II

[21] Wenn diese Blätter in die Hände meines Gemahls fallen, hob die Handschrift der Gräfin an, dann hat vielleicht das Herz aufgehört zu schlagen, das ihn so innig liebte und ehrte, und dennoch nie den Muth finden konnte, ihn in die Tiefe des Jammers blicken zu lassen, an dem es verblutete. Ach! nur zu gewiß ist es, die erste Falschheit führt unsägliche Verwirrung herbei und kettet ein Unrecht an das andere. Hätte ich sprechen dürfen vor unserer Verbindung, wie mein Gefühl mich trieb, ich hätte mir selbst und auch dem theuersten Freunde meines Herzens all den Kummer erspart, der aus dem Gefühle entspringen mußte, daß ich ihn fortwährend über mich täuschte. Hätte ich auch später geredet, so wäre dann vielleicht die Innigkeit auch eingetreten, die mir den dornenvollen Pfad des Lebens erleichtert hätte, aber die Furcht, daß mein theurer Gemal das erste Verschweigen nicht verzeihen würde, schloß fortwährend meine Lippen, und wir wandelten durch meine Schuld zwar neben einander, aber nicht mit einander auf dem Pfade des Lebens. Der tiefe Schmerz über dieß Unglück und über mein Unrecht, wodurch es herbei geführt worden ist, bestimmt mich, alle erlittenen Qualen noch ein Mal durchzufühlen und diesen Blättern meine Leiden zu vertrauen, damit[21] sie ein Mal, wenn auch erst nach meinem Tode, meinen Gemahl das Wesen ganz kennen lehren, das so unglücklich an seiner Seite wandelte und ach! in der Verbindung mit ihm so glücklich hätte sein können, wenn sein früheres Leben sich hätte anders gestalten wollen. Sein großmüthiges Herz wird dann vielleicht meine Qual beweinen und das Verschweigen dieser Qual verzeihen.

Ich muß, um über mich selbst vollkommenen Aufschluß zu geben, der Jugend meiner Eltern erwähnen. Mein Vater war in seiner Jugend ein schöner Mann; er war einer der reicheren Edelleute und seine Umgebung hielt ihn für liebenswürdig. Ich habe kein Urtheil darüber, denn ich habe ihn in so früher Kindheit verloren, daß sein Bild nur schwach in meiner Erinnerung dämmert. Er war Protestant, und die Aufklärung, die in der Zeit seiner Jugend sich aller ausgezeichneten Menschen bemeisterte, ergriff auch ihn und ließ ihn in aller Religion nur eine weltliche Anstalt sehen, durch welche die Moralität des Volks erhalten und den Fürsten das Regieren erleichtert würde; bei diesen Gesinnungen fiel es ihm nicht ein, daß die Religion jemals ein Hinderniß seiner Wünsche sein könnte, und er überließ sich der Liebe zu meiner Mutter, ohne nur daran zu denken, daß sie der katholischen Kirche angehörte.

Meine Mutter war von beschränkten Eltern geboren,[22] und ihre Erziehung wurde durch den Beichtvater ihrer Mutter geleitet; also war es begreiflich, daß sie nur einen Weg zur Seligkeit kannte und außerhalb ihrer Kirche nur Verderben erblickte. Mein Vater setzte seine Bewerbungen fort und fand selbst Mittel, den einflußreichen Beichtvater für sich zu gewinnen, indem er mit jugendlichem Leichtsinn den beschränkten Priester hoffen ließ, die Verbindung mit meiner Mutter könne ihn wohl bestimmen, sich in den Schooß der katholischen Kirche in der Zukunft aufnehmen zu lassen; nur jetzt, gab er zu verstehen, machten es ihm weltliche Rücksichten unmöglich, daran zu denken. Er erlaubte sich diese Falschheit ohne Vorwürfe seines Gewissens, denn ihm war die Religion überhaupt gleichgültig, und er betrachtete es als ein unschuldiges Mittel, seinen Zweck zu erreichen, wenn er auf diese Weise einen Priester und durch ihn meine Mutter hinterging.

Es ist natürlich, daß die Neigung meiner Mutter für meinen Vater mächtig in ihrem Herzen wuchs, da die Hoffnung sich damit verband, sein ewiges, wie sein zeitliches Glück zu begründen, und es ist begreiflich, daß auch die Eltern bald für einen Plan gewonnen wurden, den der Beichtvater unterstützte. Mein Vater hütete sich den Hoffnungen auf seine Bekehrung zu widersprechen und ließ alle Schritte geschehen, ohne eine andere Ansicht über die Religion der[23] Kinder aus zusprechen, die aus dieser Ehe entspringen könnten, als die, welche von seinen Schwiegereltern angenommen wurde, und diese glaubten, daß die Kinder eines Mannes, der selbst sich mit der katholischen Kirche vereinigen wollte, nicht anders, als in den Grundsätzen dieser Kirche erzogen werden könnten.

Mit dieser Falschheit von der einen und Beschränktheit von der andern Seite wurde die Verbindung geschlossen, und meine Mutter sah wenige Wochen nach ihrer Vermählung trotz der Beschränktheit des Geistes, in der man sie hatte aufwachsen lassen, daß an eine Bekehrung meines Vaters nicht zu denken sei, und er verwundete ihr Herz, wenn er sich schonungslos darüber zu scherzen erlaubte, durch welche Mittel er sie gewonnen habe. Die Gesellschaft meines Vaters bestand aus jungen Leuten, die mehr oder weniger seinen Meinungen über Religion anhingen, und meine Mutter mußte oft Gespräche anhören, von denen sie in frommer Einfalt glaubte, ihr frevelhafter Inhalt müsse das Feuer des Zornes vom Himmel herunter auf die sträflichen Häupter der Leichtsinnigen rufen.

Mit Schmerzen sah der Beichtvater, wie gröblich er sich hatte täuschen lassen, und die Eltern der unglücklichen Frau suchten durch fromme Werke den Himmel wegen ihres Irrthums zu versöhnen. In dieser Lage der Dinge wurde die[24] Schwangerschaft meiner Mutter fast wie ein Unglück betrachtet, denn man fürchtete mit Recht, daß auch die Kinder der katholischen Kirche würden entzogen werden und so auch diese Seelen verloren gehen würden. Indeß wurde es nothwendig, diesen Gegenstand zur Sprache zu bringen, und wie man es befürchtet hatte, lachte mein Vater nur über die Hoffnung, daß er die Erlaubniß geben würde, seine Kinder katholisch zu erziehen. Man bediente sich selbst der List, um ihn dazu zu vermögen, sein stillschweigend gegebenes Versprechen zu erfüllen, indem man ihm vorstellte, da ihm alle Religion gleichgültig sei, so könne er ja leicht zugeben, daß die Mutter, die sich nicht zu seinen Ansichten erheben könne, den Trost habe, daß die Kinder ihren Glauben theilten. Mein Vater stellte die weltlichen Nachtheile dagegen auf, die seinen Kindern aus dem Bekenntnisse der katholischen Religion erwachsen müßten, und nach langem Unterhandeln konnte endlich nur mit Mühe erreicht werden, daß die Söhne der Religion des Vaters, die Töchter aber dem Glauben der Mutter folgen sollten.

Jetzt stiegen eifrige Gebete zum Himmel empor, das Kind, welches meine Mutter noch unter ihrem Herzen trug, möge eine Tochter sein, ganz entgegen den gewöhnlichen Wünschen der Familien, die einen Sohn eifriger als eine Tochter zu erbitten pflegen. Auch diese Gebete erhörte der[25] Himmel nicht, und das Entzücken der jungen Mutter war mit Schmerz vermischt, als man ihr nach überstandener Qual den neugebornen Sohn hinreichte. Die Freude des Vaters war laut und heftig, ein glänzendes Fest sollte die Taufe des Neugebornen verherrlichen, und mit innerlichem Schauder sahen Mutter und Schwiegereltern den protestantischen Prediger die heilige Handlung verrichten. Der Beichtvater meiner Mutter tröstete sie mit dem Gedanken, daß noch nichts verloren sei, weil die Taufe, in welcher Kirche sie auch gefeiert werde, immer die gleiche Gültigkeit habe und es immer noch in der Macht meiner Mutter stände, die junge Seele dem wahren Heile zuzuwenden.

Dieser Gedanke entzündete eine neue Hoffnung in der Brust der unglücklichen Frau und wendete ihre leidenschaftliche Liebe dem Kinde zu, dessen Seelenheil sie gefährdet wähnte. Wenn sie in blinder Zärtlichkeit sich ganz dem Kinde hingab, alle seine Wünsche befriedigte, selbst die, welche der verkehrteste Eigensinn aussprach, so täuschte sie sich selbst und bildete sich ein, es geschähe, um sich die Liebe des Sohnes um jeden Preis zu erhalten, um ihn durch diese Liebe später zum wahren Heil zu leiten; es entging ihr der Widerspruch, daß sie den später leiten wollte, von dem sie sich schon als Kind völlig beherrschen ließ. Mein Vater zog das Kind ebenfalls an sich, weil er ihn mit dem gewöhnlichen Stolz[26] der Väter als Fortpflanzer seines Namens betrachtete, und weil er den Plänen der Mutter, die er gar wohl bemerkte, entgegen wirken wollte, und so kam es, daß dieses Kind im frühesten Alter der unumschränkte Gebieter des Hauses war, dessen eigensinnigste Launen auch die Bedienten als Befehle zu betrachten sich gewöhnten.

So verwöhnt war dieses Kind sechs Jahre alt geworden, und als meine Eltern die Aussicht auf weitere Nachkommenschaft schon fast aufgeben zu müssen glaubten, fühlte meine Mutter zum zweiten Male die Hoffnung, einem Kinde das Dasein zu geben. War schon bei der ersten Schwangerschaft das Flehen um eine Tochter inbrünstig gewesen, so wurden jetzt weder Gebete noch Gelübde gespart, und meine Mutter gelobte dem Himmel, Falls er ihr eine Tochter schenken würde, sie dem Dienste des Himmels zu weihen, um in ununterbrochenen Gebeten die Bekehrung des Vaters wie des Bruders zu erflehen.

Dieß Mal wurden ihre frommen Wünsche erhört, und ich Unglückliche erblickte das Licht des Tages. Meine Mutter empfing mich mit Entzücken in ihren Armen, aber nicht als ein Kind legte sie mich an die mütterliche Brust, sondern als ein Sühnopfer, welches sie wähnte vom Himmel errungen zu haben; nicht um mein selbst Willen widmete sie mir ihre Sorge und Pflege, sondern weil ich nun da war, um[27] ein ganzes Leben hindurch für einen begünstigten Bruder zu beten. Auch mein Vater begrüßte meinen Eintritt in's Leben nicht mit Liebe; er blickte mit Kälte auf mich, weil er die ihm unangenehme Verpflichtung hatte, mich in der katholischen Kirche erziehen zu lassen, denn es ging ihm, wie vielen Freigeistern, die ich später kennen lernte, die alle Religion hinwegspotten wollten und doch ihren Geist von den Fesseln nicht lösen konnten, in denen die Sekte sie hielt, in der sie geboren waren.

War die Feierlichkeit bei der Taufe meines Bruders groß gewesen, so wurde um so stiller die heilige Handlung begangen, die mich auf katholische Weise zur Christin weihte. Da mein Vater mich der Erziehung meiner Mutter und dem Einflusse ihres Beichtvaters überlassen mußte, so gewöhnte er sich, mich von der Geburt an als ein seiner nicht würdiges Wesen anzusehen, und betrachtete um so mehr meinen Bruder als seinen Stolz und sein Eigenthum, und so kam es denn, daß meine Erziehung von der frühesten Kindheit an ganz so eingerichtet wurde, daß ich dem Zwecke, wozu man mich bestimmte, einem Bruder das Heil zu erringen, einst vollkommen entsprechen könnte.

Ich war kaum fünf Jahre alt, als ein unglücklicher Sturz mit dem Pferde das Leben meines Vaters in Gefahr brachte. Es war ihm nicht entgangen, welche Pläne meine[28] Mutter mit mir hatte, ob er gleich nicht ahnete, daß ich geopfert werden sollte, um seine eigene wie meines Bruders Bekehrung zu erbeten; da ich aber seinem Gefühl völlig fremd blieb und er alle Neigung allein seinem Sohne zuwendete, so war ihm der Plan meiner Mutter in sofern lieb, als meinem Bruder dadurch der ungetheilte Besitz des Vermögens gesichert wurde, welches durch die Verwaltung meines Vaters bedeutend war vermindert worden. Da ihm der gefährliche Zustand seiner Gesundheit nicht verborgen bleiben konnte, ob er gleich von den Aerzten noch einige Zeit nach dem unglücklichen Sturze erhalten wurde, so richtete er sein Testament ganz zum Vortheile meines Bruders ein, und da meine Mutter während seiner Krankheit einige Mal seine Bekehrung mit Hülfe des Beichtvaters versucht hatte, so erregte dieß nicht nur seinen Zorn, sondern auch die Sorge, daß nach seinem Tode derselbe Eifer für die Seele meines Bruders sich zeigen würde, und er ernannte einen Vormund aus der Zahl seiner Freunde, der meinen Bruder zu sich nehmen und seine Erziehung leiten sollte, damit, wie er unverholen äußerte, der Knabe nicht durch die Mutter den Händen der katholischen Priester übergeben werden möchte.

Meine unglückliche Mutter erfuhr also den doppelten Schlag des Geschickes, daß sie den Mann ihrer Liebe verlor, ohne, wie sie meinte, seine Seele gerettet zu haben, und daß[29] gleich nach dessen Tode ihr auch der Sohn entrissen wurde, um dessentwillen sie nur noch lebte.

Da es nun durch die Entfernung des Knaben der trauernden Mutter unmöglich gemacht wurde, unmittelbar für seine Bekehrung zu wirken, in welchem Gedanken sie einen schwachen Trost beim Tode des Mannes gefunden hatte, so blieb nichts übrig, als mittelbar durch ihr und mein Gebet dahin zu wirken, und ich wurde zu allen geistlichen Uebungen schon in dieser zarten Jugend angehalten.

Da es wie eine ausgemachte Sache betrachtet wurde, daß mein Leben dem Dienste Gottes im Kloster geweiht sei, so hegte ich selbst auch keinen andern Gedanken, und da meine Mutter den Einfluß lebensfroher Gespielen fürchtete, so erzog sie mich in völliger Einsamkeit; ich sah beinah nur den Beichtvater und sie; und als Grund für diese Zurückgezogenheit wurde ohne Hehl meine Bestimmung zum Klosterleben angeführt, so daß ich nicht Theil nahm an den wenigen Gesellschaften, die meine Mutter besuchte, und auch das Gesellschaftszimmer verließ, wenn zuweilen Besuch bei uns erschien.

Ich fügte mich ohne Zwang und ohne Klage in diese Einsamkeit; ich lebte in Träumen, die meine Phantasie erzeugte; ich bildete mir innerlich ein wunderbares, reiches Leben und hielt mich so für alle äußeren Entbehrungen schadlos. Mein lebhafter Geist, der mit nichts genährt wurde,[30] mußte alle Beschäftigung in sich selber suchen und führte mich oft an die Gränze des Wahnsinnes, denn ich glaubte selbst an meine wachen Träume. Die einzige Störung dieses einsamen, träumerischen Lebens trat ein, wenn uns mein Bruder, von seinem Vormunde begleitet, besuchte. Der muntere Knabe verspottete die werdende Nonne, und wenn er prahlend von der Heiterkeit seines Lebens erzählte, so regte sich zuweilen die Sehnsucht in meiner Brust, Theil an seiner Freude zu nehmen. Auf meine Mutter machten diese Besuche, nach denen sie sich so heftig sehnte, jedes Mal den traurigsten Eindruck, und unsere Gebete in der Einsamkeit wurden verdoppelt, um eine Bekehrung zu erflehen, die immer zweifelhafter zu werden schien.

Mein Bruder hatte ungefähr das Alter von sechzehn Jahren erreicht, als ich bemerkte, daß sein Betragen gegen uns anders wurde. Er kam jetzt zuweilen allein, theils weil seinem Vormunde der Aufenthalt bei uns langweilig war, theils weil er glaubte, mein Bruder sei so befestigt in seinen religiösen Ansichten, daß die Mutter keinen Einfluß mehr auf ihn würde ausüben können. Diese Besuche gewährten dieser einen kaum mehr gehofften Trost; mein Bruder spottete nicht mehr über meine Bestimmung, ja er konnte mit Bewunderung von der Heiligkeit eines einsamen, Gott geweihten Lebens sprechen; er ließ in solchen[31] Stunden meine arme Mutter hoffen, daß, sobald er das mündige Alter erreicht haben würde, er sich in den Schooß der katholischen Kirche würde aufnehmen lassen, und es bedurfte keiner großen Ueberredung, um die Mutter und den Beichtvater zu überzeugen, daß diese frommen Gedanken vor dem Vormunde verborgen gehalten werden müßten, damit dieser nicht den Sohn auf's Neue von der Mutter trennte. Die arme Frau hatte sich ohne große Kunst von dem Manne täuschen lassen, der ihre Liebe gewann, und ließ sich nun noch bereitwilliger von einem Knaben hintergehen. Sie bemerkte es nicht, daß sie diese frommen Aeußerungen jedes Mal mit ansehnlichen Summen bezahlen mußte, die mein Bruder von ihren Ersparnissen empfing. Mein Vater hatte meiner Muter ein sehr mäßiges Einkommen bestimmt, da aber ihre Eltern in der Zwischenzeit gestorben waren, so hatte sie durch die ihr zugefallene Erbschaft bedeutendere Mittel, und mein Bruder hatte nicht so bald Kenntniß von diesem Zuwachs, als er ihn für sich benutzte, durch eine Heuchelei, die der Beweis einer großen Schlechtigkeit gewesen wäre, wenn er diesen Kunstgriff nicht mit kindischem Dünkel für das Zeichen eines starken Geistes gehalten hätte, der sich erlauben dürfte, die Schwachheit einer bigotten Mutter auf diese scherzhafte Weise zu benutzen.

So hatte mein Bruder nach und nach das ganze Erbe[32] meiner Mutter erhalten, ehe er sein mündiges Alter erreichte, und diese fing an die Entbehrungen zu fühlen, die sie sich aus Liebe für diesen Sohn selbst auferlegt hatte; doch machte ihr dieß keinen Kummer, denn für mich war gesorgt, indem ich aus der Welt schied, und sie selbst konnte dann bei dem geliebten, geretteten Sohne den Rest des Lebens in heiliger Freude hinbringen. Ich war noch sehr jung, aber ich sah mit Befremden die bedenklichen Mienen, die mein Bruder zu solchen Träumen machte, wenn sie ihm mitgetheilt wurden.

Ich war ungefähr funfzehn Jahr alt geworden, und meine Mutter fing sich an ernstlich darüber mit dem Beichtvater zu berathen, in welchem Kloster ich meine Probezeit hinbringen sollte, als ein Brief von einer Tante meiner Mutter ankam und unserem Leben eine neue Wendung gab. Diese Tante hatte sich mit einem bedeutenden Vermögen, die Schönheit der Natur zu genießen, nach der Schweiz zurückgezogen; sie war alt und kinderlos, und forderte meine Mutter auf, mit mir zu ihr zu kommen, damit sie ihr Leben nicht unter fremden Menschen endigen müsse, und versprach zugleich, wenn meine Mutter diesen Wunsch bereitwillig erfüllen wollte, sie zu ihrer einzigen Erbin zu ernennen.

Niemand unterstützte den Vorschlag dieser Tante eifriger als mein Bruder, und als meine Mutter die Besorgniß[33] äußerte, daß er, getrennt von ihr, wieder lau werden und seinen heiligen Vorsatz aufgeben könne, versicherte er, daß er uns nach der Schweiz folgen würde, wo er, ohne Aufsehn zu erregen, leichter noch als im Vaterlande dieß Verlangen seines eignen Herzens stillen könne. Diese Aeußerung war entscheidend, und wir begaben uns auf die Reise zu der alten, reichen, lebenssatten Tante, wie sie von meinem Bruder genannt wurde.

Ich hatte unser Haus beinah niemals verlassen, meine Spaziergänge erstreckten sich nicht weiter, als bis in unsern Garten, dessen geschorene Hecken und regelmäßig abgetheilte Blumenbeete mir weiter keine Abwechselung gewährten, als daß ich die Blumen blühen und verblühen sah, und doch hatte ich selbst in diesem beschränkten Raume in der Unschuld meines Herzens unsägliche Freude genossen. Waren doch die Sommerlüfte warm und lind, glänzte doch der Himmel über mir, dufteten mir doch die Blumen entgegen, und meine Phantasie füllte die Gänge mit wandelnden Gestalten; wache Träume der lieblichsten Art umfingen häufig meinen Geist in diesem Garten, und eine bunte Mährchenwelt umgaukelte mich.

Die angetretene Reise nun entführte mich aus der engbeschränkten, bekannten Welt und zeigte mir zum ersten Male eine großartige Natur. Schon unsere vaterländischen[34] Berge, unsere üppigen Thäler und rieselnden Bäche entzückten mein Herz, und ich dachte mit Beklemmung daran, daß ich von dieser herrlichen Welt scheiden sollte und wieder höchstens in einem beschränkten Garten würde verweilen dürfen. Aber als wir die Schweiz erreichten, war es, als ob mein Busen sich dehnte. Diese Seeen, diese Berge, diese Thäler weckten ein Gefühl des Lebens in mir, das mir bis dahin fremd gewesen; ich fühlte, daß ich da sei um mein selbst Willen, und konnte mich nicht mehr als ein Wesen betrachten, welches für Andere dahin gegeben werden dürfe, und leise im Herzen regte sich mir der Verdacht, ob mein Bruder auch solche Opfer verdiene. Mein trunkenes Auge schweifte unersättlich über Berg und Thal, und meine Seele sog das reinste Entzücken in sich. Aber indem ich mit himmlischer Wonne das Leben fühlte, welches sich so glänzend und neu vor mir ausbreitete, versprach ich mir innerlich, leise, aber fest, eine Welt nicht zu verlassen, deren Zauber, sobald ich ihn kennen lernte, so mächtig auf mich wirkte.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 2, Breslau 1836, S. 21-35.
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