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Es wird die Zeit kommen, wo es zur Bildung gehört, auch Schauspieler sein zu können. Wo die Schauspielerei gewissermaßen als Sport betrieben wird, so gut wie alle übrigen Bildungszweige: Wissenschaft, Religion, Gedichtemachen, Redenhalten. Ein Mann von Körper und Geist wird sich nicht mehr blamieren dürfen, wenn man ihn fragt, wo er zuletzt aufgetreten ist. Solche Zeiten werden lächeln, wenn sie hören, daß es für uns ein Thema war, ob Wedekind Schauspieler ist oder nicht. Schauspieler ist jeder, der öffentlich auf eine Bühne oder ein Podium tritt, um sich (coram publico) zum Besten zu geben. Verwandlungskunst ist belanglos, seit wir (geistig) allesamt Schauspieler wurden. Wir haben's selbst; wir suchen's nicht mehr auf der Bühne. Wir suchen im Theater keine Seelenwanderung mehr; wir suchen Personagen: Neue Körper. Neue Seelen. Wir kommen uns Schauspieler ansehen, wie Sokrates zur Herodote kommt: Neugierig. Nicht auf das Stück. Sondern auf den Kerl; sondern auf das Weib oder Weibchen. Wir wollen ein neues Stück Mensch wahrnehmen, eine terra nova incognita. Es ist uns piepe, ob jemand, der Herr Schulze ist, auch Herr Müller sein kann. Oder ob Frl. Schmidt sich in Frl. Huber verwandelt. Wir pfeifen drauf. Wir wollen neue Beine. Neue Hüften. Neue Köpfe. Neue Struktur Leibes und der Seele.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 15.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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