Neuweinlied

[72] Das hat Gott Vater gut gemacht,

Daß er zum Herbst den Wein gebracht,

Den weißen und den roten.

Die Welt wird alt, der Wein ist jung,

Herz bringt und Beine er in Schwung;

Wir tanzen ohne Noten.


Wir tanzen nach dem ältsten Takt,

Nach dem im Paradiese nackt

Die Beiden schon sich drehten,

Die unser Aller Eltern sind;

Wir tanzen zum Oktoberwind

Wie trunkene Propheten.


Daß ihr mir nicht dem Herbste glaubt,

Es sei nun alles abgelaubt,

Und alle Keime schliefen!

Seht unsern Kranz und unsern Tanz

Und unsrer Augen glühen Glanz:

Es wird was in den Tiefen!


Wie dieser junge Wein im Faß

Sich gährend regt ohn Unterlaß

Bis zu der klaren Stärke,

So braut in uns gesunder Sinn

Durch Winternis und Starre hin

Zu neuem Frühlingswerke.
[73]

Die Gläser alle an den Mund!

Glaubt nicht dem Herbst! Wir sind gesund

Und wollens auch beweisen:

Der Herrgott hoch! Hats gut gemacht,

Daß er zum Herbst den Wein gebracht,

Den roten und den weißen.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 72-74.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)