Hugo Ball

An unsere Freunde und Kameraden

[254] Schon vernimmt man das Wort Evolution. Schon versucht man die Revolution zu vertagen. Die Mehrheitssozialisten, die noch immer an die Wiederherstellung des Exporthandels glauben, betreiben weiter ihren Staats- und Wirtschaftszentralismus, die Flickarbeit im alten System. Sie hoffen, mit Hilfe Preußens die Unruhen im Innern zu ersticken; durch einen Feldzug gegen die russischen Bolschewiki sich die Welt zu verpflichten, und aus Dank dafür, unter Verzicht auf die Erörterung der Kriegsschuld, in den Völkerbund aufgenommen zu werden.

Man gebe diesen faulen Köpfen nicht Gehör. Der Weltmarkt ist für Deutschland verdorben. Die entschlossenste Dezentralisation ist am Platze. Auflösung Preußens. Wiederherstellung der Moral, gerechtere Verteilung des Großgrundbesitzes unter Begünstigung der Bauernschaft gegenüber der Fabrik. Vereitelung jeglichen militärischen Planes, ob derselbe sich in Form eines Polizeiheeres oder einer Schutztruppe gegen den Bolschewismus anbietet. Unterstützung Bayerns und aller Art separatistischer Strömung.

Was war das am 9. November? Ein Generalstreik der Soldateska. Die alte Maschine blieb plötzlich stehen, die überhitzten Zylinder platzten. Der deutsche Soldat wollte nicht mehr. Der militärische Apparat hatte sich übernommen. Der deutsche Soldat streikte. Schlechte Löhnung, schlechtes Essen und Strapazen Tag und Nacht, – es war ihm zu viel. Von Ideen keine Spur. Der Soldat war im Gegenteil überfüttert mit alldeutscher Literatur. Er wollte im Grunde nur – bessere Arbeitsbedingungen. Die Niederlage half nach. Eine ganz unglaubliche Niederlage. So etwas von Niederlage gab es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht.

Der deutsche Soldat kam streikend zurück in die Heimat und fand – Leute, die rote Fahnen schwenkten und »Revolution« schrien, während tatsächlich nur die Maschine stehengeblieben war. Die hohen und allerhöchsten Herrschaften aber schlotterten, flüchteten, dankten ab, eiliger als man es von ihnen[254] verlangte. »Bolschewismus« fürchteten sie. Auch die Bürger. Sie fühlten sich schon an die Wand gestellt. Ihr schlechtes Gewissen täuschte sie. Die Verschlagensten aber setzten Stellvertreter ein, die den harmlosen Hintergrund der Quasi-Revolution sehr rasch durchschauten und den Kurswert des Revolutionsgeschreis richtig zu handhaben wußten. Brachte man erst dem Ausland den Glauben bei, was da vorging, sei echt, so würde man mit der Revolution schon fertig werden. Man brauchte also eine Bewegung, die vor allem selbst sich für eine Revolution hielt. Die Presse sorgte für »Blut- und Gewalttat«, für Plünderungen, wenn sie die auch aus der Luft griff. Karriere machte die Partei jener Mehr- oder Mindersozialisten, die den Sozialismus zwar im Programm hatten, über die Demokratie aber im Unklaren waren.

Revolutionäre wurden gesucht zwecks Abschluß eines vorteilhaften Friedens. Programm: je konfuser, desto besser. Es meldete sich – die frumbe teutsche Sozialdemokratie, als welche Reverenzen vorzeigen konnte über erfolgreiche Jahrzehnte eines sogenannten Kampfes gegen den »internationalen Kapitalismus«. Die höchst nationale Junkerschaft, samt der höchst ehrenwerten nationalen Kapitalistenclique, samt einer reichlich verwilderten »Intelligenz«, hatte ihre Freude dran. Doch das Problem blieb bestehen: Was fängt man mit den Soldaten an? Die ganze Nation ist Soldat, die ganze Wirt- und Wissenschaft Militärdienst. Was macht man damit? Man muß neue Arbeit schaffen, dekretierte Berlin. Etwa einen kleinen Spartakus-Aufstand. Man provozierte ihn und rächte sich für die Niederlage. Aber das reichte nicht aus. Das genügte nicht. Die Lohnfrage des Soldatenstandes verlangte ein größeres Absatzgebiet für Kriegsarbeit, als die Stadt Berlin es ist. Etwa eine Freiwilligenarmee gegen Rußland. Milderung des Arbeitsverhältnisses, 5 Mark Handgeld, bessere Verpflegung. »Grenzschutz Ost, zur Verteidigung der Kultur des Abendlandes«. Preußen bietet den westlichen Demokratien seinen Militarismus im Ramschausverkauf als Schweizergarde und Henker an. Leider nur – Frankreich verzichtet. Frankreich lehnt ab und fordert Einstellung der Feindseligkeiten, Aufhebung der famosen Ostarmee. Was jetzt?

Jetzt erst beginnt die wirkliche Revolution. Eisners Idee wird[255] aktuell, erst jetzt. Eisner als Erster und Einziger hatte in Deutschland begriffen, worum es sich handle; daß eine moderne deutsche Revolution um andere Dinge zu gehen habe als um den »internationalen Kapitalismus«, als um Arbeiter- und Soldatenlöhne. Daß es sich handle: um die Weltrevolution gegen Deutschland.

Außerhalb Deutschlands hatten diesen Standpunkt längst Männer vertreten, deren Namen nicht oft genug von uns und von euch, Kameraden, genannt werden können. Männer wie Dr. R. Grelling, Konsul Dr. Hans Schlieben, Prof. F. W. Förster, Dr. W. Muehlon, die eigentlichen Führer der beginnenden deutschen Revolution. Führer zu einem neuen, modernen, anständigen, aufrichtigen Deutschland. Zu einer vertrauenswürdigen, geistigen und begeisterten Nation, die nicht mehr an Waffen und Prügel glaubt, sondern an Liebe und Mitleid, nicht mehr an Presse und Titel, sondern an Beichte und Sühne, und an Vergebung der Schuld.

Ah, das ist es? Diese Revolution geht um die Frage der Schuld am Kriege. Man kann es nicht oft genug sagen. Man lasse den Vergleich mit 1789 beiseite. Er hinkt. Man halte sich an die Tatsachen. Deutschland hat mutwillig und ohne die Niederlage für möglich zu halten den Krieg entfesselt. Deutschland hat endlosen Jammer über die Menschheit gebracht. Deutsche Staatsmänner haben verantwortlich dafür gezeichnet. Das ganze Volk wird mitschuldig, wenn es sie nicht zur Rechenschaft zieht. Sie müssen prozessiert, bestraft und geächtet werden. Es wird sich dabei ergeben, wer die Helfershelfer waren. Man wird auf die Junker und die Finanzräte stoßen, und auf die Intelligenz, das System. Man wird von den Personen auf die Sachen kommen. So, und nur so wird man ausmerzen: Deutschlands Rückständigkeit, seine Unwissenheit, seinen Hochmut. Deutschlands Messianismus (sein Judentum, sagte ich anderswo, ohne die Brüder Juden, die hierin meiner Ansicht sind, verletzen zu wollen), Deutschlands Glaube an Fetisch und Formel und an Begriffe, statt an verantwortliche Personen.

Eisner sah das. Eisner allein in Deutschland. Das Mittelalter, der faustische Wust ist unsere historische Schuld. Diese Scholastik, Bombastik, die Schlafsucht ganzer Jahrhunderte. Diese Begriffshegelei, dieser Macchiavellismus aller Parteien, die[256] heute, trotz Wilson, noch glauben, Politik sei die Kunst, unnachahmlich zu lügen. Eisner war es allein, der den Feind nur im Lande suchte, nicht draußen. Sein Ende ist deshalb erschütternder, edler sein Opfer, als das der Liebknecht und Luxemburg. Und wieder erfuhr man: Lärm ist erlaubt. Doch wer da in Deutschland die Realität angreift, den zerreißt dieses Volk.

Dies letzte Attentat mehr als die beiden ersten beleuchtete blitzartig die ganze Verdorbenheit und Apathie. Beleuchtete aber auch den Weg, der gegangen werden muß, und auf den es unsere Jugend drängt. Was gehen uns die Splitter im fremden Auge an! Beseitigen wir die Balken und Holzhandlungen im eigenen Auge! Kein Internationalismus tut es. Keine anationale Sozialistenpartei, Franz Pfempfert. Bleiben wir bei uns selbst, bei der Sache. Ein tausendjähriger Augiasstall ist zu säubern. Wir müssen die Fäulnis abschaben, bis wir den Knochen treffen. Lieber zu viel, als zu wenig. Mit jedem Schritt zur eigenen Freiheit kommen wir näher der Menschheit. Durch die Nation, nicht um die Nation herum. Da hindurch müssen wir, wo die Wölfe am lautesten heulen.

An die moralischen Führer der freien Völker aber wenden wir uns: Zeigen Sie uns – wir beschwören Sie! – Ihre Sympathie. Helfen Sie uns, indem Sie unsere moralischen Führer namentlich anerkennen und deren Ermordung nicht dulden. Es steht in Ihrer Macht, uns zu helfen. Geben Sie aller Welt zu verstehen, daß Männer, deren reine Gesinnung Ihnen bekannt, deren Namen Ihnen geläufiger sind als – infolge Zensur und Verleumdung – unserem eigenen Volke, nicht deshalb zum Scheitern verurteilt sind, weil auch sie Ihnen keine Garantie zu bieten scheinen.[257]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 254-258.
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