984. Die steinerne Agnes

[633] Von Reichenhall nach dem Hallturm und Berchtesgaden zu kommt man unterm Dreisesselkopf vorbei und läßt den Lattenberg rechts liegen; dort war auf einer Alm eine junge hübsche Sennderin, die war auch gar fromm und fleißig und hielt es mit dem Spruch: Bete und arbeite, und die hieß Nesi, das ist auf Hochdeutsch Agnes. Jeden Morgen und Abend hat die Nesi vor einem Kreuzel droben auf ihrer Almen ihr Gebet verrichtet, und das hat den Teufel mächtig gegiftet, denn er hat es gerad zumeist auf die Frommen abgesehen, da die Unfrommen ihm schon von selbst in die Hände laufen.

Nun hat der Teufel die fromme Dirne gar arg in Versuchung geführt, ist bald als Hirtenbub, bald als Jäger, bald als Musikant zu ihr gekommen und hat ihr seine Teufelslügen vorgeplauscht, aber sie hat sich alles nichts anfechten lassen und ist ihm immer entgangen, ist auch zuletzt nicht mehr allein in ihrer Sennhütte geblieben, sondern hat noch eine Sennderin bei sich bleiben lassen. Darauf, um sie allein zu haben, hat ihr der Teufel eine Kuh weggetrieben bis auf die Almgarten, die nach St. Zeno gehört, und wie die Nesi ihre Kuh gesucht hat und endlich auch erblickt, so gar weit weg, und sie hat eintreiben wollen, ist der Teufel als ein Wildschütz dagestanden mit einem schönen Gamsbart auf dem Hütel und in einer grauen Joppen und hat sie mit ganz feurigen Augen angeschaut. Da hat sie einen Schrei getan und hat Reißaus gegeben, und der Teufel ist hinter ihr her und hat sie gejagt, bis sie nimmer laufen konnt', und ist an eine Steinwand gekommen, wie die heilige Ottilia, und hat zur Mutter Gottes gerufen: Hilf, heilige Mutter Gottes!

Hilf! hilf! – und da hat sich die Steinwand aufgetan, und die Nesi ist hindurchgerennt, aber der Teufel, nicht faul, ist eben auch durchgeschlupft, hinter ihr drein, und hat das arme Dirndl doch erwischt, aber wie er an's angerennt ist, hat er sich fast seine große schwarze Nase ein- und die Hörner abgestoßen, wenn er noch welche gehabt hat, denn der Leib Nesis ist in Stein verwandelt gewesen, und zwei weiße Engeln haben ihre Seele sanft gen Himmel getragen. Da hat der Teufel einen schönen Zorn gekriegt über die steinerne Sennderin, und die steht heute noch als Fels und heißt die steinerne Nesi. Und die Schlucht blieb und heißt das Teufelsloch, und wenn die Sonne hindurchscheint, was alle Jahr gerade am Sonnwendtag nur einmal geschieht, so juchezet die Nesi, daß man es weit und breit auf den Almen hört.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 633-634.
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