyrannen? wenn man Dich hört, sollte man glauben, man wäre von lauter Despoten umringt und seines Lebens nicht sicher«.
So sprach derselbe Mann, der sich wenige Stunden vorher nicht genug an der Rede seines Sohnes erfreuen konnte, in welcher noch viel heftiger gegen die Tyrannei deklamirt wurde. Aber dabei handelte es sich freilich um römische Tyrannen und weit entlegene Zeiten – und wie sehr entschuldigte sein ängstliches Vaterherz diese Inconsequenz. Ludwig war eben trotz des Augenblinkens der Mutter im Begriff eine heftige Antwort zu geben, als zum Glück die kleine Sophie plötzlich mit lauter Stimme ausbrach: »Ludwig, was ist denn das, ein Krawall?« Sie hatte die ganze Zeit über das seltsame Wort nachgesonnen und sich endlich, da nichts dabei herauskam, an ihr nie fehlendes Conversations-Lexikon, an Ludwig, gewandt. Alle lachten, bis auf Fritz, der verächtlich ob des dummen Mädchens die Achseln zuckte und mit mathematischer Pünktlichkeit die ausgelesenen Körner in eine Düte für seine Vögel sammelte.
Ludwig nahm die Kleine auf den Schooß und sagte: »Wenn Du Dich des Morgens von Gustchen nicht ruhig anziehen lässest, Gustchen Dich bei der Mutter verklagt, die Mutter[241] Dich zankt, Gustchen Dich schilt, und Du weinst, das ist ein Krawall!«
Zum Erstenmal stiegen der Kleinen Zweifel gegen den Bruder auf, sie sagte kleinlaut: »Es ist nicht wahr, Du machst mich nur etwas weis, Mutter, sag' Du mir's«.
Aber ehe die Mutter antworten konnte, gab es ein großes Geräusch auf dem Vorplatz, und eine tiefe Männerstimme fragte hastig nach dem Doctor.
»Kreuzdonnerwetter«, sagte der Doctor und stellte seine Pfeife unsanft hin, »hat es denn heute noch keine Ruhe, ein Doctor ist doch der geplagteste Mensch auf Gottes Erdboden!«
In diesem Augenblick öffnete das Mädchen die Thüre, und ohne lange Umstände trat hinter ihr ein Polizeidiener herein.
»Guten Abend, Herr Doctor«, sagte der Mann athemlos, »kommen Sie doch gleich mit mir nach dem Hospital, es hat ein Unglück gegeben«.
»Nun, was ist's, Baumann«?
Baumann sah einen Moment über die Kinder hin, dann sagte er: »Nun, die ganze Stadt erfährt es doch. Sie wissen, es war gestern Krawall in Frankfurt; die ganze Stadt steckt voll Studenten, die sich nun heimlich davon zu machen suchen. Wir bekamen heute schon in aller Frühe Befehl, genau auf Alles zu spekuliren, was zum Thor hereinkommt; es hat sich aber nichts Verdächtiges gezeigt, bis vor einer Stunde droben am Gitterthor ein Bauernwagen hielt mit drei jungen Bürschchen darauf, die für diese Fahrgelegenheit viel zu fein aussahen. Daß sie am entgegensetzten Ende der Frankfurter Chaussee ankamen, konnte natürlich eine wohllöbliche Polizei nicht irre führen. Sie wurden scharf in's Verhör genommen, konnten sich nicht legitimiren, wurden arretirt und sollten für die Nacht auf die Thorwache gebracht werden. Sie machten höllisch verzweifelte Gesichter, als wir sie so in unsere Mitte nahmen, und zwei von ihnen, die wohl Brüder sein mögen, so ähnlich sind[242] sie sich, schlangen sich im Gehen einander die Arme um den Hals. Der Dritte, ein schlanker, schöner Mensch, ging ein wenig hinterdrein. Wir führten sie, weil es näher ist, durch den Schloßgarten, unter den hohen Bäumen war es ziemlich dunkel, auf einmal blitzt und knallt es, und im nächsten Augenblick fällt mir Einer von ihnen wie sterbend in den Arm«.
Ein lauter Schrei scholl von den Lippen der Kinder, die bisher in athemloser Spannung an den Lippen des Erzählenden gehangen hatten. Aus Ludwig's Brust quoll ein dumpfer Seufzer, indem er Gustchen's Hand ergriff, während sich ihre Augen mit Thränen füllten.
»Das ist ja eine entsetzliche Geschichte«, sagte die Mutter leise, und der Vater fragte: »Ist der Unglückliche todt?« »Es scheint nicht so«, fuhr der Angeredete unerschüttert fort, »er hat sich in die Brust geschossen, und ein Blutstrom schoß aus der Wunde. Einen Augenblick noch schlug er wie wüthend um sich, als ich ihn festhalten wollte, dann sank er nieder. Wir legten ihn auf den Rasen, und ein Theil unsrer Leute lief auf die Schloßwache nach einer Bahre, auf die wir den Ohnmächtigen legten. Dann trugen sie ihn nach dem Hospital, wo er jetzt schon sein wird, und ich lief hierher, um Sie zu holen. Kommen Sie nur schnell mit und vergessen Sie Ihre Instrumente nicht, denn er athmete noch leise, als wir ihn auf die Bahre hoben.«
»Und was thaten die beiden Andern?« fragte der Doctor, ganz erschüttert von dem Gehörten.
»Sie geberdeten sich wie unsinnig; sie hatten den Kopf ganz verloren und hätten uns während des Schreckens und der Verwirrung ganz gut durchgehen können, aber sie jammerten nur laut um den Kameraden. Einer von unseren Leuten meint, es müßten Söhne eines Herrn von H. aus W. sein; er hat Verwandte dort und kennt fast alle Leute, sie sehen sehr vornehm aus«.
»Es ist entsetzlich«, sagte der Doctor, »aber nun kommt,[243] Baumann, ich bin fertig«. Während des Gespräches hatte er sich mit Hülfe der Gattin angekleidet; während er jetzt den Hut aus ihren Händen nahm, sagte er: »Bleibst Du auf, Luise, bis ich wieder komme?«
»Gewiß«, antwortete sie, denn sie wußte, es war dem lebhaften Manne Bedürfniß, sich noch über das Erlebte auszusprechen, ehe er zur Ruhe ging.
Er entfernte sich, und eine Viertelstunde lang währte es wenigstens, bis die Mutter die Kinder bewegen konnte, sich zur Ruhe zu begeben. Was sie gehört, hatte sie in die lebhafteste Aufregung versetzt, wenn sie es auch nur halb begriffen. Was sie bis jetzt von derartigen Vorgängen gehört, bezog sich auf Leute niederen Standes, auf gemeine Verbrecher – Arretirung, Selbstmord, diese fürchterliche Vorstellung wußten sie sich nicht mit Studenten, d.h. mit Leuten ihres Standes, zusammenzureimen. Fritz weinte und sagte, er wolle die zwei gefangenen Brüder befreien, ein Verlangen, in welches die beiden kleinen Schwestern lebhaft einstimmten. Die Mutter hatte ihre liebe Noth, bis sie sie Alle ruhig in den Betten hatte; dann kehrte sie in das Wohnzimmer zurück. Dort saßen Ludwig und Gustchen dicht nebeneinander, Beide bleich und zitternd und erst ruhiger werdend, nachdem sie noch einmal mit der Mutter das ganze Ereigniß durchgesprochen hatten. –
»Was wohl der Doctor und seine Frau dazu sagen mögen!« fuhr Gustchen auf einmal heraus.
»Er macht vielleicht ein rührendes Gedicht darüber«, antwortete Ludwig spöttisch.
Was der Doctor und seine Frau zu dem ersten Theil der Begebenheit gesagt hatten, ist uns bekannt. Er dachte jetzt schon längst nicht mehr daran, sondern ging beim Lampenschein unruhig im Zimmer auf und ab, manchmal blieb er stehen und schrieb einige Worte auf ein Papier, das auf dem Tische lag, dann schritt er wieder leise vor sich hinmurmelnd weiter. Adolph[244] dichtete – seine Phantasie trug ihn weit fort nach Indien und mühte sich Bilder aufzufinden aus einer landschaftlichen Welt, die sein Auge nie geschaut, und wie er auch sann und träumte, immer wie der war es nur ein geliehenes Bild, ein Product seiner Studien, was sich ihm künstlich vor die Seele stellte. In gleicher Weise mühte sich sein Geist, die seltsam verschlungenen Versmaße der orientalischen Dichtung dem Gedanken und der Metapher anzupassen, die er sich endlich mühsam herausgeklaubt hatte. Es war in der That ein schweres Werk, und Charlotte mußte unwillkürlich seufzen, indem sie ihn beobachtete. So schwer hatte sie sich die Kunst des Dichtens nicht gedacht, nicht geahnt, daß die Inspiration der Stunde sich so bleischwer auf Apollo's Söhne legen könne und sie zu zermalmen drohe, statt sie auf leichter Schwinge emporzuheben. – Sie hatte sich niedergelegt, aber kein Schlaf sank auf ihr Auge, stundenlang sah sie durch die offene Thüre ihres Cabinets dem Arbeitenden zu, alle Zweifel, jede Sorge, jeden Kleinmuth, die den Schaffenden so oft unter der Arbeit beschleicht, durchlebte sie mit ihm, indem sie sich nur auf den Morgen freute, der ihr die Blüthe der Nacht duftend entgegentragen würde. Wohl bangte ihr, daß der Geliebte sich zu sehr ermüden möge, sie öffnete schon die Lippen, ihn mit sanfter Bitte zu bewegen, sich niederzulegen – aber durfte sie die heilige Stunde unterbrechen? Wenn ein Schatz gehoben wird, muß es nicht im tiefsten Schweigen geschehen? So schwieg sie und schaute, bis die Lampe immer düstrer brannte und die Uhr schon Mitternacht geschlagen hatte. Endlich hob Adolph das Blatt empor, um es durchzulesen; was da stand, war die mühsame Frucht schon mancher halbdurchwachten Nacht. Auf einmal schüttelte er das Haupt, faltete das Papier ganz klein zusammen und hielt es in das Licht der Lampe, nach einer Secunde lag es als Asche in Adolphs Hand. Er betrachtete sie einen Augenblick, dann blies er sie hinweg und sagte leise: »Es ist doch nur Flickwerk; meine Studien sind noch nicht tief genug;[245] die Gegenstände müssen mir erst objectiv werden.« Damit suchte er sein Lager auf, einen Blick auf Charlotte werfend, die, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, zu schlafen schien. In Wahrheit aber quoll ein heißer Thränenstrom aus ihren überwachten Augen! –
Es wurde noch später, bis endlich der Doctor erschöpft nach Hause kam. Es war ihm lieb, daß er die ältesten Kinder bei der Mutter wachend fand, obgleich er eigentlich nicht beabsichtigte, auch ihnen das Gesehene mitzutheilen. Schon wandte er sich nach kurzem Gruß nach seinem Zimmer, aber alle Augen hingen so fragend, so erwartungsvoll an seinen Lippen, daß er sich fast unwillkürlich in den Sessel niederließ, die Theilnahme der Seinigen zu befriedigen. Doch vergingen einige Minuten, ehe er zu sprechen anfing, bis endlich Gustchen, die nicht länger an sich halten konnte, in die Frage ausbrach: »Vater, lebt der arme Mensch noch?« »Nur Geduld«, war die Antwort, denn der Vater ließ sich nicht gerne direct fragen, »ich muß mich nur erst ein wenig erholen.« Endlich fing er an zu erzählen: »Der unglückliche Mensch lebt noch, aber ob wir ihn durchbringen werden, steht noch sehr dahin. Das ist ein ganz desperater Kerl, er hat mich halbtodt gemacht. Als ich in das Hospital kam, fand ich ihn bei Besinnung, aber während ich die Wunde untersuchte, ward er wieder ohnmächtig. Die Kugel steckt noch zwischen den Rippen, doch scheint es nicht, als ob edlere Theile verletzt wären. Er war zu schwach durch den starken Blutverlust, als daß ich es hätte wagen dürfen, die Kugel herauszuziehen; ich legte also den Verband an, dann trug man ihn in ein frisches Bett und rieb ihm die Stirne mit stärkendem Wasser, so daß er nach einiger Zeit die Augen wieder aufschlug und mit Verständniß um sich sah. Aber nie werde ich diesen Blick, in dem mit dem wiederkehrenden Bewußtsein auch die Erinnerung an das Geschehene sich immer deutlicher malte, vergessen. Auf einmal blickte er wild um sich, sein Blick fiel auf die Polizeisoldaten,[246] mit fast übermenschlicher Kraft schnellte er sich empor, riß, ehe wir's hindern konnten, den Verband los und sank dann gebrochenen Auges zurück, während ein neuer Blutstrom aus der Wunde schoß«.
Hier hielt der Doctor einen Augenblick bewegt inne, die Mutter und Gustchen schluchzten, Ludwig ging stürmisch im Zimmer auf und ab, vor sich hinmurmelnd: »Cato! Cato!« Der Doctor fuhr fort: »Mit unsäglicher Mühe gelang es mir, das Blut zu stillen und einen neuen Verband anzulegen, doch war der Arme mehr todt als lebend, als wir ihn endlich wieder ruhig hinbetteten.«
»Und hoffst Du ihn zu retten?« fragte die Doctorin.
Ihr Mann zuckte die Achseln: »Ich weiß es nicht, gesunde Jugendkraft vermag viel, aber jetzt ist er dem Tode näher als dem Leben. O, Gott, wie machen sich diese jungen Leute doch so unglücklich!«
»Hast Du nichts von den beiden andern gehört?« sagte Gustchen nach einer Pause schüchtern.
»Ja wohl«, lautete die Antwort, »in ihrer Bestürzung hatte sie die Wache gleichfalls in das Hospital geführt und in einem der unteren Zimmer eingeschlossen, bis sie dann später auf eines der Thorgefängnisse gebracht wurden. Es sind wirklich Brüder, zwei junge Adlige aus W. Die Frau des Portier erzählte mir, daß sie fortwährend einander in den Armen hielten und schluchzten und weinten, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Dazwischen jammerten sie um ihre arme Mutter, wie sich diese betrüben würde wegen ihres Schicksals. Mein Herz zitterte vor Schmerz, als die Frau es mir erzählte«.
»Ha«, rief Ludwig heftig, »Fluch über ein Regiment, das solche Opfer verlangt, solche Ausbrüche hervorruft!« Die Eltern und Gustchen fuhren erschrocken auf: »Ludwig!« bat die Mutter mit flehender Stimme, »Ludwig« warnte Gustchen erschrocken,[247] und »Ludwig« sagte der Vater mit strengem Ton, »Ludwig!« widerholte er noch ernster, »wie kannst Du ein so thörichtes Beginnen entschuldigen wollen? ich sage auch ›Fluch!‹, aber über Die, welche die übermüthige, unvernünftige Jugend zu solchen Thorheiten hindrängen, für die sie die Kastanien aus dem Feuer holen müssen!«
Ludwig sah mit verschränkten Armen finster vor sich hin: »Vater«, sagte er, »kannst Du Dir nicht denken, daß die Jugend aus eignem Antrieb die Partei des Rechts ergreift, daß sie in stolzem Muthe für die Freiheit in die Schranken tritt und ihr Herzblut dafür vergießt«.
»Du sprichst Unsinn«, rief der Vater heftig, »was soll das heißen, Freiheit, Recht, wer beeinträchtigt Deine Freiheit, wer nimmt Dir Dein Recht? Dumme Buben sind es, die selbst nicht wissen, was sie wollen. Komme mir nur nie mehr mit solchen Redensarten, ich will nicht hoffen, daß Du jemals Dich und Deine Eltern so unglücklich machst, wie diese verrückten Menschen, die ich da gesehen!«
Als Ludwig trotzig schwieg, stand der Vater auf und sagte: »Morgen reden wir weiter davon, der verfluchte Demagogenschwindel soll Dich nicht auch anstecken. Komm' Mutter, ich bin schrecklich müde, ich muß mich niederlegen!«
Eilends nahm die Mutter das Licht und ging dem Gatten voran, den Kindern »Gute Nacht!« zurufend. Als die Thüre sich hinter ihnen geschlossen, sagte Ludwig mit bittrem Lachen: »Siehst Du, Gustchen, am Nachmittag hat der Vater für meinen Cato geschwärmt, und nun ein wirklicher Cato ihm begegnet, hat er nichts als Scheltworte für ihn! Und so werden's alle Graubärte machen, die mich mit ihm bewundert, nur die Jugend kann sich noch für große Thaten und Gedanken begeistern!«
»Aber Ludwig«, sagte Gustchen, »thöricht scheint mir dieses Unternehmen doch auch gewesen zu sein!«
»Ich spreche nicht von dem Unternehmen«, sagte er, indem[248] sein Auge heller blitzte, »ich spreche von dem Gefühl, das sie überhaupt zu einer That begeisterte in unsrer thatenarmen Zeit. O, Gustchen«, fuhr er fort, die Schwester an sich ziehend, »Du bist zwar nur ein Mädchen, aber kannst Du es nicht empfinden, daß es groß und herrlich ist, für eine Idee zu leiden und selbst zu sterben? Dieser Student, der sich mit eigner Hand den Tod geben wollte, als er den Schergen der Gewalt verfiel, ist ein Märtyrer, ein wahrer Freiheitsheld!«
»Ja, das ist er«, antwortete Gustchen mit gehobener Stimme, »o, Ludwig, wenn wir ihn sehen, wenn wir etwas für ihn thun könnten!«
Fest umschlossen hielten sich die beiden Geschwister und sahen einander in die strahlenden Augen, in denen Thränen glänzten. Weit, weit hinter ihnen schien plötzlich die kleine Welt zu liegen, in der sie sich bis jetzt bewegt, in denen ihre Wünsche und Gedanken ihre Ziele fanden. Mit einem Schlage war die Welt der Wirklichkeit, der Contraste, des Kampfes vor ihnen aufgethan; das Leben sah sie an mit ernsten, gramerfüllten Zügen, aber ihre Phantasie, der hohe Schwung ihres reinen, naiven Gefühls wob einen Heiligenschein um die fremden Erscheinungen und zeigte ihnen diese Wirklichkeit in einem schönen, erhabenen, aber trügerischen Lichte. –
Buchempfehlung
Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«
52 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro