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[209] Gute Zeit darauf saßen Guttorm und Karen in der großen, hellen Stube in Solbakken zusammen und lasen sich aus neuen Büchern vor, die sie aus der Stadt bekommen hatten. Vormittags waren sie in der Kirche gewesen; denn es war Sonntag, – dann hatten sie einen kleinen Rundgang durch die Felder gemacht, um zu sehen, wie Saaten und Früchte standen, und um zu überlegen, was Acker und was Brache im nächsten Jahr werden solle. So waren sie langsam von einem Stück Land zum andern gewandert, und sie fanden, daß in ihrer Zeit das Gut sich recht gehoben habe. »Gott weiß, was einmal draus wird, wenn wir nicht mehr sind«, hatte Karen gesagt; darauf hatte Guttorm sie aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen, um in den neuen Büchern zu lesen: »Denn man tut gut, sich Gedanken, wie Du sie ausgesprochen hast, fernzuhalten.«
Nun hatten sie ein Buch beendet, und Karen war der Ansicht, daß die alten besser seien: »Die neuen sind ja nur aus den alten abgeschrieben.« – »Daran mag etwas Wahres sein; Sämund hat heut in der Kirche zu mir gesagt, daß die Kinder auch nur wieder wie die Eltern sind.« – »Ja, Du und Sämund, Ihr habt lange genug heute miteinander geredet.« – »Sämund ist ein verständiger Mann.« – »Aber ich fürchte, er ist[209] wenig unserm Herrn und Heiland ergeben.« – Hierauf antwortete Guttorm nichts. – – »Wo mag denn Synnöve jetzt sein?« fragte die Mutter. – »Oben in ihrer Kammer«, antwortete er. – »Du hast ja selbst vorhin bei ihr gesessen; wie war sie denn?« – »Ach –« – »Du solltest sie nicht soviel allein lassen.« – »Da kam jemand.« – Die Frau blieb einen Augenblick still. – »Wer war's?« – »Ingrid Granliden.« – »Ich dachte, sie ist noch auf der Alm.« – »Sie ist heute nach Hause gekommen, weil ihre Mutter in die Kirche wollte.« – »Ja, die hat sich ja auch heute dort mal sehen lassen.« – »Sie hat viel zu tun.« – »Das haben andre auch, aber wohin es einen zieht, dahin kommt er doch.« – Guttorm antwortete nicht. Nach einer Weile sagte Karen: »Außer Ingrid waren heute alle Granlidener in der Kirche.« – »Ja, wohl, um Thorbjörn wieder zum erstenmal hinzubegleiten.« – »Er sah schlecht aus.« – »Nicht besser, als zu erwarten war. Ich habe mich gewundert, daß er sich schon soweit erholt hat.« – »Ja, er hat sich mit seiner Torheit viel zugezogen.« – Guttorm blickte vor sich hin: »Er ist doch noch jung.« – »Es ist kein fester Kern in ihm, kein Verlaß.«
Guttorm hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, drehte ein Buch in der Hand, öffnete es, tat, als wenn er darin lese, und ließ die Worte dabei fallen: »Er soll bestimmt wieder ganz gesund werden.« – Die Mutter nahm auch ein Buch zur Hand: »Das wäre dem hübschen Burschen wirklich zu wünschen,« sagte sie; »unser Herrgott stehe ihm bei, daß er dann bessern Gebrauch davon macht.« – Nun lasen alle beide, dann sprach Guttorm beim Umblättern: »Er hat sie heut den ganzen Tag nicht angesehen.« – »Ja, das hab' ich auch bemerkt; er blieb still auf seinem Platz, bis sie fort war.« Eine Weile darauf äußerte Guttorm: »Glaubst Du, daß er sie vergessen wird?« – »Das wäre jedenfalls das Beste.«
Guttorm las weiter, seine Frau blätterte.
»Es ist mir weiter nicht angenehm, daß Ingrid immer bei ihr sitzt«, sagte sie. – »Synnöve hat ja fast keine[210] Menschenseele, mit der sie reden kann.« – »Sie hat uns.« – Da blickte Vater Guttorm sie an: »Wir wollen doch nicht zu streng sein.« Seine Frau schwieg; nach einer Weile erwiderte sie: »Ich habe es ja auch nicht verboten.« Der Vater legte das Buch fort, stand auf und sah aus dem Fenster. »Dort geht Ingrid«, sagte er. Kaum hatte die Mutter das gehört, so stand sie gleichfalls auf und lief schnell aus der Stube. Der Vater blieb noch lange am Fenster, dann drehte er sich um und ging auf und ab; bald kam Karen wieder und stellte sich vor ihn hin: »Ja, das hab' ich mir gleich gedacht«, sagte sie, »Synnöve sitzt oben und weint; aber sowie ich komme, dann kramt sie unten in ihrer Truhe«; und sie fuhr fort und schüttelte den Kopf: »Nein, es tut nicht gut, daß Ingrid bei ihr sitzt.« – Dann machte sie sich mit dem Abendessen zu schaffen und ging häufig durch die Tür aus und ein. Einmal, als sie gerade draußen war, kam Synnöve still und mit etwas geröteten Augen in die Stube; sie schlüpfte leicht an ihrem Vater, dem sie in das Gesicht sah, vorüber und hin zum Tisch, setzte sich und nahm ein Buch vor. Nach einem Weilchen legte sie es wieder fort und fragte ihre Mutter, ob sie ihr helfen könne. »Ja, das tu nur,« antwortete Karen, »Arbeit ist für alles gut.«
Synnöve übernahm den Tisch zu decken; der stand unweit vom Fenster. Der Vater, der bisher auf- und abgegangen war, kam nun dorthin und sah hinaus. »Die Gerste, die der Regen 'runtergedrückt hat, kommt, glaub' ich, wieder hoch«, sagte er. Da stellte sich Synnöve neben ihn und sah mit hinaus. Er wandte sich zu ihr, – seine Frau war gerade in der Stube – und so strich er nur mit der einen Hand über Synnöves Hinterkopf; dann nahm er seinen Gang wieder auf.
Sie aßen; aber in tiefer Stille; die Mutter sprach an diesem Tage das Gebet sowohl vor wie nach Tisch; und als alle aufgestanden waren, wünschte sie, sie sollten nun in der Bibel lesen und zusammen singen: »Gottes Wort gibt Frieden, und das ist doch im Hause der[211] größte Segen.« Dabei sah sie Synnöve an, die mit niedergeschlagenen Augen dastand. »Jetzt will ich Euch eine Geschichte erzählen,« sprach die Mutter weiter, »von der jedes Wort wahr ist, und ganz gut für den, der darüber nachdenken will.« – –
Und sie erzählte: »In meiner Jugend lebte in Houg ein Mädchen, die Enkeltochter eines alten, schriftgelehrten Amtmanns. Er hatte sie, als sie ganz jung war, zu sich genommen, um in seinem Alter Freude an ihr zu haben, und so lernte sie natürlich Gottes Wort und gutes Benehmen und Sitte. Sie faßte schnell auf, kam gut vorwärts und überholte im Lauf der Zeit uns alle; sie konnte schreiben, konnte rechnen, konnte ihre Schulbücher und fünfundzwanzig Kapitel der Bibel auswendig, als sie fünfzehn Jahr alt war; dessen erinnere ich mich, als wenn es heute wäre. Sie hielt mehr vom Lernen als vom Tanzen, und war darum selten bei lauten Festlichkeiten, doch häufiger oben in ihres Großvaters Stube bei den vielen Büchern zu sehen. Jedesmal, wenn wir mit ihr zusammenkamen, stand sie da, als wenn sie mit ihren Gedanken gar nicht zu uns gehörte, und wir sagten uns: ›Wenn wir doch nur so klug wären, wie Karen Hougen!‹ Sie sollte den Alten später beerben, und viele gute Burschen boten sich an, mit ihr mal auf Teilung zu gehen; aber alle bekamen Körbe. Zur selben Zeit kam der Pastorssohn aus dem Seminar nach Hause; er hatte dort nicht gut getan, immer nur Sinn für wilde Streiche gehabt und mehr böse Geschichten wie gute im Kopf; jetzt trank er sogar. ›Nimm Dich vor ihm in acht‹, sagte der Großvater, ›ich bin viel mit den Vornehmen zusammen gewesen, und nach meiner Erfahrung ist ihnen weniger zu trauen als den Bauern.‹ – Karen hörte immer mehr auf ihn als auf alle andern – und als sie später den Pastorssohn traf, ging sie ihm aus dem Wege; denn er hatte es auf sie abgesehen. Nirgends konnte sie mehr hin, ohne ihm zu begegnen. ›Geh weg,‹ sagte sie, ›es hilft Dir doch nichts.‹ Aber er lief ihr immer wieder nach, und so[212] geschah es, daß sie zuletzt doch mal stillstehn und ihn anhören mußte. Hübsch genug war er; als er aber zu ihr sagte, daß er nicht ohne sie leben könne, da trieb er sie damit weg. Nun lauerte er ihr auf; fortwährend umkreiste er ihr Haus, aber sie kam nicht vor die Tür; nachts stand er unter ihrem Fenster; aber sie ließ sich nicht blicken; er sagte, er werde sich ein Leid antun; aber Karen wußte, was sie wußte. Da fing er wieder an, mehr zu trinken. – ›Nimm Dich in acht,‹ sagte der Alte, ›das ist alles Teufelslist.‹
Eines Tages, als Karen in ihrer Stube war, stand plötzlich, ohne daß man wußte, wie er hereingekommen war, der Pastorssohn vor ihr. ›Jetzt töte ich Dich‹, sagte er. ›Ja, wenn Du Dich getraust!‹ antwortete sie. Da fing er zu weinen an und sagte, daß es in ihrer Macht stehe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. ›Kannst Du ein halbes Jahr das Trinken lassen?‹ sagte sie. Und er ließ es ein halbes Jahr. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er. ›Nicht bis Du Dich ein halbes Jahr allen lauten Vergnügungen fern gehalten hast.‹ Das tat er. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er. ›Nicht, wenn Du jetzt nicht fortreist und Dein Examen machst.‹ Auch das tat er, und nach einem Jahr kam er als richtiger Pastor zurück. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er und hatte noch dabei Pastorenmantel und Kragen angelegt. ›Jetzt will ich Dich ein paarmal Gottes Wort verkündigen hören.‹
Und das tat er klar und rein, wie es einem Pastor ziemt; er redete über seine eigene Niedrigkeit, und wie leicht der Sieg sei, wenn man ernstlich kämpfe, und von der Bedeutung der Worte Gottes, wenn man erst hin zu ihnen gefunden habe. Dann ging er wieder zu Karen. ›Ja, jetzt glaube ich, daß Du nach der wahren Erkenntnis lebst,‹ sagte Karen, ›und nun will ich Dir erzählen, daß ich schon drei Jahre mit meinem Vetter Andreas Hougen verlobt bin, und am nächsten Sonntag sollst Du uns in der Kirche aufbieten.‹ – –«
Damit schloß die Mutter. Synnöve hatte anfangs[213] gar nicht auf die Geschichte geachtet; dann aber stärker und stärker und zuletzt hing sie förmlich an jedem Wort. »Folgt nichts weiter?« fragte sie sehr bange. »Nein,« antwortete die Mutter. Der Vater sah die Mutter an; da blickte die Mutter etwas unsicher zur Seite, dann sagte sie nach kurzem Nachdenken, und fuhr dabei mit den Fingern über die Tischplatte: »Es mag wohl noch etwas folgen; – – aber das ist ja gleich.« – »Folgt noch etwas?« fragte Synnöve und wandte sich zu ihrem Vater, der ihr davon zu wissen schien. – »Oh – ja; aber wie Mutter sagt: das ist ja gleich.« – »Wie erging es ihm?« fragte Synnöve. »Ja, darum handelt sich's ja gerade«, antwortete der Vater und sah die Mutter an; die hatte sich mit ihren Schultern an die Wand gelehnt und sah beide an. – »Wurde er unglücklich?« fragte Synnöve leise. »Wir machen den Schluß dort, wo er gemacht werden soll«, sagte die Mutter und stand auf; der Vater ebenfalls; Synnöve etwas später.
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