Mai-Wunsch

[253] Wie lieblich hat sichs eingemait!

Die Erde schwimmt in Blüten.

Das ist die höchst willkommne Zeit,

Die alles will begüten.

Nun werden die härtesten Herzen gelinder,

Wir laufen ins Grüne wie lachende Kinder,

Nun werden wir töricht und werden gescheit.
[253]

So geht es jedes liebe Jahr:

Wird man im Winter trübe,

So ists im Maimond wunderbar,

Als ob sich alles hübe.

Es fliehen die Wolken der Seele in Ballen,

Es will uns das Leben nun wieder gefallen,

Wir fühlen, wie töricht das Trübesein war.


Drum singen wir dem ersten Mai

Nach altem Brauch Willkommen.

Er mache alle Herzen frei

Und möge allen frommen.

Insonderheit soll er verliebten Leuten

Auch heuer die seligsten Stunden bedeuten.

Das ist unser Mai-Wunsch. Amen! Es sei!

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 253-254.
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