[249] Seit der französischen Revolution hatte sich eine trübe, sorgenschwere Zeit über Deutschland gelagert. Ein neuer Tag war im Anbrechen, aber statt der Morgenröthe führte er düstre Wolken, Sturm und Gewitter herauf. Es konnte nicht anders sein. Einem politisch völlig unentwickelten Volke standen eben so unreife, eben so wenig politisch gebildete Regierungen gegenüber. Als die schmachvolle Fremdherrschaft gebrochen war, als[249] das deutsche Volk, vornehmlich durch Englands Vorbild belehrt, sich daran erinnerte, daß es auch dereinst in grauer Vorzeit sein eigen Recht mit eigner Hand verwaltet, daß das uralte germanische Bewußtsein auf demokratischem Boden ruhte, da beanspruchte es als Lohn für seine Anstrengungen dem fremden Dränger gegenüber, wieder selbstständig Theil zu nehmen an seinen heiligsten Interessen, sich selbst zu regieren, nach selbst gegebenen Gesetzen. Aber Deutschland glich dem Kranken, der nach langem Siechthum den Gebrauch seiner Glieder verloren hat und sich erst nach und nach daran gewöhnen muß, sie wieder gebrauchen zu lernen. Was England besaß, die Möglichkeit einer gesunden zeitgemäßen Entwicklung auf rechtlicher Grundlage, das lag noch wie eine ferne, ferne Insel weit weg, und nannte auch der Deutsche mit stolzem Muthe die Flaggen, welche sein Schiff bewimpelten: »Verfassung, freie Presse, Schwurgericht«, so waren dies trotz aller schönrednerischen Versprechungen nichts als Worte, Worte, deren eigentlichen Sinn nur die Wenigsten verstanden. Regierende wie Regierte waren gleich unfähig, den schönen Traum schnell zur Erfüllung zu bringen; wohl lag viel an der Böswilligkeit der Ersteren, aber nicht Alles, eben so viel an ihrer eignen politischen Unreife. Wie konnte ein im Amt ergrauter geheimer Richter sich nur denken, in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung mitzuwirken? wie konnte ein Minister sich nur bis zu der Vorstellung erheben, einer Kammer Rechenschaft über sein Thun abzulegen? wie konnte einer der Staatsmandarinen, und hätte er auch erst in dreißig Jahren die Pfauenfeder zu erwarten gehabt, sich eine öffentliche, gedruckte Kritik seines Verhaltens gefallen lassen mögen? Der damalige Polizeistaat war gewiß noch mehr das Product der Unwissenheit, der Unbildung, der kindischen Furcht vor den Studirten, als der persönlichen Böswilligkeit der Fürsten. Dieses ganze, unter der Knechtschaft erzeugte und erzogene Geschlecht konnte sich nicht an den scharfen Luftzug der freien Bewegung gewöhnen, es[250] war mehr dumm als böse. Nicht minder versunken und blöde waren Bürger und Bauern, wenige kleine Landestheile ausgenommen. Kaum fing der vierte Stand an sich von den Wunden des Krieges etwas zu erholen, und nur beschäftigt mit seiner materiellen Wohlfahrt, kam es ihm nicht in den Sinn, sich um die geistigen Güter, die er der Nation sollte erringen helfen, zu kümmern. Das Gesetz galt ihnen nur als eine Nothwehr gegen Den, der sie etwa in ihrem nächsten Rechte kränken würde, gegen den Dieb und Mörder; von seiner hohen Bedeutung, seiner sittlichenden Kraft, die es ausübt, wo der freie Mann es selbst übt und durch seine Vertreter mitüberwacht, hatten sie kaum eine Ahnung. Nur soviel war ihnen als dunkle Tradition der Leiden des 18. Jahrhunderts geblieben, daß alles, was Regierung hieß, ihnen mehr als Feind, wie als Freund gegenüber stand; und wenn sie einen Hauch von Freiheit spürten, so benutzten sie ihn höchstens, hie und da ihrem Haß gegen die nächsten Dränger, den Kreis- oder Landrath Luft zu geben; aber was sie dabei von Beschwerden gegen die Fürsten selbst vorbrachten, waren nicht mehr als allgemeine, landläufige Phrasen. Aus diesem Chaos der Elemente erhob sich allerdings eine kleine intelligente Minorität, die mit tiefem Schmerz die Kluft betrachtete, welche die alte Zeit von der neuen schied. Wer sollte da hinüber helfen mit kühnem Sprunge? Worte allein thaten es nicht, aber nur Worte hatten sie, und selbst diese nicht mehr, als das freie Wort mehr als je durch die Bundestagsbeschlüsse von 1832 geknebelt war. Wohl nur den wenigsten der Männer, die man in jener Zeit halb verächtlich mit dem Namen: Demagogen oder die Schwarzen! bezeichnete, war es nicht bewußt, daß die halbe Schuld der trüben Zeit an dem Volke selbst lag, daß man vorerst dieses Volk selbst zur Freiheit hätte heranbilden müssen, aber wo fanden sie die Mittel hierzu? Die Presse war geknebelt, der Lehrerstand, aus dem, zu seiner Ehre sei es gesagt, nicht ein geringer Theil jenes intelligenten[251] und vorwärts treibenden Häufleins bestand, streng bewacht. Das Lehren der deutschen Geschichte in den Anstalten war verpönt, das Andenken der Jahre 1813 und 1814 suchte man so viel als möglich auszulöschen; selbst solche Bücher, welche die Befreiung Deutschlands vom Römerjoche erzählten, welche der deutschen Jugend den deutschen Heroen Hermann vorführten, wurden nur heimlich gelesen.
Der Sinn der Jugend wurde von dem Vaterländischen abgelenkt und in die klassische Zeit zurückgeführt, Griechisch und Latein sollten sie lernen, aber kein Deutsch.
Aber des Geistes einer Zeit läßt sich nicht spotten. Die meisten Männer, welche an Gymnasien und Universitäten lehrten, waren Zeitgenossen Herder's, Schiller's und Göthe's gewesen, in ihnen pulste noch ein Nachhall von dem Aufschwung des poetischen Geistes in Deutschland; sie maßen und zählten mit ihren Schülern nicht bloß Silben, sie führten sie auch in den Geist jener alten Literaturen und damit in den Geist der Völker ein, die sie erzeugt hatten. Zu diesen Anschauungen gesellte sich, bald schön belebend, bald wie ein feines Gift den Geist durchdringend, je nach der natürlichen Anlage der Einzelnen, der romantische Geist, welcher noch im vollsten Nachhall um jene Zeit Deutschland durchzog. Göthe war dem Tode nah, um Tieck's jüngere Gestalt gruppirte sich der Rest. Was der Geist in dem grauen Alterthum Großes und Herrliches geschaut, wollte der romantische Sinn dieser Jünglinge erleben, wollte es der Wirklichkeit einverleiben. Die Brust von klassischen Idealen erfüllt, das Herz von trunkner Schwärmerei gehoben, so traten sie der kalten, grauen Wirklichkeit entgegen. Zu jeder Zeit war es die schwärmende, die enthusiastische Jugend, welche, sich selbstvergessend, wie im Spiele Blut und Leben für einen höheren Zweck zu opfern am geneigtesten war. Als Roms Erde sich spaltete und das Orakel zur Sühne für den zürnenden Gott das Edelste der Stadt verlangte, da war es kein Mann,[252] kein Greis, sondern ein Jüngling war es, der im vollen Waffenschmuck sich ohne Besinnen hinabstürzte, und über ihm schloß sich der gähnende Schlund. Aehnlich lagen die Verhältnisse in Deutschland. Es bedurfte einer That, um das Volk aus seiner Lethargie aufzurütteln, und wäre diese That auch noch so tollkühn, noch so unüberlegt gewesen. Anders lassen sich wohl die gebrandmarkten, die viel und mit Recht geschmähten Vorfälle in Frankfurt nicht deuten. Die eigentlichen Leiter jener Bewegung, die im Dunklen blieben, können unmöglich an ein augenblickliches Gelingen ihrer Pläne gedacht haben; sie wollten nur erschüttern, wollten mit einem Schlag das Bewußtsein des Volkes auf jenen Punkt lenken, von welchem aus sich das Verderben über Deutschland auszuspannen schien und zum Theil auch wirklich ausspann. Ihre Rekruten suchten und fanden sie auf den deutschen Universitäten, unter der intelligentesten Jugend eines jeden deutschen Stammes. Der Schlag, der in Frankfurt geführt werden sollte, bezog sich nicht auf einzelne Theile des Vaterlandes, er hatte das Ganze im Auge, es war das erste Zucken jener Bewegung, deren Oscillationen seitdem beständig stärker und heftiger das deutsche Volk bewegen, der Zug nach endlichem Zustandekommen »deutscher Einheit«. In diesem Sinne darf man das Unternehmen, wie toll es auch aussah, wie kindisch oder vielmehr wie naiv es auch ausgeführt wurde, doch nie genielos nennen. Die Regierungen fühlten dies auch tiefer, als das Volk, selbst der gebildete Theil desselben. Man begriff nicht die Anstrengungen, welche man machte, eine Handvoll junger Leute in seine Gewalt zu bekommen, man verdammte die Animosität, die Härte, welche sich gegen die Gefangenen kund gab – man kann es heute nur entschuldigen mit dem Instinkt der Angegriffenen, die es unabweislich fühlten, daß der erste Schlag der Axt ihren morschen Lebensbaum getroffen hatte. Sie, die jungen Sturmvögel der Freiheit, sie mußten freilich untergehen, und nur den Wenigsten war es vergönnt,[253] das Ende dieser und nachfolgender Bestrebungen zu erleben. Man hat sie vielfach geschmäht, vielfach gescholten, man hat vergessen, daß es ein Anderes ist, ob eine übermüthige Jugend sich unberufenerweise das Recht anmaßt, die Welt in Verwirrung zu stürzen, oder ob Das, was sie that, nur der erste Ring einer Kette von Ereignissen bildete, die sich folgerecht aus den Verhältnissen entwickeln mußte und die früher oder später jenes Gelingen krönen wird und muß, das wir als das Fortschreiten des National- und Weltgeistes erkennen und bezeichnen.
Darum lenkt der Dichter gerne den Blick zurück auf diese Anfänge großer geschichtlicher Entwicklungen, darum sucht er gerne die edlen Impulse auf, die eine undankbare Nachwelt so gerne als Thorheit brandmarkt. Wir preisen andre Völker ob ihres politischen Märtyrerthums, wir sehen bewundernd auf die polnischen und italienischen Frauen und vergessen, wie viel schon deutsche Mütter, deutsche Schwestern und Bräute für die Freiheit gelitten, welche Thränensaat ausgestreut wurde in jenen Jahren der Verfolgung, der unerbittlichsten Strafen, der grausamsten Härte gegen Deutschlands aufstrebende Söhne. –
Wir kehren zu unsrer Erzählung, zu dem bis dahin friedlichen Familienkreise des Doctor Brandeis zurück. Was ganz Deutschland emporschreckte, das plötzliche Ereigniß, dies flog wie ein zündender Funke in die jugendlichen Gemüther. Was wußten sie freilich, Ludwig ausgenommen, vom Bundestag und den deutschen Verhältnissen? Was sie beschäftigte, was ihnen die Sache zu unendlicher Wichtigkeit erhob und sie viel länger beschäftigte, als dies sonst möglich gewesen wäre, das war die greifbare Gestalt des »verwundeten Studenten«, durch ihn fingen sie bis zum Jüngsten herab plötzlich an, sich für Dinge zu interessiren, die sonst dem Kinde fern liegen. Sie wollten wissen, warum der arme Mensch sich in die Brust geschossen, sie ballten die kleinen Hände, als Gustchen ihnen erklärte, er habe sich für die Freiheit geopfert, etwa wie Tell dem Geßler[254] gegenüber, und nun wußten sie genug. Es ist ein wunderbarer Klang in diesem Worte »Freiheit«! Selbst Die, welche es nie in seiner allgemeinsten Bedeutung begreifen, treibt es zur Schwärmerei, und selbst der Roheste, in dessen Brust nicht jeder Funke für etwas Höheres erloschen ist, fühlt sich bei dessen Nennung von einem unbestimmten Drange erhoben und begeistert. So ging es den vier jüngeren Kindern des Doctors unbewußt, so seinen beiden Aeltesten mit Bewußtsein. Sie konnten es alle kaum erwarten, bis Nachmittags der Vater nach Hause kam, bis sie hörten, wie es dem Fremden ging, und sie waren entzückt, als der Vater ihnen endlich sagte, er hoffe, ihn dem Leben zu erhalten; ihrem heitren Sinne erschien das Leben noch als der Güter Höchstes. Die Mutter bemühte sich, so viel an ihr war, die unruhige Schaar zu dämpfen, sie auf ihre Schul-Arbeiten und Kinderspiele zurückzuverweisen, aber kaum war der Eindruck etwas verblaßt, so frischte ein neues Ereigniß ihn wieder auf.
Kaum waren drei Tage nach dem verhängnißvollen Abend verflossen, als abermals ein Diener der heiligen Hermandad, Herr Urhahn, erschien und den Doctor aufsuchte. Er war nicht zu Hause, und als ihn Frau Brandeis fragte, um was es sich handle, und wo ihr Mann zu finden sei, entdeckte er ihr endlich geheimnißvoll, daß der Herr Polizeiwachtmeister sich vor einer Stunde in den »Tümpel«, einen großen Teich vor der Stadt, gestürzt habe, um sich zu ertränken. Die Doctorin und die Kinder, welche, es war ein Sonntag Nachmittag, um die Mutter versammelt waren, schrieen laut auf, der Mann beruhigte sie aber damit, daß der Herr Wachtmeister noch zeitig genug gerettet worden sei und gegenwärtig bereits in seinem Bette liege, wo ihm jedoch ärztliche Hülfe dringend vonnöthen sei.
»Aber mein Gott«, sagte Frau Brandeis, »was ist dem Mann nur eingefallen? Seine Frau mag schön erschrocken sein, und was wird die Tante dazu sagen?«[255]
»Da hat nun die gute Frau einmal Ursache wirklich betrübt zu sein«, sagte Ludwig spottend, »das Unglück hat ihr gewiß auch vorher geahnt«. Die Mutter blinkte ihm zu, aber der Polizei-Mann der den Spott nicht merkte, was nicht zu verwundern, da man noch nie gehört, daß die Polizei zum Humor geneigt, antwortete ernsthaft, indem er seinen Schnurrbart drehte: »In der That, es hat der Frau Wachtmeisterin geahnt; sie hatte in Voraussicht des Unglücks eine Spielparthie zum Kaffee eingeladen, und so war sie doch nicht allein, als ihr der Mann triefend und halb todt in's Haus gebracht wurde«.
»Nun, das ist gut«, sagte die Doctorin, »aber weiß man nicht, was den Mann dazu antrieb?«
»Was sonst«, antwortete Herr Urhahn mit schneidendem Hohn, »als diese verfluchte Demagogengeschichte, diese Schwarzen mit ihrem Frankfurter Attentat. Man hat den Mann auf's schrecklichste in seiner Dienstehre gekränkt – aber ich darf weiter nichts sagen. Guten Tag Frau Doctorin, ich gehe den Herrn Doctor aufzusuchen«. Damit grüßte er mit militärischer Haltung und ging, die Uebrigen in gespannter Erwartung und sich in Vermuthungen erschöpfend, zurücklassend. –
Buchempfehlung
Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.
88 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro