[147] Die Kirche stellt der Bauer in seinen Gedanken auf einen hohen Platz, auf einen Platz für sie allein; er sieht sie in Heiligkeit, umgeben vom feierlichen Ernst der Gräber, erfüllt von der frischen Lebenskraft des Gottesdienstes. Sie ist das einzige Haus, bei dessen Bau er Pracht entfaltet hat, und deshalb ragt ihre Turmspitze für seine Anschauung weit höher, als sie in der Tat ist. Ihre Glocken grüßen ihn am klaren Sonntagsmorgen den ganzen Weg entlang auf dem Gange zu ihr, und er zieht immer den Hut vor ihnen ab, als wollte er sagen: »Dank für das vorige Mal!« Es ist ein geheimes Band zwischen ihm und den Glocken. In den frühesten Lebensjahren stand er wohl im offenen Haustor und lauschte ihrem Klang, während unten auf dem Wege die Kirchgänger still vorbeizogen; Vater schloß sich an, er selbst war noch zu klein. Damals verband er so[147] manche verschiedenartige Vorstellungen mit diesem schweren, starken Schall, der ein oder zwei Stunden zwischen den Felsen dröhnte und sich von einem zum andern schwang; aber eine Vorstellung war ihm unzertrennbar davon: saubere Röcke und Hosen, Frauen in ihrem besten Schmuck und Staat, geputzte Pferde mit blankem Geschirr.
Und wenn dann die Glocken sein eigenes Glück einläuten, wenn er selbst im funkelnagelneuen, aber etwas für ihn zu großen Anzug wichtig an Vaters Seite zur Kirche geht, – welcher Jubel tönt da aus ihrem Klang! Da können sie wohl alle Tore sprengen zu dem, was er schauen soll! Und wenn sie dann auf dem Rückweg über seinem Kopf lärmen, der noch schwer, noch von den Gesängen, Gebeten, Pastorsworten, die sich darin wiegen und kreuzen, wirr ist, wenn alle die früher nie gesehenen Bilder: Altargemälde, Trachten, Personen, vor seinen Augen auf- und abjagen – dann wölbt auch ihr Geläute für immer das Dach über die gesammelten Eindrücke und weiht die kleine Kirche ein, die er fortan im Herzen trägt.
Ist er etwas älter geworden, dann muß er zu Berg und das Vieh hüten; aber wenn er an einem schönen, taufrischen Sonntagsmorgen auf einem Stein zwischen seiner Herde sitzt, und die Kirchenglocken die Schellen der Tiere übertönen, dann wird er schwermütig. Denn aus den Glockentönen klingt etwas Lustiges, Leichtes, Lockendes von dort unten herauf; sie wecken die Erinnerung an Bekannte vor und in der Kirche, an die Freude, dort zu sein, an die vielleicht noch größere, dort gewesen zu sein, zu Hause gutes Essen, die Eltern, die Geschwister zu finden, – sie erzählen vom Spiel auf den Grasflecken am vergnüglichen Sonntagsabend, – und dann gerät das kleine Herz des Jungen in Aufruhr. Aber schließlich: es sind doch die Kirchenglocken, die erklingen; und so sucht und findet er doch in seinem Kopf das Bruchstück eines Gesangbuchliedes, das er zur Not auswendig weiß, und er singt es mit gefalteten Händen und blickt weit[148] dabei ins Tal hinunter, spricht ein kurzes Gebet, springt auf und stößt in sein Hirtenhorn, daß die Töne gegen die Bergwände schmettern.
Hier in den stillen Felsentälern hat die Kirche noch für jedes Lebensalter ihre besondere Sprache, für jedes Auge ihr besonderes Aussehen. Erwachsen und fertig steht sie vor dem Konfirmanden, – mit aufwärts gerecktem Finger, halb drohend, halb winkend, vor dem Jüngling, der seine Wahl getroffen hat, – breitschultrig und stark vor dem sorgenden Mann, – geräumig und mild vor dem müden Greise. Mitten im Gottesdienst werden die jüngst geborenen Kinder hereingetragen und getauft und, wie bekannt, ist während dieser Feier die Andacht am größten.
Man kann deshalb nie ein richtiges Bild von den norwegischen Bauern, von verderbten oder unverdorbenen, wiedergeben, ohne an irgendeiner Stelle die Kirche als Hintergrund heranzuziehen. Dadurch entsteht eine gewisse Einförmigkeit; aber das ist nicht das Schlimmste. Dies sei hier ein für allemal hervorgehoben, und nicht nur mit Bezug auf den Kirchgang, von dem jetzt berichtet werden soll.
Thorbjörn war sehr vergnügt über den Gang und alles Neue; merkwürdig viele Farben spielten in sein Auge draußen vor der Kirche; in ihrem Inneren fühlte er den Druck der Stille, der auf allen und allem schon vor Beginn des Gottesdienstes lag; und obgleich er beim Vorlesen des Gebetes vergessen hatte, den Kopf zu senken, war es ihm doch, als beuge der Anblick von den mehreren hundert gesenkten Köpfen auch den seinen. Der Gesang setzte ein; alle um ihn her sangen mit einemmal; ihm wurde fast ängstlich zumute. So versunken saß er da, daß er wie aus einem Traum auffuhr, als die Tür sacht geöffnet wurde und ein Mann neben Vaters Sitz trat. Wie das Lied zu Ende war, gab Vater dem Hereingekommenen die Hand und fragte: »Wie geht's in Solbakken?«
Thorbjörn schlug die Augen auf, aber so genau er[149] hinsah und suchte, eine Verbindung zwischen dem Mann und Trollen oder irgend welcher Hexerei konnte er nicht finden. Der Mann hatte ein sanftes Gesicht, blondes Haar, große blaue Augen unter einer hohen Stirn und eine stattliche Figur; er lächelte, wenn jemand mit ihm sprach, und sagte auf alle Worte Sämunds »Ja«, sonst redete er wenig. – »Jetzt will ich Dir auch Synnöve zeigen«, meinte der Vater und wies nach dem Frauenplatz gerade gegenüber. Dort kniete ein kleines Mädchen oben auf der Bank und sah über den Rand der Brüstung; es war noch blonder als der Mann, so blond, wie er noch keins gesehen hatte. Rote Bänder flatterten von ihrem Hut über dem Flachshaar, und sie lachte ihm zu, so daß er eine ganze Weile auf nichts anderes blicken konnte als auf ihre weißen Zähne. In der einen Hand hielt sie ein blinkendes Gesangbuch, in der anderen ein zusammengefaltetes, rotgelbes seidnes Taschentuch, und sie machte sich den Spaß, mit dem Taschentuch auf das Gesangbuch zu schlagen. Je mehr er sie anstarrte, desto mehr lachte sie; und nun wollte er auch auf die Bank hinauf, ebenso hoch wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie ein paar Minuten ernst an, dann nickte er. Sie lachte und nickte wieder, und noch einmal, und noch einmal. Dann lachte sie; nickte aber nicht mehr, – nach kurzer Zeit, als er nicht mehr daran dachte, nickte sie.
»Ich will auch sehen«, hörte er eine Stimme hinter sich, und im selben Augenblick wurde er am Bein gepackt und heruntergezerrt, so daß er beinahe hingefallen wäre. Das hatte ein kleiner Bengel zuwege gebracht, der sich jetzt tapfer auf Thorbjörns Platz hinaufarbeitete. Aslak hatte Thorbjörn gründlich belehrt, wie er mit bösen Buben in der Schule oder Kirche verfahren sollte, deshalb kniff er den Jungen in sein Hinterteil, so daß der fast geschrien hätte; aber er nahm sich zusammen, krabbelte schnell herunter und faßte Thorbjörn bei beiden Ohren. Thorbjörn packte ihn beim Schopf und warf ihn hin; noch schrie der kleine Kerl nicht, aber er[150] biß seinen Gegner ins Bein. Thorbjörn zog es zurück und drückte das Gesicht des andern fest auf den Boden, da wurde er selbst beim Kragen genommen und wie ein Strohsack hochgehoben, – von seinem Vater, der ihn vor sich auf das Knie setzte. »Wenn wir jetzt nicht in der Kirche wären, dann kriegtest Du gleich Deine Prügel«, flüsterte er ihm ins Ohr und packte ihn so fest bei der Hand, daß es Thorbjörn bis zu den Sohlen prickelte und stach. Dann erinnerte Thorbjörn sich wieder an Synnöve und sah zu ihr hinüber; sie war noch auf ihrem früheren Platz; aber starrte ganz betroffen und ängstlich vor sich hin. Da fing es in ihm zu dämmern an; was er getan hatte, mußte wohl ganz toll und schlimm gewesen sein! Sowie sie merkte, daß er sie ansah, kroch sie von der Bank herunter und ließ sich nicht wieder blicken.
Der Küster, der Pastor trat vor; wohl hörte er und sah er hin auf beide – und wieder kam der Küster und wieder der Pastor – aber er saß immer noch auf dem Knie seines Vaters und hatte eigentlich nur den einen Gedanken: wird sie bald wieder hersehen? Der Bengel, der ihn von der Bank heruntergezogen hatte, hockte weiter hinten auf einem Schemel und bekam jedesmal, wenn er aufstehen wollte, einen Puff in den Rücken von der Hand eines Alten, der auf seinem Stuhl im Halbschlaf nickte, aber regelmäßig aufwachte, wenn der Junge Miene machte, hochzukommen. »Wird sie nicht bald wieder hersehen?« dachte Thorbjörn; und jedes rote Band, das sich in seiner Umgebung bewegte, erinnerte ihn an Synnöves; und jedes alte Bild an der Kirchenwand war ebenso groß oder kleiner als sie. Ja, jetzt streckte sie den Kopf hoch; aber sobald sie Thorbjörn sah, duckte sie sich wieder. – Der Küster trat noch einmal vor, und auch der Pastor; dann läutete es, und die Gemeinde stand auf. Der Vater sprach wieder mit dem blonden Mann; sie gingen zusammen zu den Frauenplätzen hinüber, wo auch schon alles aufgestanden war. Die erste, die herauskam, war eine blonde Frau; sie[151] lächelte, aber nicht so ausgesprochen, wie der Mann, war sehr klein und blaß, und hielt Synnöve an der Hand. Thorbjörn ging gleich auf das Kind zu, aber es lief weg und versteckte sich hinter seiner Mutter: »Ich will nicht«, rief es. »Er ist wohl noch nie in der Kirche gewesen«, sagte die Frau und legte die Hand auf des Knaben Schulter. »Nein,« antwortete Sämund, »sonst hätte er sich heute nicht geprügelt.« Thorbjörn sah ganz beschämt sie und dann Synnöve an, die ihm noch viel ernster schien. Sie gingen alle aus der Kirche – die älteren im Gespräch, Thorbjörn hinter Synnöve; die drängte sich immer dicht an ihre Mutter, sobald er ihr näherkam. Den anderen Jungen sah er nicht mehr. Draußen blieb die ganze Gesellschaft stehen und fing eine längere Unterhaltung an. Thorbjörn hörte mehrmals den Namen »Aslak« heraus, und da er bange war, daß sie auch über ihn selbst reden könnten, blieb er einige Schritte zurück. »Du brauchst das nicht mit anzuhören,« sagte die Mutter zu Synnöve, »geh ein bißchen weiter, mein liebes Kind; geh, sag' ich.« Synnöve trat widerwillig zurück. Thorbjörn ging auf sie zu und sah sie an; und sie sah ihn an; und so standen sie ein Weilchen und sahen sich an. Endlich sagte sie: »Pfui!« – »Warum sagst Du Pfui!« fragte er. – »Pfui!« sagte sie noch einmal, »Pfui, Du solltest Dich lieber was schämen«, setzte sie hinzu. – »Was habe ich denn getan?« – »Geprügelt hast Du Dich, während der Pastor dastand und Gottesdienst hielt, – Pfui!« – »Ja, das ist doch aber schon so lange her.« – Das leuchtete ihr ein, und sie fragte kurz darauf: »Bist Du Thorbjörn Granliden?« – »Ja, und bist Du Synnöve Solbakken?« – »Ja, ich habe immer gehört, daß Du so'n artiger Junge bist.« – »Nein, das ist nicht wahr; ich bin zu Hause der allerschlimmste«, sagte Thorbjörn. – »Hör' mal einer an!« sagte Synnöve und schlug ihre beiden kleinen Hände zusammen: »Mutter, Mutter, er sagt –« – »Sei still und geh fort«, rief die Mutter und die Kleine machte Halt, ging wieder langsam und rückwärtsschreitend[152] nach hinten, heftete aber dabei die großen, blauen Augen stetig auf ihre Mutter. – »Ich habe immer gedacht, Du bist so artig!« – »Ja, manchmal, wenn ich in der Bibel gelesen habe«, antwortete sie. – »Sag' mal, ist es wahr, daß da drüben bei Euch alles dick voll von Kobolden und Trollen und anderen Hexenkram steckt?« fragte er und stemmte die eine Hand in die Seite, setzte den einen Fuß vor und stützte sich auf den andern – genau wie Aslak. – »Mutter, Mutter, weißt Du, was er gesagt hat ...« – »Laß mich doch zufrieden, hörst Du nicht! Und komm nicht her, wenn Du nicht gerufen wirst!« – Synnöve mußte wieder langsam nach hinten; sie steckte dabei einen Zipfel vom Taschentuch zwischen die Zähne, biß ihn fest und zog daran. – »Ist das also nicht wahr, daß bei Euch das Hügelvolk jede Nacht unten Musik macht?« – »Nein!« – »Dann hast Du wohl noch nie bei Euch einen Troll gesehen?« – »Nein!« – »Aber Jesus soll mir bei ...« – »Pfui, so was darfst Du nicht sagen!« – »Ach was, das schadet nichts«, sagte er und spuckte durch die Zähne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken könne. – »Doch,« sagte sie, »dann kommst Du in die Hölle.« – »Meinst Du?« fragte er bedeutend kleinlauter; denn er dachte, er könne höchstens Prügel dafür kriegen, und sein Vater stand ja jetzt weit weg. – »Wer ist denn bei Euch zu Hause der Stärkste?« fuhr er nach einer Weile fort und rückte seine Mütze mehr nach einer Seite. – »Das weiß ich nicht.« – »Bei uns ist es Vater; ja, der ist so stark, daß er Aslak verhauen hat, und Aslak ist stark, das kannst Du glauben.« – »Na ja –« – »Er hat mal ein Pferd hochgehoben.« – »Ein wirkliches Pferd?« – »Ja, das ist wahr, ganz gewiß wahr – er hat's mir selber erzählt.« – Daraufhin durfte sie nicht länger daran zweifeln. – »Wer ist denn Aslak?« fragte sie. – »Du, das ist ein ganz Schlimmer, weißt Du; aber Vater hat ihn verhauen; ich sage Dir, noch nie hat einer soviel Prügel gekriegt.« – »Prügelt Ihr Euch denn zu Hause?« – »Ja, manchmal, Ihr nicht?«[153] – »Nein, nie.« – »Na, was macht Ihr denn eigentlich?« – »Mutter sorgt fürs Essen und strickt und näht. Das tut Kari auch, aber lange nicht so gut wie Mutter, weil sie faul ist; Randi besorgt die Kühe; und Vater und die Knechte arbeiten auf dem Feld oder auch zu Hause.« – Diese Erklärung befriedigte ihn. – »Abends lesen wir in der Bibel und singen,« fuhr sie fort, »und Sonntags auch.« – »Du, das muß aber langweilig sein.« – »Langweilig? Mutter, er sagt ...« aber dann erinnerte sie sich, daß sie das Gespräch der Alten nicht stören durfte. – »Ich habe eine Menge Schafe«, sagte sie. – »So?« – »Ja, drei gehen mit Winterlämmern und das eine, glaube ich, wirft bestimmt zweie.« – »Schafe hast Du?« – »Ja, auch Kühe und Ferkel, hast Du keine?« – »Nein.« – »Wenn Du zu uns kommst, dann gebe ich Dir ein Lamm ab; und, paß mal auf, davon bekommst Du wieder Kleine.« – »Das wär' aber ein Spaß!« – Ein Weilchen blieben sie still. – »Kann Ingrid nicht auch ein Lamm kriegen?« fragte er. – »Wer ist denn Ingrid?« – »Na, Ingrid, Ingridchen.« – Sie kannte doch aber Ingrid gar nicht. – »Ist sie kleiner als wie Du?« – »Gewiß doch, ungefähr so groß wie Du.« – »Ach, die mußt Du mitbringen, hörst Du?« – Ja, das wollte er. – »Aber«, sagte sie, »wenn Du ein Lamm bekommst, kann sie ein Ferkel bekommen.« – Das fand er auch viel netter, und nun erzählten sie sich etwas von gemeinschaftlichen Bekannten, von denen sie nicht arg viel hatten. Dann war die Unterhaltung der Eltern zu Ende, und sie mußten nach Hause gehen.
Nachts träumte er von Solbakken; er meinte dort lauter weiße Lämmer zu sehen und zwischen ihnen ein kleines Mädchen mit blondem Haar und roten Bändern; – Ingrid und er sprachen alle Tage davon. Sie hatten schon im voraus soviel Lämmer und Ferkel zu besorgen, daß sie es gar nicht schaffen konnten; aber sie wunderten sich sehr, daß sie nicht sofort zu Synnöve durften. »Auf die Einladung von dem Kind?« sagte die Mutter[154] »nein, das paßt sich nicht.« – »Warte bis Sonntag,« sagte Thorbjörn, »dann werden wir ja sehen.«
Der Sonntag kam. »Du sollst so sehr prahlen und lügen und fluchen,« sagte Synnöve zu ihm, »und da darfst Du nicht zu uns kommen, bis Du das nie wie der tust.« – »Wer hat das gesagt?« fragte Thorbjörn erstaunt. – »Mutter.«
Ingrid erwartete ihn schon sehr gespannt zu Hause. Als er wiederkam, erzählte er, wie es ihm ergangen war. »Da hast Du's«, sagte die Mutter. Aber von dieser Stunde erinnerten sie ihn jedesmal daran, wenn er fluchte oder prahlte. Dabei kam es einmal zwischen ihm und Ingrid bis zur Prügelei, weil sie nicht einig darüber wurden, ob »mich soll gleich der Hund beißen« als Fluch gelten dürfe oder nicht. Ingrid bekam Schläge von ihm, und nun gebrauchte er die Redensart den ganzen Tag. Doch abends hörte sie der Vater. »Gleich wird er Dich beißen«, sagte er, und nahm sich Thorbjörn so vor, daß dieser hinpurzelte. Da schämte er sich, und am meisten vor Ingrid; aber kurz darauf ging sie zu ihm und streichelte ihn.
Endlich, nach ein paar Monaten, durften sie hinüber nach Solbakken; dann kam Synnöve zu ihnen, sie beide wieder zu ihr, und so verkehrten sie die ganzen folgenden Jahre zusammen. Thorbjörn und Synnöve wetteiferten beim Lernen miteinander; sie gingen in dieselbe Klasse, und zuletzt überholte er sie; er wurde ein so tüchtiger Schüler, daß der Pastor sich seiner ganz besonders annahm. Ingrid kam nicht recht mit, und die beiden halfen ihr; sie und Synnöve wurden unzertrennlich, die Leute nannten sie »Schneehühner«, weil sie beide immer zusammen ausflogen und so hell aussahen.
Aber mitten drin wurde Synnöve oft mit Thorbjörn böse, weil er so wild war und immer in Händel geriet. Dann versöhnte Ingrid sie, und sie lebten wieder als gute Freunde wie zuvor. Doch hörte Synnöves Mutter von einer seiner Schlägereien, so erlaubte sie nicht, daß er in derselben Woche, kaum in der nächsten,[155] nach Solbakken kam. Sämund durfte nichts davon erfahren; er geht so hart mit dem Jungen um, sagte seine Frau und verbot, davon zu reden.
Als sie heranwuchsen, waren alle drei fein anzusehen; jedes hatte seinen besonderen Vorzug. Synnöve wurde groß und schlank, bekam goldblondes Haar und ein zartes, leuchtendes Gesicht mit stillen, blauen Augen. Beim Sprechen lächelte sie, und bald hieß es bei den Leuten: »Zum Segen wird es jedem, den Synnöves Lächeln trifft.« Ingrid war untersetzter und dicker; sie hatte noch blonderes Haar als Synnöve und ein ganz kleines rundes Gesicht mit weichen Zügen. Thorbjörn war mittelgroß, besonders gut gewachsen, hatte schwarze Haare, dunkelblaue Augen, einen scharfgeschnittenen Kopf und starke Gliedmaßen. Geriet er in Hitze, dann sagte er gewöhnlich, er könnte ebenso gut lesen und schreiben wie der Lehrer und fürchte keinen Menschen im ganzen Tal; – bis auf seinen Vater, dachte er, aber das sprach er nicht aus.
Er wollte schon früh konfirmiert werden; aber dar aus wurde nichts. »Solange Du noch nicht konfirmiert bist, giltst Du noch als Junge, und ich habe Dich mehr in meiner Gewalt«, sagte sein Vater; infolgedessen ging er erst zur selben Zeit wie Synnöve und Ingrid zum Pastor. Auch Synnöve hatte lange warten müssen, fast bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr. »Man kann nie genug wissen, wenn man sein Bekenntnis vor Gott ablegen soll«, hatte die Mutter gesagt, und der Vater, Guttorm Solbakken, hatte zugestimmt. Daher war es nicht eben unerklärlich, daß sich schon zwei Freier meldeten: der eine der Sohn eines besseren Mannes, der andere ein reicher Nachbar. »Da hört doch alles auf, – sie ist ja noch nicht mal konfirmiert.« – »Dann wollen wir sie konfirmieren lassen«, sagte der Vater. Aber davon erfuhr Synnöve nichts.
Der Frau und den Töchtern des Pastors gefiel sie so gut, daß sie von ihnen zu einem Gespräch in das Haus gerufen wurde. Ingrid und Thorbjörn standen unterdessen[156] mit den anderen Konfirmanden draußen, und als einer von den Burschen zu ihm sagte: »Du darfst nicht mit 'rein? Paß' auf, die schnappen sie Dir bestimmt fort«, da brachten ihm diese Worte ein blaues Auge ein. Seitdem machten sich seine Kameraden immer ein Vergnügen daraus, Thorbjörn mit Synnöve zu necken, weil sie genau wußten, daß nichts anderes ihn so ärgern und in Wut versetzen konnte. Schließlich kam es, nach vorheriger Verabredung, in einem Walde beim Pfarrhof deswegen zu einer tüchtigen Rauferei, die sich so zuspitzte, daß Thorbjörn es mit einem ganzen Haufen Angreifer auf einmal zu tun kriegte. Die Mädchen waren schon vorausgegangen, und daher niemand da, der dazwischen treten und die Burschen trennen konnte; immer hitziger und hitziger wurden die Gemüter. Thorbjörn wollte auch der Übermacht gegenüber nicht klein beigeben und war nicht wählerisch in der Art seiner Verteidigung; dabei hagelte es Hiebe, die später selber den Vorfall kundtaten. Nun kam auch die Veranlassung heraus und wurde überall viel besprochen.
Am nächsten Sonntag wollte Thorbjörn nicht in die Kirche, und als er am folgenden Tage in die Pastorstunde sollte, stellte er sich krank; deshalb ging Ingrid allein. Bei ihrer Rückkehr fragte er sie, was Synnöve gesagt habe. »Nichts.«
Als er nun wieder mitging, glaubte er zu bemerken, daß alle Leute ihn ansähen und die Konfirmanden grinsten und kicherten. Synnöve kam später als die andern und war nachher viel im Pastorhause. Er fürchtete vom Pastor ausgescholten zu werden, aber er entdeckte schnell, daß nur zwei nichts von der Rauferei wußten, sein Vater und der Pastor. Das war ja soweit ganz gut; aber wie er mit Synnöve wieder in ein Gespräch kommen könne, das wußte er nicht; denn es genierte ihn zum erstenmal, Ingrid um Hilfe zu bitten. Nach Schluß des Unterrichts ging Synnöve wieder zu Pastors; er wartete, solange noch andere dablieben, mußte aber dann auch fort. Ingrid war schon weit voraus.[157]
Das nächste Mal war Synnöve früher als alle übrigen gekommen und spazierte mit einer der Pastorstöchter und einem jungen Herrn im Garten umher. Das Fräulein zog Blumen mit der Wurzel heraus und gab sie Synnöve; der Herr half dabei; und Thorbjörn stand mit den andern draußen und sah zu. Da drin sehr laut gesprochen wurde, hörten sie, wie man Synnöve erklärte, in welcher Weise diese Blumen eingesetzt werden müßten, und wie sie versprach, das selbst zu tun, damit es sorgfältig gemacht würde. »Das kannst Du ja gar nicht allein,« sagte der Herr; und das gab Thorbjörn zu denken. – Als Synnöve zu den andern herauskam, wurde sie von ihnen mit noch größerer Achtung wie gewöhnlich begrüßt; sie schritt aber direkt auf Ingrid zu, sagte ihr guten Tag und bat sie, mit ihr auf die Wiese zu gehen. Dort setzten sie sich hin; sie hatten sich ja lange nicht richtig ausgesprochen. Thorbjörn stand wieder bei den andern und sah nach Synnöves feinen, ausländischen Blumen.
An diesem Tage ging Synnöve zu derselben Zeit wie die übrigen nach Hause. »Darf ich Dir vielleicht die Blumen tragen?« fragte Thorbjörn. – »Bitte«, antwortete sie sanft, doch ohne ihn anzusehen, faßte Ingrid bei der Hand und schritt mit ihr voran. Am Wege nach Solbakken blieb sie stehen und nahm von Ingrid Abschied. »Das Stückchen kann ich sie schon selbst tragen«, sagte sie und hob den Korb auf, den Thorbjörn hingesetzt hatte. Bei jedem Schritt bis hierher war es eigentlich seine Absicht gewesen, ihr anzubieten, die Blumen für sie einzupflanzen, aber nun brachte er es nicht mehr übers Herz, weil sie sich zu schnell umdrehte. Doch konnte er an nichts anderes denken, als daß er ihr eigentlich dabei helfen müßte. »Wovon sprecht Ihr denn?« fragte er Ingrid. »Von nichts.«
Als er alle im Bett wußte, zog er sich wieder an und verließ den Hof. Der Abend war schön, war mild und still, der Himmel von dünnen, blaugrauen Wolken überzogen; ihr Flor hatte sich hier und dort gelöst, und nun[158] sah es aus, als ob blaue Augen von oben Umschau hielten. Keine Menschenseele ließ sich bei den Höfen und weiter draußen blicken, doch überall im Grase zirpten die Heuschrecken; rechts lockte eine Wachtel, links antwortete eine zweite, und nun erhob sich auf allen Seiten ein Singen, so daß ihm, dem Dahinschreitenden, zumute war, als ob er in großer Begleitschaft ginge, wenngleich er nicht das Geringste davon sehen konnte. Der Wald zog sich blau, dann dunkler und dunkler die Böschungen entlang und nahm sich zuletzt wie ein großes Nebelmeer aus; aber durch den wogenden Schleier hörte er den Auerhahn sich melden und laut werden, eine einzelne Eule schrie und der Wasserfall sang seine alten, harten Reime stärker als je; – jetzt, da sich alles niedergelassen hatte, um sie anzuhören. Thorbjörn sah nach Solbakken hinüber und schritt weiter. Er bog vom gewöhnlichen Wege ab, kam schnell vorwärts und bald stand er in dem kleinen Garten, der Synnöve gehörte und unterhalb eines Bodenfensters lag, gerade des Fensters, hinter dem sie schlief. Er lauschte und lugte, alles war leer und still, dann sah er sich im Garten nach Arbeitsgeräten um und fand richtig sowohl Spaten wie Harke. Der Anfang zu einem Beet war schon versucht worden; aber nur ein kleiner Streifen fertig; zwei Blumen hatte jemand bereits eingesetzt, vermutlich um zu probieren, wie es aussehe. »Die Ärmste ist müde geworden und wieder weggegangen«, dachte er; »hier muß ein Mann 'ran«, dachte er weiter, und machte sich an das Werk. Er verspürte nicht die geringste Lust zum Schlaf; ja, nie schien ihm eine Arbeit leichter von der Hand gegangen zu sein. Er erinnerte sich, wie die Blumen eingesetzt werden müßten, erinnerte sich, wie sie im Pfarrhof standen, und beachtete beides gewissenhaft dabei. So verging die Nacht, er merkte nichts davon; er gönnte sich kaum ein Weilchen zum Ausruhen, grub das ganze Beet um, pflanzte die Blumen ein, versetzte eine oder die andere, damit es noch schöner aussehe, und guckte ab und zu nach dem Bodenfenster, ob er[159] doch vielleicht bemerkt wurde. Weder dort noch anderswo war jemand zu sehen; er hörte nicht einmal einen Hund bellen, bevor der Hahn krähte und die Vögel im Walde erwachten, sich, – jetzt dieser, jetzt jener, – aufsetzten, um »Guten Morgen« zu singen. Während er rings um das Beet die Erde mit dem Spaten festschlug, fielen ihm die Märchen von Aslak ein, und er erinnerte sich, wie er damals geglaubt hatte, in Solbakken wüchsen Trolle und Kobolde aus der Erde. Da sah er zum Bodenfenster hinauf und lächelte: Was wird sich wohl Synnöve denken, wenn sie herunterkommt? Es wurde ganz hell; die Vögel vollführten schon einen schauderhaften Spektakel; schnell sprang er über den Zaun und machte, daß er nach Hause kam. So! Nun sollte mal einer beweisen, daß er Synnöves Blumen eingepflanzt habe.
Buchempfehlung
Hume hielt diesen Text für die einzig adäquate Darstellung seiner theoretischen Philosophie.
122 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro