Elfte Scene

[54] KRABBE allein. Das ist eine Jugend, Gott bewahre! davon hatte ich doch keine Idee, als ich noch Straßenjunge war. Er sieht das Billet[54] an. So, also der Herr Sohn hat doch eine Liebesgeschichte? Das hätte ich nicht hinter ihm gesucht. Er liest. »Herr Julius Krabbe, Wohlgeboren« – richtig ist's. Hm, die Handschrift ist schön; weiß Gott! – solch einen Commis kann ich in Glognitz für funfzig Thaler jährlich nicht auftreiben! Sollte das wirklich nur ein Frauenzimmer sein? Er erbricht den Brief. Mit Erlaubniß, Mamsellchen, ich bin auch ein Krabbe, muß doch sehen, weß Geisteskind sie sind! Mag ein gutes Früchtchen sein, wenn sie ihrem Herrn Cousin gleicht. Sieht nach der Unterschrift. »Deine bis in den Tod getreue Emma Klammer.« Hm, per Du? Na, laß hören, wie der Vogel pfeift! Liest Anfangs ganz gleichgültig, wird nach und nach immer mehr gerührt, bis er am Ende vor Schluchzen fast nicht mehr auslesen kann. »Einzig geliebter Julius! Dein schnelles Fortgehen heute morgen hat die Mutter veranlaßt, Dich für einen Menschen zu halten, der Schlechtes gegen mich im Sinne und niemals redliche Absichten hatte. Ich kann nicht so böse von Dir denken, die Redlichkeit thront auf Deiner edlen Stirn« – ja, das ist wahr, die offene Stirn hat er von mir – »und die Treue glänzt in Deinem klaren Auge« – merkwürdig, aber es ist wahr, der Junge hat meine Augen – »aber Du kennst die Mutter, sie ist brav, aber streng; sie hat mir befohlen, nicht mehr an Dich zu denken! Ohne die Einwilligung Deines Vaters werd' ich Dich nie wieder sehen, noch sprechen. Er muß ein braver Mann sein, da er einen so braven Sohn hat!« – Gott, wie sie mich unbekannter Weise kennt! – »Giebt er Dir seinen Segen nicht, so sind wir geschieden für das ganze Leben! Komm nicht mehr zu meinem Fenster, denn ich darf Dir nicht mehr erscheinen, aber bei dem keuschen Mond, der so oft unsre Thränen sah, bei den ewigen Sternen, die Deine Schwüre hörten, ich werde Dich lieben, so lange ich lebe! Wenn ich Dich nicht wieder sehe, so werde ich sterben, das weiß ich, aber ich weiß auch, Du kommst dann an mein kühles Grab und legst ein kleines Vergißmeinnicht auf den stillen Hügel Deiner bis in den Tod getreuen Emma Klammer!« – Er fällt schluchzend in einen Stuhl. O du arme Emma! du Zierde des Geschlechts![55]


Quelle:
Charlotte Birch-Pfeiffer: Vatersorgen. Berlin 1849, S. 54-56.
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