XIII

[129] Geht man dem Begriff der Persönlichkeit in der analytischen Theorie selber nach, so begegnen einem Überraschungen. Descartes, der Erfinder des cogito ergo sum und damit der autonomen, rationalen Persönlichkeit, hatte deren Funktion ganz in das Bewußtsein verlegt. Ihm gegenüber betonen die neueren Empiristen eine einfache Zusammensetzung von Bewußtseinszuständen oder von teils bewußten, teils unbewußten Fakten (vgl. Ribot, ›Les maladies de la personnalité‹, Paris 1885). Bei Freud spielt die Persönlichkeit, die mit dem Bewußtsein steht und fällt, kaum mehr eine Rolle. In ›Das Ich und das Es‹ ist von Trieben, vom Ich und vom Über-Ich, vor allem aber vom ›Es‹ die Rede, und dieses Es ist eine unbekannte Größe, ein Libido- und Bilderreservoir von unerschöpflicher Tiefe, das, wenn ich richtig verstanden habe, alle wünschenswerten Persönlichkeiten virtuell in sich enthält und ihre Herausbildung dem Arzte überläßt, je nach dem Normbereich, zu dem er oder sein Patient eine besondere Neigung bekundet. Das Bewußtsein ist »die Oberfläche des seelischen Apparates, d.h. wir haben es einem System als Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von der Außenwelt her ist«. Das Bewußtsein ist, wie es gleich darauf mit einem Anklang an die Ästhetik heißt, »die wahrnehmende Oberfläche«. In dem seinen Ausführungen beigegebenen Strukturschema (S. 26) trägt das Ich als Anhang ein Es mit sich, das wie ein Sack das Ich-System umgibt. Es ist lustig genug, in kabbalistischen Büchern die entsprechenden psychischen Schemata zu vergleichen. Was dort unendliche über- und unterpersönliche Sphären sind, die die Welt mit Perspektiven und Differenzen erfüllen, ist bei Freud zusammengeschrumpft auf ein simples Ich und ein Es, die beide im natürlichen Individuum beschlossen sind.

Von der Persona in den Werken des andern großen Analytikers, in den Werken C. G. Jungs, war eingangs schon die Rede. Die Frage ist indessen komplizierter, als ich dort andeuten konnte. Jung unterscheidet zwischen Seele und Psyche. »Unter Psyche«, sagt er, »verstehe ich die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, der bewußten sowohl wie der unbewußten. Unter Seele dagegen verstehe ich einen bestimmten, abgegrenzten[129] Funktionskomplex, den man am besten als eine ›Persönlichkeit‹ charakterisieren könnte« (»Psychologische Typen«, Rascher & Co., Zürich 1921, S. 661ff., Definition 48). Unter Bezug auf Phänomene, wie Persönlichkeitsspaltung, Hypnotismus und Double conscience, setzt Jung sodann Persönlichkeit und Charakter einander völlig gleich (also auch Seele und Charakter), während beispielsweise ein an der Scholastik geschulter Psychologe wie Mercier dem Charakter in strengem Unterschied von der Person nur den Wert einer äußerlichen Symptomatik zumißt. Wenn Jung ferner zur ›Charakterspaltung‹ bemerkt, daß ein solcher Mensch »überhaupt keinen wirklichen Charakter habe, d.h. überhaupt nicht individuell sei, sondern kollektiv«, und wenn dann dieses wieder heißt: »den allgemeinen Umständen, den allgemeinen Erwartungen entsprechend«, dann befinden wir uns mitten in der somatischen Sphäre, und der Begriff der Persönlichkeit verschwindet entweder ganz, oder er sinkt zum proteischen Symptom der Anpassung herab. Der Charakter (die Persönlichkeit, die Seele) ist nach Jung individuell zwar bei jedem Wesen vorhanden, aber unbewußt, unausgeprägt. Durch eine mehr oder weniger vollständige Identifikation mit der jeweiligen ›Einstellung‹ täuscht der Mensch »mindestens die andern, oft auch sich selbst über seinen wirklichen Charakter, er nimmt eine Maske vor... Diese Maske, nämlich die ad hoc vorgenommene Einstellung«, nennt Jung Persona. ›Wer sich mit der Maske identifiziert, den nenne ich persönlich‹. Die Persona ist also »ein Funktionskomplex, der aus Gründen der Anpassung oder der notwendigen Bequemlichkeit zustandegekommen, aber nicht identisch ist mit der Individualität. Der Funktionskomplex der Persona bezieht sich ausschließlich auf das Verhältnis zu den Objekten« (S. 662–664).

Im selben Buche (den ›Psychologischen Typen‹) stellt Jung zwei menschliche Grundcharaktere, zwei Seelentypen, auf: den intro- und den extravertierten Typus, den Typus der nach innen und der nach außen gerichteten Libido. Er bemüht sich, beide Typen aus der Natursphäre zu einer sublimierten (kulturellen) Bedeutung zu erheben. Sein tieferes Bemühen gilt offenbar dem Versuch, den sozialen (extravertierten) und den psychologischen (introvertierten) Normtypus zu ermitteln und beide[130] miteinander in Einklang zu bringen. Die mit großer Gelehrsamkeit geistreich auf bedeutende Dichter, Philosophen und Religionssysteme ausgedehnte Analyse gelangt jedoch nirgends dazu, den ›Charakter‹ über die Maske hinaus zur Persönlichkeit zu erheben und die letztere als Garantie einer Norm erscheinen zu lassen. So bleibt ein großartiges Unternehmen ganz im Proteischen einer Ideenschau stecken. Auf einer Art Synthese der beiden Charaktertypen sollte ein symbolisch-ästhetischer Kulturbegriff begründet werden. Es blieb aber zweifelhaft, nach welchem Maßstabe und Einheitspunkte hin sublimiert werde, es sei denn der allgemeinste der Sublimierung selbst und ihres Bezugs auf die Gesellschaft. Das ist der Geniebegriff der Romantik, und in der Tat steht Nietzsche überall im Mittelpunkte der Betrachtung. De facto aber hat bei gleichgerichteten Versuchen und Voraussetzungen das Leben der Hölderlin, Nietzsche, van Gogh u.a. die Auflösung der Person und das Verschlungenwerden des Individuums durch die Kollektivpsyche ergeben.

Stärker scheint die Persönlichkeit bei einem andern der ersten Freud-Schüler, bei Alfred Adler, zur Geltung zu kommen. Der ›Machttrieb‹ begründet hier die Neurose in einem Konflikt mit der Organminderwertigkeit. Die Person ist indessen bei Adler ganz ähnlich wie bei Jung ein ›Arrangement‹, eine Täuschung, die nur dem Willen entspringt, ›obenauf‹ zu sein. Moral und Tugend dienen nicht selten dazu, nur die Anerkennung der Umwelt zu erzwingen; die Person versucht eine Emanzipation gerade von Minderwertigkeiten moralischer und zuletzt sexuell-organischer Natur; diese versteckte Minderwertigkeit enthüllt sich in der Analyse. – Sosehr von Freuds Grundansichten verschieden ist die Adlersche Methode nicht. Auch sie führt zur Sexualbasis zurück. Die Selbstbehauptung des Individuums, das auch hier nur als Naturtypus betrachtet ist, sein ›Wille zur Macht‹, der sich als ›männlicher Protest‹ in Lebensführung, Charakterbild und Neurose kundgibt, dieser männliche Protest ist nach Freud (›Neurosenlehre‹, Hugo Heller Verlag, Wien 1918, S. 61) nichts anderes als »die von ihrem psychologischen Mechanismus losgelöste Verdrängung«. Man kann dieser Kritik zustimmen; gleichwohl wird man bei Adler wenigstens den Instinkt für die Persönlichkeitsbestrebungen nicht leugnen[131] können. Verkehrt erscheint nur die Konsequenz, die Adler zieht. Statt das natürliche Bestreben des Individuums nach Charakter und Person anzuerkennen und noch in der ›Minderwertigkeit‹ die Norm zu ermitteln, wird der ›Machttrieb‹ als eine Attrappe in die Minderwertigkeit aufgelöst und der natürliche Heilinstinkt des Individuums unterbunden. Die Reduzierung der phantastischen Wege auf die natürliche Anlage mag den Patienten zunächst beruhigen. Sein Ich-Ideal, die Persönlichkeit, wird aber entweder einer noch heftigeren Depression unterworfen, als es bereits der Fall war, oder es wird völlig zerstört. Der Widerstand, den der Patient bei der Analyse entwickelt, ist in dieser Hinsicht sehr begreiflich.

Die Persönlichkeit kommt, das ist das Resultat unserer Untersuchung, in der psychoanalytischen Theorie schlecht weg. Als Somatiker können diese Therapeuten einen nicht naturhaften, sondern metaphysischen Wert, wie die Persönlichkeit ihn darstellt, nicht gelten lassen. Gleichwohl gehört die Störung der Persönlichkeit zu den Ursachen der Neurose, ja sie bedingt vielleicht die Erkrankung. Nur die Integrierung, Wiederherstellung, wenn nicht die Neubildung der Person kann demnach die Neurose heilen; die Beziehung der Symptome auf eine moralische Einheit ist notwendige Voraussetzung, handle es sich um die Therapie des Arztes, des Künstlers oder des Exorzisten. Freilich ist für alle drei Berufe die intime Kenntnis der libidinösen Anlage, vor allem der eigenen Person, Erfordernis. Die Natur hilft sich, sobald die Verstrickung gelöst ist, in den meisten Fällen selbst. In jenen Fällen aber, wo die Normierung nötig wird, wo die Person verletzt, nicht nur verdrängt ist, bedarf es ihrer prinzipiellen Bestärkung, je nach der Normsphäre, der sie angehört, und es scheint dann fraglich, ob das pure Wissen um die Bedingungen und Prinzipien genügt. Der Patient wird ein feines Gefühl dafür haben, ob der Arzt jene Sicherheit der Person besitzt, die der Repräsentation seines Normcharakters entspricht. Es ist kein Zweifel, daß davon vor allem die Schnelligkeit der Heilung abhängt. Es ist bekannt, daß Heilige, wie Bernhard von Clairvaux und viele andere, wo sie als Exorzisten auftraten, eine Besessenheit (Teufelsneurose nach Freud) oft durch ihr pures Auftreten zu heilen vermochten. Der Kranke empfand die Geschlossenheit ihrer heiligen Person so[132] unwiderstehlich, daß er durch einen Anblick allein seinen libidinösen Verstrickungen (der Macht des Teufels) entrissen war.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 129-133.
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