Diskret

[350] Bei Mädchen, die einen schlechten Lebenswandel führen

Und sich dabei nicht einmal zieren,

Bei Mädchen, die, wenn es dämmert, spazieren,

Indem sie sich in den Hüften wiegen,

Während sie sonst meistens im Bette liegen

Oder Patience legen

Oder einer Lektüre pflegen,

Die man nicht anders als mißbilligen kann,

Weil sie die Seele nicht hinan,

Sondern hinunter führt in Sphären,

Wo reine Seelen niemals verkehren,

Bei Mädchen, sag ich, solcher Sorte,

Daß, sie nach Gebühr zu charakterisieren,

Die deutsche Sprache ermangelt der Worte,

Weil sich sogar die ältesten Adjektive genieren,

Bei solchen Mädchen, kurz und gut,

Sieht man, legt man seinen Hut

Auf der Kommode oder sonstwo nieder,

Hergestellt durch Photographie

Oft eine ganze Bildergalerie

Von Männerantlitzen brav und bieder.


Zumal die Armee und Reichsmarine

Steuert dazu bei manche stolze Miene

Von kriegerischer Entschlossenheit

Und Schnurrbartesisterreichtigkeit.[350]

Aus allen Truppen treffen sich hier

Korporal, Sergeant und Unteroffizier,

Wobei natürlich der Kavallerist

Immer bei weitem der schönste ist.

Das Zivil ist nicht so stark vertreten,

Und wenn, so sind es meist Athleten,

Die auf dem Bizeps eingegraben

Einen blauen Reichsadler haben

Oder das Bildnis seiner Majestät

Oder eine schöne Nudität

Oder ein nützliches Gerät,

Z.B. einen Anker oder eine Kanone.

Zum Beweise aber, daß auch Gefühl in ihnen wohne,

Sieht man auf ihrer Mannesbrust zumeist

Ein Herz, aus dem eine Flamme schlägt,

Was, gut und richtig ausgelegt,

Auch bei Athleten soviel wie Liebe heißt.


Trotzdem ist, wenn man den Mädchen glaubt,

Der Gedanke an Liebe hier nicht erlaubt.

Alle diese Gefreiten und Sergeanten

Gehören zu Annas Anverwandten,

Desgleichen ein jeder Kraftathlet

Zu ihr in Verwandtschaftsbeziehungen steht

(Woraus ein jeder ersehen mag:

Sie ist von einem guten Schlag),

Doch ist es besser, sie offenbart

Ihre tüchtige Herkunft auf aktive Art,

Denn, ohne ungalant zu sein,

Möchte ich mir zu bemerken erlauben,

Es ist diesen Mädchen nicht sehr zu glauben,[351]

Sie sind geübt in Schwindelein.

Ein jeder weiß, daß jede erzählt,

Sie sei die Tochter eines Pastoren

Und zu was anderem geboren

Und sei auch schon Gouvernante gewesen,

Habe einer alten Gräfin vorgelesen

Und was so mehr Geschichten sind,

Bis zum bewußten ersten Kind

Vom sittenlosen Sohn des Hauses, der

Ihr plötzlich raubte ihre Ehr.

In solchen Romanen haben sie

Eine Ossip Schubinische Phantasie.

Und also mag man den Lilienstengeln

Auch in Hinsicht der vielen Cousängeln

Mit einigem Mißtrauen entgegentreten:

Es sind die Krieger und Athleten

Nicht mehr mit ihr verwandt als wie

Ein jeder andre Besucher und sie.


Woher dann aber die Photographie?


Das, wertes Publikum, ist die Magie

Der Liebe, ist die Wahlverwandtschaft,

Hier waltet mehr als flüchtge Bekanntschaft,

Hier waltet tiefe Sympathie.


Was hier auf lichtempfindlichen Papieren

Gerahmt in Plüsch und Zelluloid

Mit starrem Aug bezahltes Karressieren

Allstündlich vor sich gehen sieht,

Ist der Beweis, daß auch in Annas Seele

Die Liebe lebt, die gratis sich ergibt.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 350-352.
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