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Es ist ein Vorurteil der Marxisten im allgemeinen und der Bolschewiki im besonderen, daß sie sich für die eigentlichen, die radikalsten, die non plus ultra-Revolutionäre halten. Sie haben dies Vorurteil von Karl Marx übernommen, der sich – wenigstens in seiner Jugend und vor 1870 – in Radikalität geradezu überbot. Radikal sein hieß in den Studentenjahren des Karl Marx Atheist und Materialist par excellence, Immoralist aber aus Instinkt sein. Marx fühlte sich besonders der »Bourgeoisie« überlegen. Er ging soweit, an die moralischen Weltordnungen der deutschen Katheder nicht mehr zu glauben, Moral und Religion als bürgerliche Ideologie zu verabschieden und dem protestantischen Professoren-Idealismus als neue Realität die proletarische Revolte gegenüberzustellen, deren Führer er in Paris, Brüssel und London kennenlernte.
Der Begriff Bürger wird bei Marx selten klar präzisiert. Ursprünglich meinte er wohl den Philister unter der romantischen Regierung Friedrich Wilhelms IV. Die französischen Sozialisten, Proudhons Kritik des Eigentums insbesondere, lassen ihn Bürger und Eigentümer identifizieren: Bourgeois ist von jetzt an für Marx der Groß- oder Kleinbesitzer, der Rentenspießer, und jeder, der die materiellen oder intellektuellen Geschäfte dieser »Geldsack«-Bourgeoisie besorgt oder fördert, vorzüglich, wenn es mit ausgiebigem privatem Nutzen geschieht. Es wird Marxens Spott, die Bourgeoisie bis in die demokratische Idee hinein zu verfolgen, und sogar Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Menschenrechte und die sozialen Prinzipien des Christentums zur bourgeoisen Ideologie zu rechnen. Auch Feuerbach ist jetzt ein Bourgeois. Franz Mehring nennt Schopenhauer einen Bourgeois, Herr Lenin nennt alle Welt Bourgeois, sich selbst aber einen »revolutionären Marxisten«.
Die Vertreter dieser »Ideologie« gehen samt und sonders von einer merkwürdigen Überschätzung der Gebrauchsgegenstände, der Barzahlung und der Materialien aus; was übrigens eine[250] Erklärung dafür ist, weshalb der Marxismus besonders auf das jüdische Gemüt eine so frappante Anziehung ausübt. Die Liste der jüdischen Marxisten in Rußland ist oft und über Gebühr von Antisemiten aufgelegt worden. Auch in Deutschland zieht die Wirtschaftsrebellion mehr und mehr das Judentum in seinen Bann. Persönliche Überraschung war mir, neuerdings auch die Herren Carl Sternheim (den Komödiendichter) und Wilhelm Herzog auf der Seite des »gestürzten« Militarismus und der »Weltrevolution« zu finden.
Die Vertreter des Dogmas von der alleinseligmachenden Wirtschaftsrebellion überschätzen den Besitz, und den Genuß. Sie wollen die komplette Sozialisierung und kommen dabei zu kompletten Vierzimmereinrichtungen, Warmwasserversorgung und Zentralheizung. Warum nicht? Wenn es solch praktische Dinge gibt, warum soll sie nicht jedermann haben? Der Appetit ist die natürlichste Sache von der Welt. Nur hat sich mittlerweile begeben, daß die »Bourgeoisie« aus sich selbst heraus, nicht aus dem Proletariat, Philosophien erdacht hat, die gerade, als das Proletariat anrückte, den Verzicht auf den Besitz postulierten: etwa der »Bourgeois« Schopenhauer, oder der »Bourgeois« Mazzini, oder der »Bourgeois« Tolstoi, und hundert andere Bourgeois aller Länder, in denen die Mönchstradition und der Katholizismus nicht ausstarben. Und es hat sich ergeben, daß sich im »kapitalistischsten Lande der Welt«, in den Vereinigten Staaten, sogar das leitende Staatsoberhaupt in diesem Geiste erhob und den Ausgang des Weltkrieges sehr wesentlich beeinflußt hat. Die deutschen Bolschewiki finden sein Programm »gutbürgerlich«, so wie man von einem gutbürgerlichen Mittagstisch spricht. Sie vergessen aber, daß dieses Programm berufen scheint, durch Errichtung des Völkerbundes und Einsetzung von moralischen Garantien den nationalen Egoismus und die Verwilderung der staatlichen Energien für alle Zeiten zu bändigen.
Die Marxisten unterschätzen die persönliche und nationale Schuldfrage. Sie kennen nur eine Schuld von Institutionen, als ob es nicht Personen wären, die alle Institutionen geschaffen oder verschuldet haben. Sie kennen nur die kollektive Verantwortung, die Verantwortung der Partei und Begriffe. Die englische Verfassung bestimmt: wer sich als Staatsmann ein[251] Vergehen gegen das Volkswohl zuschulden kommen läßt, haftet mit Ehre und Vermögen. Könnte man die deutschen Gaue dazu bringen, auf der Nationalversammlung die Verantwortung aller Staatsbürger für volksfeindliche Handlungen zu statuieren und mit einem entsprechenden Gesetzparagraphen die Rückwirkung auf die letzten zehn Jahre vor Kriegsausbruch zu sichern, – man hätte den Sozialismus, die Moral, eine gesäuberte Presse, eine anständige Finanz, keinen preußischen Generalstab mehr und keine Mehrheits-»Sozialisten«. Aber es ist marxistische Parteidoktrin, daß der Sozialismus auf dem Wege der generellen Zwangsenteignung durchgeführt wird. Und es ist marxistische Doktrin, daß »das Kapital« aller Länder gleich egoistisch, gleich verworfen, gleich reaktionär und gleich »schuldig« ist. Die Doktrin macht nicht einmal den Unterschied zwischen rechtmäßig und unrechtmäßig erworbenem Eigentum. Sie negiert den Begriff Eigentum, als sei die Parodie auf den christlichen Kommunismus, die dieser Zwitter aus Evangelium und Robespierre darstellt, nicht die Verplattung, sondern die Heilswahrheit selbst.
Der Marxismus verkennt vor allem die intellektuelle Geschichte seines Heimatlandes – Deutschlands. Er verkennt die ungeheure Macht der deutschen Staatsidee, deren theologischen, militärischen und bürokratischen Voraussetzungen ein System nicht gewachsen ist, das zwei Drittel seiner Überzeugungen von ihr bezog. Die Internationale ist eine schöne Sache für Völker, die sich das leisten können. Deutschland war niemals als Nation so weit durchgebildet, daß breite Volksschichten reif waren für die Internationale, denn zur Internationale gehört doch wohl in erster Linie liebendes Verständnis, nicht nur für den fremden Kaliko und die fremde Hemdenfabrikation, sondern auch für den fremden Idealismus und die fremde Denkart. Man hatte in Deutschland den Begriff der Nation kräftig exaltiert, aber stets nur im egoistischen Sinne. Von Luther bis Bismarck: die Nationalisten waren Protestanten, die sich von allen kollektiven, universalen Verbindlichkeiten absolvierten. Das Humanitätsideal im achtzehnten Jahrhundert war ein Sport epigonischer Duodezfürsten, die Frankreich um seinen Kosmopolitismus beneideten. Die Universalideen der Romantiker gelangten aus der Poesie kaum in die Prosa, und aus dieser noch weniger[252] in die Politik. Die Internationale Marxens entspringt, wenn man sie überhaupt einen deutschen Gedanken nennen kann, der Desperation eines Patrioten, der Deutschland, als er nach Paris kam, keineswegs auf der Höhe der westlichen Kulturvölker sah, und der in der Idee der Internationale alles zu gewinnen, nichts aber zu verlieren hatte.
Die Prinzipien der moralischen Revolution werden sich von den proletarischen Zwischenspielen in Rußland und Deutschland nicht erschüttern lassen. Die Revolution tagt in Versailles, nicht in Moskau oder Berlin. Der moralischen Revolution bedarf das Proletariat tausendjähriger Theokratien dringender als der Wirtschaftsrevolte. Einer der wichtigsten Programmpunkte der moralischen Revolution ist die Überzeugung, nicht daß das Proletariat zur Besitzergreifung der politischen Macht fähig ist, sondern daß ihm zu seiner wahren Emanzipation geholfen werden muß. Zu Beginn der sozialen Revolution glaubte man, das Proletariat sei fähig, aus sich selbst heraus neue Formen der Politik zu schaffen. Diese tief humane Überzeugung von Männern aus der Bourgeoisie und dem Adel hat sich als trügerisch erwiesen. Gerade Marx war es, der die ideelle Emanzipation zugunsten der ökonomischen verabschiedet hat. Klassenbewußtes Proletariat ist ein Unding. Der entrechtete, unterernährte, aller Hilfsmittel beraubte Mensch ist unfähig, sich selbst zu helfen. Er braucht nicht nur wohlmeinende Anwälte, er braucht auch den guten Willen derer, die ihr Gewissen verhindert, Unrecht zu dulden. Die Beseitigung der Gewalt und der Willkürherrschaft mag nicht nur auf militärischem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiete erfolgen. Es ist nötig, die Sozietät vor einem Primitivismus zu schützen, der den Sturz der traditionellen Moralbegriffe herbeizuführen versucht, ohne die Garantien einer wahrhaften Förderung des Volkswohls aufzeigen zu können.[253]
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