VII.

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Seit acht Tagen saß Graf Xaver Krastinik, der neugebackene Vormund des unmündigen Majoratsherrn, auf dem Schloß seiner Väter. Die gänzliche Umwandlung[531] seiner Lebensverhältnisse überraschte ihn kaum mehr. So märchenhaft reich an Schicksalsschlägen war sein früher so eintönig ruhiges Leben in den letzten zwei Jahren verflossen, daß die Nachricht, welche ihn in Siebenbürgen empfing, ihn kaum befremdete. So eilig er dem Heimruf gefolgt, war er zu spät gekommen. Sein Bruder hatte bei dem Sturz mit dem Pferde so schwere innere Verletzungen davongetragen, daß er drei Tage darauf starb, ein kraftstrotzender Mann in der Blüthe seiner Jahre. Da er seit Jahren Wittwer, setzte sein Testament naturgemäß seinen Bruder zum Vormund der beiden hinterlassenen Kinder Graf Koloman und Comtesse Julie ein. So überkam Xaver die Verantwortung und Pflicht, den ausgedehnten Familienbesitz noch neun Jahre als Vormund zu verwalten.

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Neun Jahre hier verbauern! Es fiel ihm unendlich schwer, sich an diese Aussicht zu gewöhnen und sich auch nur für's erste behaglich einzurichten.

Das Gefühl der Behaglichkeit läßt sich nicht erzwingen: Es ist einfach da oder nicht. Ein ganz gesunder Mensch fühlt die Existenz selbst als Genuß.

Durch andrer Warnung wurde noch nie ein Mensch gebessert. Man muß sich selbst erziehn, indem man aus eigner Erfahrung für alle Dinge bezeichnende Formeln findet.

Die Strafe der widerwärtigen Abhängigkeit von Außendingen bleibt niemals aus. Nur das Innere bleibt[532] fehlerlos, während die Außenwelt unaufhörliche Fehler birgt. Geistige Arbeit scheint einzige Rettung, indem sie ganz über die Außendinge hinweghilft.

Aber wo entsprechende geistige Arbeit finden! Denn diejenige des ästhetischen Dilettantismus entwürdigt einen männlichen Geist.

Krastinik warf sich schon seit geraumer Zeit auf Naturwissenschaften, wozu die alte wurmstichige Bibliothek seines Schlosses ihm ausreichende Mittel zu gewähren schien. Allein, nur unter dem bildungsdurstigen Geschlecht Ende des vorigen, Anfang dieses Jahrhunderts, hatte man dieselbe bereichert und so fand er denn hauptsächlich französische und englische Werke dieses Genres aus der Blüthezeit der ersten Periode des modernen Materialismus, während die spätere Metaphysik der Deutschen durch Abwesenheit glänzte.

Er studirte die Encyclopädisten, das berühmte »System der Natur« Holbachs und »Ueber den Geist« von Helvetius.

Gedanken? Eine Fähigkeit, Eindrücke zu empfangen und sich derselben hinterher zu erinnern, welche wir mit jedem thierischen Lebewesen gemein haben. Das Gedächtniß, vielleicht die wichtigste Grundlage höheren Geisteslebens, muß als ein bloßes Organ Physischer Empfindung und das Urtheil auch nur als Empfindung betrachtet werden. »Juger n'est proprement que sentir.« Was sind also Pflicht, Tugend und all diese schönen Worte? Man prüfe ihr Verhältniß zu den Sinnen, inwieweit sie physische Lust erregen. Laster und Tugend sind also nur[533] das Ergebniß unsrer Leidenschaften und diese richten sich nach der physischen Reizbarkeit für Schmerz und Lust. Nur so entstand der Sinn für Gerechtigkeit, indem aus Schmerz und Lust das Gefühl des allgemeinen Interesses erwuchs, welches man schützen wollte. Freundschaft erklärt sich nur aus dem Interesse, unsre Lust zu vermehren oder unsern Schmerz durch Theilnahme zu mindern. Den Ruhm erstrebt man lediglich wegen seines Vergnügens, respektive wegen anderer Vergnügungen, die man aus seinem Besitz erhofft. Das Gute um des Guten willen zu lieben ist eine Chimäre, das Böse um des Bösen willen zu wollen ist unmöglich. Was wir sind, dazu macht uns nur die Außenwelt.

Aehnlich die Analyse der menschlichen Fähigkeiten, welche Condillac in seiner Abhandlung »Ueber die Empfindungen« versucht. Empfindung sei nichts als Eindruck äußerer Einwirkungen. Reflexion sei nur Sensation, ein Kanal der Vorstellungen, welche aus den Sinnen allein sich herleiten. Unsere Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand ist nur die Empfindung, die uns dieser Gegenstand erregt. Und Vergleich zweier Gegenstände ist nur doppelte Aufmerksamkeit, nicht etwa eine Folge der Aufmerksamkeit, also ist das Urtheilen, was bereits im Prozeß des Vergleichens liegt, auch nur das Aufmerken einer Empfindung. So entsteht das Gedächtniß als ein ungeformter sinnlicher Eindruck und Einbildungskraft leitet sich wieder vom Gedächtniß her, indem erstere das Abwesende als gegenwärtig empfindet. Daraus folgt dann der überraschende Schluß: Die Eindrücke der Außenwelt[534] auf uns verursachen nicht die Geistesthätigkeit, sondern die Eindrücke selber sind diese Geistesthätigkeit.

Dies sind die Lehren, welche einerseits zur Befreiung der Menschheit von verrotteten Mißbräuchen, andrerseits zur rohen Entfesselung der Materie trieben. Die völlige Unterordnung der sogenannten Innenwelt unter die Außenwelt drängte zur ausschließlichen Vergötterung der Natur, also zum Studium und zur alleinigen Herrschaft der Naturwissenschaften. Nicht das Wahre, Gute und Schöne suchte man zu erforschen, sondern Wärme, Licht und Electricität. Diese heilige Dreieinigkeit erschien als der neue Gott begriff, zu dem man betete. Die Gesetze der Strahlung, der Wärmeleitung, der doppelten Brechung, der Polarität des Lichtes, die Undulationstheorie, wurden gefunden. Diese Entdeckungen über unsichtbare Theile der Natur blieben freilich bis heute in gewissem Sinne unvollkommen. Denn das Geheimniß scheint schwer zu lösen, ob dieselben eine materielle Existenz haben oder ob sie bloß Zustände andrer Körper sind. Die Verbindung von Kraft und Materie, welche anfangs der dynamischen Theorie von Leibnitz im Weg zu stehen schien, schließt an sich die Existenz einer Materie ohne kräftegebende Eigenschaften aus. Hier zeigt sich allerdings die Unmöglichkeit, daß die Struktur des menschlichen Gehirnorganismus ausreicht, um solche immateriellen Begriffe zu begreifen. Hier steht er gleichsam einer Innenwelt der Außenwelt gegenüber. Unerschrocken warf sich daher der französische Geist nunmehr auf die greifbaren Theile der Natur. Die Chemie experimentirte sich neue[535] Gesetze zurecht, welche die Eigenschaften der Natur beherrschen, durch das Studium der molecularen Zusammensetzung der Atome.

Auch über diesen wichtigsten Zweig moderner Wissenschaft suchte sich Krastinik zu belehren, wo er über Lavoisier, den Gründer der wahren Chemie, Aufschlüsse fand – betreffs der Oxydation der Körper und ihrer Verbrennung, sowie der Function der Nahrungsmittel –, welche ihn zu dem heutigen Stand der Chemie – betreffs der Verbindung chemischer und elektrischer Gesetze – hinüberleiteten.

Damals gewann auch die Geologie ihren ungeheuren Aufschwung, die Wissenschaft der örtlichen Gesetze, der terrestrischen Einrichtung der Massen. Buffon entnahm aus Anregungen von Leibnitz und Descartes die Vorstellung von der Centralhitze, welche schon die Pythagoräer und Zoroaster geehrt. Dann kamen eine Reihe von Geologen, welche den Begriff des allgemeinen Wechsels auf der Erdoberfläche darthaten, jenen ewigen Fluß der Dinge, von welchem schon Herakleitos der Dunkle sprach. Jetzt begann man die organischen Ueberbleibsel zu studiren. Man erkannte den Zusammenhang der Existenz der fossilen Thiere mit den Medien, in welchen sie gefunden wurden. Der große Cuvier verband die Forschung über die unorganischen Veränderungen der Erdoberfläche mit derjenigen über die organische Veränderung der Thiere, die auf dieser Oberfläche gelebt. Die Deutschen hatten die primären (Gneis), die Engländer die secundären Formationen untersucht, die Franzosen entdeckten die tertiären Strata, in[536] welchen man bereits Säugethiere, die dem gegenwärtigen Zustande ähnlich, fand. Die angeblichen Patriarchenknochen und Hünengebeine wurden als Reste fossiler Thiere dem Studium der Anatomie unterworfen. Und jetzt verbreitete sich die allgemeine Verehrung Darwins, die Lehre von der unbeirrten regelmäßigen Entwickelung.

Hier erschloß sich dem Geiste des einsamen Gottsuchers ein so unendlicher Horizont, daß er erschauernd und gleichsam athemlos innehielt. Erst allmählich begann er jetzt, an der leitenden Hand neuster Forscher, die. ganze Größe dieser Wahrheiten zu erfassen. Die Astronomie ist längst im Stande, wichtige planetarische Ereignisse viele Jahre vorherzusagen. Und werden nicht einst unsre Vorhersagungen in andern Dingen ebenso genau eintreffen, sobald die gesammte Wissenschaft ähnlich fortschritt? Gleichförmige Regelmäßigkeit in allen Naturbewegungen – welch ein unergründliches Gebiet der Spekulation! Lange ehe Menschen waren, lange ehe dieser Planet sich geformt, herrschte die gleiche unerfaßliche Ordnung.

Nun drang auch die Zoologie durch vergleichende Anatomie in das Zellengewebe des menschlichen Organismus ein und gründete erst die eigentliche Physiologie, wozu nunmehr auch die Botanik beitrug. Man erkannte das Doppelleben des Menschen, das organische und das animalische. Ersteres, welches er mit der Pflanze gemein hat, bedingt Erschaffung und Zerstörung, nämlich: Verdauung, Circulation, Ernährung – Ausathmung, Ausdünstung, Verbrennung. Von dem Thierleben aber leitet[537] er Bewegung, Gefühl und Urtheil her, d.h. Bewußtsein. Die Organe dieses thierischen Lebens sind absolut symmetrisch und sämmtlich doppelt, die des pflanzlichen Lebens hingegen außerordentlich verschieden und an sich einzeln. Das Pflanzenleben schläft nie in uns. Die doppelten animalischen Organe aber gestatten uns zu ruhen und abzuwechseln, und gerade hierdurch verbessern und entwickeln sich allmählich die Functionen, vom ersten Naturschrei des Kindes bis zur ausgebildeten Gedankensprache.

Selbst die Mineralogie drang jetzt zu den glänzendsten Resultaten vor, indem sie sich mit der Geometrie verknüpfte und alle Abweichungen der Symmetrie der mathematischen Berechnung unterwarf. Die wunderlichsten Formen erschienen von jetztab als natürliche Entwickelungsfolgen. So giebt es also in keinem Reich der Natur die Möglichkeit einer Unordnung und alles, was geschieht, steht unter festen Gesetzen. Und dies Prinzip mußte man nun wohl oder übel auch auf das Geistige an wenden. Die Abweichungen des menschlichen Geistes, z.B. der Wahnsinn und das Genie, werden von eben so unfehlbaren Gesetzen bestimmt, als der Zustand der todten Materie. Unter gewissen Bedingungen tritt das Phänomen des Genies oder des Wahnsinns unausbleiblich ein.

So wird man das Materielle und Immaterielle im zwanzigsten Jahrhundert im Studium zu verknüpfen lernen, wovon wir heute noch entfernt sind. Der Zusammenhang dieser naturwissenschaftlichen Forschungen mit der socialen Empörung, welche man die Große Revolution[538] nennt, lag aber klar vor Augen in der allgemeinen Sehnsucht nach Verbesserung und Unzufriedenheit mit der früheren Stagnation. Wie und zeigen sich nicht genau die gleichen Symptome heut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?

Wenn im siebzehnten Jahrhundert Baco, Descartes und Newton die wechselnden Erscheinungen auf bestimmte Prinzipen von Ordnung zurückführten und das achtzehnte Jahrhundert diese gefundenen Prinzipien auf das materielle Universum im Ganzen anwendete, so versuchten die großen deutschen Denker diese Prinzipien auf die Geschichte des menschlichen Geistes auszudehnen und zu vollständigen Allgemeinbegriffen über den Fortschritt des Menschengeschlechts zu gelangen. Allein, dies gelang ihnen nur unvollkommen oder gar nicht, weil sie die Anregung in Herder's »Philosophie der Geschichte«, historische Drehungsgesetze zu entdecken, oberflächlich vernachlässigten. Sie wandten sich völlig der rein metaphysischen Spekulation zu und verließen das neubegründete philosophische Geschichtsstudium, welches sie zu pragmatischer Spezialgeschichtsschreibung und nüchterner Quellenforschung herabdrückten.

Und doch sollte es der Endzweck jeder Forschung sein, aus Vergangenem die Zukunft vorherzusagen. Große Ereignisse entspringen keineswegs aus kleinen Ursachen, wenn auch vielleicht aus kleinen Bedingungen. Ereignisse der Menschengeschichte unterwerfen sich denselben Bedingungen wie Chemie und Geologie. Jede Erscheinung muß verursacht werden durch[539] etwas, was in ihr vorgeht oder was außer ihr vorgeht. Ersteres muß sich durch ihre Zusammensetzung, letzteres durch ihre Lage erklären lassen. Selbst die geheimnißvollen großen Lichtkräfte, welchen in der Menschengeschichte wohl gewisse immanente Ideen entsprechen, wird man so analysiren können.

Wenn der englische Denker Locke noch die abgesonderte Existenz einer Reflexionskraft behauptete, durch welche die Sinneseindrücke benutzt würden, so gingen die schottischen Denker, welche jene denkwürdigste Epoche des Menschengeistes zeitigte, schon so weit, eine sittliche Anlage jedes Menschen als ursprüngliches Prinzip anzunehmen. Schon bald wurden diese deductiven Transcendentalisten verdrängt durch die Gründung der politischen Oekonomie. Adam Smith stellte den Satz auf, daß die Gesetze, nach welchen wir unser Betragen richten, nur durch Beobachtung des Betragens anderer erlangt werden. Wenn wir einsam lebten, könnten wir weder Verdienst noch Recht von seinem Gegentheil unterscheiden. Wir unterrichten uns hierüber, indem wir uns an die Stelle der Andern versetzen. Aus dieser allgemeinen Vorstellung entstammt die allgemeine Sympathie. Diesem Mitgefühl entspringen nun sämmtliche Handlungen, gute und böse. Und im Mitgefühl, obschon es ein ideelles Vergnügen bereite, läge dennoch kein Gran von Selbstsucht. Als Ergänzung aber dieser »Theorie der sittlichen Gefühle« sprang Smith auf das gerade Gegentheil über, indem er nunmehr in seinem grandiosen Werke vom »Nationalreichthum« nur die Selbstsucht als Motor annimmt. Jeder folge nur seinem eignen[540] Interesse und fördere hierdurch, ohne es zu wollen, das Interesse andrer. Der persönliche Wunsch, den jeder Einzelne fühlt, seine Lage zu verbessern, bringt die Gesellschaft im Ganzen vorwärts. Jetzt wurde die große Idee der Nothwendigkeit auf das sociale Leben angewandt. Man erkannte Arbeitslöhne als unvermeidliche Folge der Verhältnisse gegen welche die Wünsche aller Einzelnen oder des ganzen vierten Standes ohnmächtig, das spätere »eiserne Lohngesetz« nach Angebot und Nachfrage. Man ahnte die Theorie der Pacht, wie Malthus und Ricardo sie später ausbauten. Dann kamen Hume's Theorien von der Ideenassoziation und vom Causalnexus und von der Nützlichkeit als einzigem Grundpfeiler der Moral. Diese genialen Geister verachteten jedoch die bloß compilatorische nüchterne Thatsachenanhäufung als Grundlage, sie mißtrauten der Statistik und hielten die Ideen für so viel wichtiger als Thatsachen, daß erst Ideen vorangehen müßten, ehe man überhaupt die Thatsachen beobachte. Reid und Black wandelten fort auf ähnlichen Gleisen, wie denn später Watt die Dampfmaschine nicht aus Thatsachen-Experimenten, sondern aus der Spekulation über Black's Gesetz von der latenten Wärme, angewandt auf die Verbindung von Luft und Wasser, also aus einer Idee heraus erfand.


Graf Xaver Krastinik, dies Enfant terrible seiner umliegenden Dörfer und Standesgenossen, schloß sich völlig[541] von der Welt ab und studirte ununterbrochen. Muthig hieb er sich lichte Bahn durch das Dickicht seiner Unwissenheit.

So drang er denn allmählich in das ganze Geheimniß der inductiven Methode ein, welche auch das Kunstprinzip des Realismus leitet.

Hier lernte er jene Deklamationen einer deductiven Weltanschauung verachten, von welcher im Grunde alles äußerliche Scheintreiben der Menschheit bestimmt wird. Angenommene Voraussetzungen als höchste Prinzipien aufstellen und dialektisch verfechten – darin besteht das wahre System des hohlen gedankenlosen Weltgetriebes. Ob der Metaphysiker oder der Zeitungsjournalist, der Pfaffe oder der Soldat, – jeder wählt sich ein beliebiges traditionell überkommenes Prinzip und argumentirt daraufhin sein Lebenlang, ohne dessen Gehalt zu prüfen. Der theologische Gott, Staat, Autorität, Ehre, Freiheit, – alle solche Begriffe werden zu unnützen Kinderklappern, mit denen die thörichte Menge ihr Gehirn betäubt.

Indem er mit verzweifelter Kraftanstrengung sich der Lectüre philosophischer Naturwissenschaften ergab, durch Chemie, allgemeine Physik und Physiologie langsam zu den Ergebnissen der neusten Epoche unter Liebig, Darwin, Helmholtz, Dubois-Reymond vorrückte, begann sein spekulativer Geist, der nie dichterisch-gestaltend, sondern didaktisch seine Anschauungen vollzog, allgemeine Schlüsse aus nüchternen Thatsachen zu ziehen. Die Theorie des Kraftwechsels und die zunehmende Darlegung der Thatsache, daß überhaupt nichts unregelmäßig, gestört oder dem[542] Naturgesetz zuwider sei, beruhigte ihn über die scheinbare Wirrung und unlogische Ungerechtigkeit menschlicher Schicksale. Die Theorie des großen Pathologen Hunter, betreffend die innere Balance des Mitgefühls zur Thätigkeit, eröffnete dem einsamen Wahrheitsucher seltsame Schlüsse, worunter der vornehmste: daß Passivität weder der Menschennatur entspreche noch zur Tugend werden könne, da nur Thätigkeit das Mitgefühl fördert.

Damit fiel sein Wunsch, sich einsam »einzubuddeln« über den Haufen. Selbst das heilige Licht, das uns Lebensbedingung, ist ja Bewegung. Wärme ist Licht in Ruhe, Licht ist Wärme in reißender Bewegung. So ist Genie vielleicht nur eine Metamorphose der stillen vorbereiteten Wärme seiner Zeitumgebung.

Ob nun die deutschen Geologen wie Buch und Humboldt sich an Werner's Wassertheorie oder die Briten sich an Hutton's Feuertheorie über Entstehung und Veränderung der Erde anschlossen, überall wurde den großen Urkräften der Natur sorgsam nachgestellt. Nur die neptunischen und plutonischen Urkräfte, die im Geistesleben der Natur, also der Menschheitsgeschichte wirken, blieben verhüllt wie zuvor. Man vermochte die vulkanischen Kräfte der französischen Revolution noch immer nicht nach ihrer Gattungsart und ihrer inneren geologischen Lage genau in ihre Bestandtheile aufzulösen.

Und doch lehrt jene große Auffassung, welche die Unzerstörbarkeit der Kraft und die Unzerstörbarkeit der Materie zugleich erfaßt, welche die geringste Bewegung des kleinsten Körpers in weitester Ferne als Ursache ewiger[543] Folgen erkennt, wunderbare Schlüsse auch über die Menschenentwickelung. Ja, die Erhaltung oder Beharrlichkeit der Materie-Kraft, wie sie Herbert Spencer in seinen »First principles« bereits in die abstracte Philosophie einführte, scheint gewiß nur ein größeres allgemeines Vorbild der Geistkraft-Erhaltung, so daß nichts im Haushalt des Menschendaseins umsonst geschieht und kein Körnchen von der großen Gesammtheit getrennt werden kann, ohne den ganzen Bau zu stören. Hierdurch wird das Gejammer über jegliches persönliches Leid zur Narrheit, da es ja zur Gesammtordnung mitgehört, zugleich aber auch die Ueberhebung jeder Größe ein eitler Wahn, da alles Existirende in gleichem Maße dem großen Endzweck dient.

Der Baum der Erkenntniß ist nicht der des Lebens, wohl wahr, wenn man das thörichte Sinnenleben im Kampf ums Dasein meint. Wohl aber pflückt man von diesem Baume eine süße Frucht, welche gottähnlich macht und doch gerade durch diese gottähnliche Milde jeden Größenwahn für immer zerstört.

Denn das eigentliche innere Wesen des Größenwahns ist die Selbstsucht, eine tollgewordene Selbstsucht, die mit einer Art Farbenblindheit nichts sieht als sich selbst und mit neidischem Haß alles verfolgt, was außer ihr selber existirt. Diese Neidwuth zähmt sie nur dann, falls irgend ein augenblicklicher Vortheil von dem andern Object zu erwarten scheint. Ein Größenwahn, der für Verdienste außer ihm überhaupt noch ein Auge hat, verliert schon[544] seinen eigentlichen Charakter. Selbstbewußtsein und Größenwahn, sind gar verschiedene Dinge.

In den Augen der modernsten Wissenschaft bleibt vom Menschenthum nur übrig – ein boshafter Affe. Das ist falsch. Es giebt viele schlechte Kerle, deren Lebensgenuß im Bösen besteht, wäre es auch nur im bösen Maul, das jedes Edle und Große zu ihrem eigenen Niveau herabzerrt. Allein, es mangelt auch nicht an gutartigen Naturen, deren Egoismus, diese natürliche Spiralfeder aller Dinge, sich liebevoll sänftigt und allem Lebenden freundlich gegenüber tritt. Traurig genug, daß die klare Erkenntniß, nur Selbstlosigkeit bedinge das wahre Glück, den dämonischen Trieb zur Selbstsucht auch beim Weisesten und Besten nicht zu brechen vermag.

Häufig kann die gemüthloseste Streberei und wüthendste Eitelkeit entschuldigt werden durch die unglücklichen Verhältnisse eines von der Natur stiefmütterlich Behandelten oder von den Menschen Mißhandelten, dessen Energie sich an Natur und Menschen zu rächen sucht. Dies gelingt freilich um so leichter, als die Menschen, soweit es ihre eigene Selbstsucht erlaubt, selten der Bonhomie entbehren und gern einem fleißig Ringenden Raum gönnen, – ohne die Misanthropie eines solchen nervösen Irren durch dies Entgegenkommen zu ändern.

Allein, wenn die Menschen auch keineswegs der guten Instinkte entbehren, so mangelt ihnen dafür gänzlich der ideale Instinkt. Man kann ein guter Mensch sein und doch unheilbar in alles Materielle verstrickt bleiben, wodurch denn zuguterletzt auch nur selbstsüchtige Motive entstehen.[545] Man kann ein böser despotischer Mensch sein und doch sich zum Idealen erheben, wodurch denn trotzalledem eine allgemeine Immaterialität, also Selbstlosigkeit, sich erzeugt. Aus diesem Grunde verwirft der bärbeißige Carlyle alle sogenannte Philantropie. Der finstre Dante, als er einsam die Divina Comedia für die Menschheit schrieb, habe eine viel wichtigere Philantropie geübt.

Aber gerade diesen Standpunkt wird die Alltagsherde nie verstehen und nie begreifen, daß ein dem Idealen geweihtes Wesen, dazu bestimmt, dem unirdischen Reich des Ewigen zahllose neue Jünger zu gewinnen, gänzlich außerhalb der gewöhnlichen Alltagsgesetze steht. Denn das wahre Sittengesetz wird es ja ohnehin nie verletzen. Weil etwa Leute sich einer sogenannten Wohlthätigkeit befleißigen, was denn auch auf ihr sonstiges Interessen-Kerbholz von der gläubigen Welt angekreidet wird, bewiesen sie noch keineswegs ihr Freisein von der Knechtschaft des starren Ich. Aber ein Mensch, dessen Geist sich unmateriellen Sphären völlig ergab und sein ganzes Sein auf idealen Zielen aufbaute, muß innerlich frei sein von allen Schranken der Sinnenwelt, bleibt daher jeder wahren Ichsucht fern, selbst wenn er seine Mitmenschen als bloße Zahlen behandelt oder gleichgültig ihre verächtlichen Leiden und Freuden flieht.


Mit überwachtem überarbeitetem Gehirn wanderte der Graf eines Morgens bei Tagesanbruch hinaus, weit hinaus über Feld, dem nächsten Bergwalde zu.[546]

Die Sonne tauchte hinter den smaragdgrünen Baumwipfeln hervor. Eine schmeichelnde Wärme rieselte wollüstig durch alle Poren der Lebewesen. Von leisem Windhauch geläutet, schwangen sich die Blüthenglöckchen der Zweige hin und her und überschütteten die Vorübergehenden mit feinem silbernem Sprühregen.

Wie ein Lämmlein mit Rosaband und Glöckchen, sprang hier der rosenbestandene Bach dahin, kletterte über Felsenkniee, wälzte sich in der Blumenau und ließ seine glockenhelle Melodie ertönen. Aber die Rosen waren jetzt verwelkt und welke Blätter raschelten umher, Vorboten der weißen Schneebienen des Winters. Wie ein Adler, der noch auf höchster Firne rastet, ehe er ins Reich der Wolken strebt, – schien die Sonne noch mit dem ersten Glühen ihrer Schwingen auf den Giebeln der Felsburgen zu rasten.

Die Landleute begannen eben ihre Arbeit.

Heiliger nährender Opferdienst der Erde! Der alten vergessenen Natur rettendes Sinnbild bist du, o Pflug, der willige Aecker durchfurcht! Zufrieden, wenn man die Frucht eurer Mühen euch mit kargem Lohne zahlt, verachtet ihr den hohlen Prunk der Städte, ihr Pflüger mit schwieliger Faust und sonnerbrannter Stirn!

Droben in der lichten Bläue und über den Feldern tirilirte es. Wie eine klanggewobene Jakobsleiter stieg vielstimmiger Vogelsang himmelan und himmelherab. Unbewußt sang seine Seele mit in rhythmischen Lauten:

Lerche, aus Wolken schwang sich an mein Ohr dein Sang! Liebe beseelt ihn und hat ihn gelehrt! Gießt[547] wie ein Sonnenstrahl Licht über Berg und Thal! Dein Lied lebt im Himmel, dein Lieb auf der Erd! Hoch über Wald und Moor, Wiese und Dorf empor, über der Morgensonne Erglühn, über der Wolke Rand, des Regenbogens Band, Herold des Tages, hinflatterst du kühn!

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Er warf sich ins Gras und lauschte dem schrillen Zirpen der Grasmücken und dem Vogelzwitschern in den Fichtenzweigen. Ein Paroxismus knabenhafter Sehnsucht, eine mystische Brunst, befiel seine Künstlernatur. Er zerriß die keuschen Gräser mit den Zähnen, und schlürfte den Thau vom jungen Kleeblatt, wie trunken von corybantischer Attis-Begier. Er hätte, ein neuer Pygmalion, den Fels umarmen mögen, aber der blieb kalt, todt, steinern. Unwillkürlich umschlang er den Baum, unter dem er lag, aber dessen Rinde blieb trocken und starr und die Tropfen des Fichtenherzes, die aus den dürren Spalten quollen, waren kein warmes Blut, keine Thränen der Gegenliebe. Die Weltkraft, die alles durchdringt und besiegt, hätte er leibhaftig ans Herz reißen und mit ihr ringen mögen, Herr werdend durch der Liebe Riesenwollust.

Tief unten im Grunde dufteten die Blüthen. Geister des Friedens entstiegen den Kelchen. Aus Felsenspalt entströmte leise, wehmüthig lispelnd, des Wildbachs Helle. Ach, brach nicht, wälzend die Welle der Thränen, aus seinem Herzen der Bach Erinnerung?

So weit sein Auge gen Himmel starrte, unendliche Wälder, felsenbeschattet. Erschauernd sank er ins Riedgras[548] nieder, über ihn rollten die weichen Wogen. Rings abgeschlossen! Kein Pfad der Hülfe! Da – fern vom Gipfel winkte ein – Kreuz.

Ein Kreuz – wiederum durchzuckte es den einsamen Mann. Memento mori! Sollte er nicht Ernst machen mit der Entsagung des Lebens?

Wieder tönten Leonharts Worte in ihm wieder, daß nur im Kloster das Glück wohne.

Aber für wen? Doch für den Gläubigen? War er denn gläubig? O nein, wie lange entwich ihm der kindliche Glaube der Väter! Nicht ihm blieb jene Erlösungssehnsucht, die aus den Wunden Christi mit mystischer Brunst die Gewißheit ewigen Lebens schlürft.

Er erinnerte sich jenes Gespräches über Semiten-und Christenthum, das sie einst geführt. Einen semitischen Cultus hatte Leonhart den Katholicismus genannt, ohne aber eine Begründung zu geben, indem er zu der These absprang, daß in seiner ersten Gestalt das Christenthum rein arisch gewesen sei. Jetzt glaubte Krastinik jene Andeutung zu verstehn. Die indisch-baktrischen und griechischen Elemente der christlichen Kirche hatten sich im Orient erhalten, als byzantinische Kirche ausartend, als Arianismus sich reiner ausbildend, indem die Menschlichkeit Christi festgehalten wurde. Gerade auf den römischen Bischof aber hatten sich die jüdischen Zusatzmischungen übertragen und fortgemodelt: Ein selbstsüchtig ausschließender Jehova-Cultus, eine Intoleranz pharisäischer Selbstgerechtigkeit. So entfernte sich die christliche Kirche unter der Hohepriester-Hierarchie Roms immer weiter von ihrer[549] demokratischen Form communistischer Gemeinden und bildete sich zu einer groß artigen Staatskirche aus, welche alles geistige Leben mit unentrinnbarem Netz umstrickte und in ihren Dienst zwang. So mußte roher Gesetzesglaube und selbstgerechte Werkheiligkeit das echt jüdische Wesen dieser neuen katholischen Religion bestimmen. Nur eins blieb demokratisch in diesem blinden Staatscultus starrer Autorität: Die Gegenüberstellung der Geisteskraft wider das rohe Ritterthum und die physische Allmacht des Feudalsystems, hier wo jeder Bauer es bis zum Papste, zum Oberhirten der Christenheit, bringen konnte, gleich dem Zertrümmerer der irdischen Staatsgewalt, dem großen Gregor.

Aber diese Zeiten sind lange dahin. Dies unsterbliche historische Verdienst der römischen Kirche, neben welcher der Protestantismus als ein zwerghafter Parvenü erscheint, liegt seit Jahrhunderten in andern Händen – denen eines neuen Kirchenordens, dessen Werkzeug die Feder, dessen Wunderbeglaubigung das Wissen.

Kirche, Religion! Was für leere Worte heut, Gespenster längst entschwundener Wesenheiten!

Wir glauben all an einen Gott – an das Gold und das Ich.

»Ich« heißt der Dämon, welcher heut die Welt zu einer großen Irrenanstalt verengt. Dieser Geist der All-Verneinung und Ich-Vergötzung ist der Geist des Widerspruchs und der Lästerung, dessen jammervollem Wahnsinn man schweigend wie dem Größenwahn eines Irren nachgeben muß. Und dieser Götzendienst empfängt seinen[550] stärksten Giftstoff aus der Kirche, dieser Brutstätte der Selbstheiligkeit.

Unfehlbarkeitsdogma! Dies sündhafte Vermessen einer sclavischen Selbstanbetung, der Größenwahn eines Ich-Sclaven (und welch ein sündiges Ich gerade dieses!), um den Größenwahn der sclavischen Thorenmenge wider die »Ketzerei« höherer Gesittung noch mehr zu stacheln! Ja, das Unfehlbarkeitsdogma fehlte gerade noch, um den unheilbaren Größenwahn dieser Fortschritt-Epoche zu brandmarken. – –

Nein, das »Kreuz« konnte einen Mann wie diesen nicht mehr erretten, nicht das Kreuz der Kirche. Doch vielleicht ein anderes? Das Kreuz, welches wir alle tragen? –

Er sann und sann – – –

Ist der Tod nur ein Durchgang, ein Isthmus zweier Ewigkeiten, so wäre der Tod, vor dem wir schaudern, minder schreckhaft als dies Dasein, das wie ein Wolkenschatten dahingleitet im unermeßlichen Raum. Aefft uns der Tod wie das Leben, dies Marionettenspiel? Und das All um uns her – ist das fest? Schwanken nicht seine Grundpfeiler, verschwimmt nicht alles ineinander, ist es am Ende auch nur eine Vision der getäuschten Sinne, eine Wüstenmirage geblendeter Augen, eine Wahnvorstellung?

Wenn aber das Dasein und die Natur unwirklich, – was bin denn ich als Ich und was ist Gott? In ihm leben, weben und sind wir. Auch nur eine Vorstellung?[551] Ist er doch überall. Mein Ich und Gott – verschwimmt das auch ineinander?

Oder sind Natur und Gott ein Gegensatz? Entstand die Welt, indem Gott sich selbst verlor? Und wenn so Göttliches von Gott abfiel, soll es zu ihm zurückkehren? Oder stieg aus dunkeln Urtiefen der Gotteskeim selber empor, so daß Gott nichts ist, als die Spitze und Frucht der Natur?

Und wie stehen wir selbst zu diesen großen Gewalten? Hängen wir mit Gott zusammen, so dienen wir nur als niederes Gefäß seiner Gnade. Das heißt dann Christenthum. Wie, ich Mensch, der ich nichts der göttlichen Gnade verdanke? dessen Gedanke nichts ist, als der Sohn meiner eigenen Arbeit?

Und der Pantheismus löscht mich vollends aus. Da bin ich nur ein ärmlich Mittel des Naturzwecks. Wie, ich, in meiner stolzen Naturbeherrschung?

Wohl lehrt mich Darwin, daß ich nur ein Naturprodukt meiner Ahnen. Gleichviel. Ich bilde fremde Samenkeime mit meinem freien Willen zur neuen selbstständigen Pflanze aus. Und wäre selbst die Seelenwanderung des Welträthsels Lösung, so bliebe es doch nur immer dasselbe untheilbare Ingenium, das sich rastlos im Kreis der Dinge eine Heimstätte sucht.

So sind wir denn selbst die Ewigkeit? Selbst die göttliche Idee? Der Gott der Welt ist der menschliche Wille.

Und wenn es nun ein böser Wille? Das Geheimniß der Prinzipien von Gut und Bös besteht in ihrer Zusammengehörigkeit.[552] Alles ist Instinkt, Selbstaufopferung so gut wie krassester Egoismus. Böse ist nur die Nichterfüllung des eigenen Willens. Der menschliche Genius, der im Kampf mit zahllosen Schwierigkeiten seine fortzeugenden Werke leistet, scheint an sich viel größer, als die einmalige Naturschöpfung der allmächtigen Centralkraft.

Ja, so mag des Menschen berechtigter Größenwahn wohl urtheilen. Nichts erbärmlicher und nichts bewunderungswürdiger, als der Mensch. So dachte gewiß auch Kain, der erste Haderer wider Jehova. Als er nun aber den Tod in die Welt gebracht, da sagte ihm dröhnend die innere Stimme: Das ist ein Riß durch die Natur, das ist Schuld.

Er wußte bisher nur, daß er war, jetzt erfuhr er, daß er etwas solle – denn er fühlte, was er nicht solle. Woher? Von wannen kam ihm diese Wissenschaft? Aus dem Innern? Wer schrieb's dort ein? Er sich selber? Seit wann denn? Erst seit heute, wo er schuldig geworden? Nein, es mußte ihm schon eingeboren gewesen sein. Es giebt also eine höhere moralische Ordnung außer uns und über uns.

Hör' auf, dein starres Ich zu behaupten, Niemandem unterthan, in dich selber ein wärts deinen Pfad zu bohren!

Tödte den Willen ab! Selbst ein idealer Wille verstrickt dich in Schuld. »Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?« Heuchlerische Frage! Du fühlst ja, daß du es sollst.

In der Friedlosigkeit des Schuldbewußtseins fühle du den Frieden der Erlösungssehnsucht! In dem Schmerze[553] der Schuld wird die Last der Verantwortlichkeit von dir genommen, die den souverainen Willen bedrückt. Nicht länger fühlst du dich verpflichtet, als höchste Erscheinungsform der göttlichen Idee zu gelten. Die Demuth deiner Schuld beugt dich freudig unter die Erkenntniß einer über den Dingen stehenden Centralkraft, der sich auch der Größte willenlos zu unterwerfen hat.

Jeder ist schuldig, auch du trage dein Kainsmal, denn auch du hast deinen Bruder gehaßt und dich selbst geliebt. Aber trage es ruhig und stolz, ohne Trotz, ohne unnütze Reue! Gehe hin und sündige nicht mehr!


Wie so anders erscheint das Räthsel des Lebens dem Manne, der liebte und lernte und litt! Eine grause Gabe ist das Teleskop der Wahrheit, das alle Erscheinungen verwischt und nur Schein sieht, wo die frische Hoffnung einst im Sein geschwelgt. Die Gedanken und Gefühle des Menschen bilden für sich ein Epos vom heiligen Gral.

Wie frohgemuth sitzen sie erst beieinander, gleich König Artus' Tafelrunde. Die Welt ist ihnen ein Bilderbuch voll Farben und Ideen und aus den Hieroglyphen der Weltgeschichte liest sie den klarsten Sinn. Lancelot vom See, die kühne Abenteurerlust, erfaßt die Natur mit ungebrochener Jugendlust. Tristan und Isolde finden sich in sinnlicher Leidenschaft, begehrungssüchtig und subjectiv, Parzival's Venuswunden heilen von selbst in sentimentaler Schwärmerei. Wohl tritt dann die wirkliche[554] Leidenschaft verderblich in den Kreis, wie Ginevra, die königlich stolze, aber auch sie zerrinnt in resignirte Wehmuth. Da naht Merlin, die philosophische Auffassung der Welt, und wühlende Reflexion vernichtet die Schaffensfreude. Fey Maglore von der schwarzen Klippe, die Feindin Ginevras, lockt in ihren Bann und abgegohrene Liebessymptome verlieren sich allmählich in blasirte cynische Selbstverspottung. Kay der Seneschall regelt mit kalt kritischer Ironie die Dinge. Nach den Enttäuschungen der scheinbaren äußerlichen Erfahrung entsagt der Geist dem Behagen am fabulirenden Bilderreichthum der Wirklichkeit in erlogener Ruhe. Aus realistischem Arbeitstrieb keimt der Hochmuth eines gleichgültigen Materialismus. Doch der ungestillte Trieb nach idealer Erlösung und festerem Lebenshalt ringt nach Befreiung, der wunde Titurel harrt auf das erlösende Wort des Grals.

Wer aber Avillion finden will, das Eiland der Seligen, der muß wählen Frieden durch den Kampf, Ruhe im Sturm. Da klärt sich des rüthselvollen Menschenlebens letzter Schluß, daß nur liebevolle Versenkung ins Allgemeine aus liebloser Einsamkeit erlöst. Nur Liebe für die Idee, nur Streben nach einem Ideal, nur dies macht theilhaftig des heiligen Gral, begräbt den Titurel des ringenden Ichs und krönt Parzival's Irren und Leiden.

Die Seele, welche gelernt auf sich selbst allein zu bauen, in sich selbst ihre Stärke zu suchen – die Sporen des Hasses, der Verzweiflung, der Menschenverachtung hetzen und zerfleischen sie nicht mehr. Menschenverachtung[555] sollte immer bei sich selbst anfangen. Menschenverachtung, die ja doch die Menschen braucht – allerdings nur als Sclaven und Beifallskatscher, aber doch immer braucht.

Nicht länger beneidet die genesene Seele den Flitterkram äußerlicher Lüste. Durch den feurigen Ofen hindurchgegangen, abschmelzend die Schlacken gemeinerer Selbstsucht, wurde sie kalter biegsamer Stahl. Jetzt ist sie zum Ritter geschlagen d.h. zum freien Manne. Wer die Menschen nicht bedarf, trägt auch nicht ihre Ketten. Nur wer sie nicht braucht, liebt die Menschen aus selbstbeglückender Sympathie, aus erhabenem Mitleid Aller für Alle. Nur das ist der wahre »Weg zur Freiheit

Aber nur die alte Erzeugerin und Erhalterin der Weltgesetze, Eros und Anteros die großen Gewalten, nur die Liebe erlöst. Und Liebe ist, langmüthig, sie hadert nicht, sie beugt ihren Willen unter den der andern, unter den höheren Willen des Ideals, wie es eingeschrieben in des Menschen Gewissen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach; Liebe allein macht stark, indem sie das schwache Ich demüthig dem starken Allsein vermählt.

Vom Ganges her rauscht aus Palmen und Lotoskelchen des Büßers Braminenlied: Wer störungsfrei, begehrungsfrei zum andern Ufer hingelangt, wer nichts zu eigen haben will, der nenne Buddha's Jünger sich.

Aber ist Freisein von Leidenschaften nicht ein widernatürliches Unding? Nur für das entnervende Klima Indiens könnte das passen. Nicht die Verneinung, sondern die Verstärkung des Willens hat den rastlosen Vorwärtsdrang unsrer Civilisation ermöglicht. Den Willen brechen[556] heißt eine Tugend empfehlen, die keine Tugend ist. Es gilt vielmehr, die Leidenschaft auf geistige Ziele mit der gleichen dämonischen Stärke hinzulenken, mit welcher der gewöhnliche Mensch sinnliche Ziele erstrebt. Haß gegen das Schlechte ist eine glückbringende Leidenschaft.

Aber durch Erkenntniß unsrer eignen Unvollkommenheit sollte Mitleid mit fremder Unvollkommenheit in uns erwachen. Dies Mitleid hat jenem Todten gefehlt. Wohl berechtigte ihn sein Geistesstolz zu einem Gefühl überlegener Selbstabsonderung. Aber nie schmolz seine Härte in der weisen Demuth, welche die Untheilbarkeit alles Seins erkennt. Verrichtete nicht darum der Heiland an seinen Jüngern niedere Dienste? »So nun Ich, euer Herr und Meister, euch die Füße wusch, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen.« Und sprach Er nicht die abgrundtiefen Worte – – hier, hier stehts: Ev. Joh. 14, 12 –: »Wer an mich glaubt, der wird ebenso große Werke thun wie ich, ja wird größere thun als ich.« Besagt doch diese Ablehnung persönlicher Alleingeltung klar genug, daß nicht die Person des Gottmenschen, sondern sein Prinzip das ewig Zeugende vorstellt, dessen Wirkung sich in stetiger Evolution vererbt. Nach ihm werden noch Zahllose gekreuzigt und zahllose Wunder geschehn. Der eine Opfertod eines sündenlosen Menschen ist die Quelle alles Lebens in Ewigkeit. Denn er stellt das einzig Feste, Unvergängliche dar, an das sich der Glaube zu klammern vermag. Und nur der Glaube an das Ideale hat erlösende Kraft.

Noch höher aber als den Glauben stellt das Christenthum[557] die Güte des Unbewußten, die freie ursprüngliche selbstgeringachtende Liebe, ohne welche dem Apostel alles »klingendes Erz und tönende Schelle« erscheint. Ja, unter den Pharisäern befanden sich gewiß viele hochmoralische Werktagsheilige. Aber ein Gedanke wahrhafter Reue wiegt vor dem Richterstuhl der ewigen Liebe alle Sünden auf, während die eitle lieblose Gewohnheitstugend sich niemals selbst erlöst und ewig schmachtet in den Fesseln des kleinlichen Ich.

Dies Mitleid, diese Demuth, dieser Glaube und diese Liebe bleiben nie passiv, nie Stagnation des Willens, sondern schöpfen ihre Kraft aus werkthätiger Begeisterung, wie da geschrieben steht: »Nun ist des Menschen Sohn verklärt und Gott ist verklärt in ihm.« Der Begriff von der Einheit alles Seins, des Irdischen und Ueberirdischen, welcher dämmernd im menschlichen Gemüthe schlummert, ist hier Wahrheit und Klarheit geworden – »mit der Klarheit, die ich bei Gott hatte, ehe denn die Welt war.« (Ev. Joh. 17, 5.)

So besiegt das Christenthum den Pessimismus durch den Pessimismus. So wird sich ewig der Mensch selbst erlösen müssen im Kampfe mit der Welt. Wer sich an den Abgründen des Lebens scheu vorüberdrückt, wird nie die wahre Bestimmung des Menschen erkennen. Der wirkliche Idealist wird jeden Pessimismus abweisen, eingedenk der Worte: »So euch die Welt hasset, so wisset, daß sie Mich vor euch gehasset hat.« Dem erlösten Geiste kommt »die Gemeinschaft der Heiligen«, die Verbindung, mit allen großen und guten Geistern der Vergangenheit[558] und der Mitgenuß all ihres geistigen Schaffens. Das ist eine Erhebung der Seele, welche jeden irdischen Schmerz unter die Füße tritt. Das ist der Tröster, von dem der Erlöser kündet: »Ich will euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich: Den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht kann empfangen, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.«

Wohl fühlte der große Todte in sich jene Geistesstimme, von der es heißt in den Römerbriefen Pauli: »Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch fürchten müßtet. Derselbe Geist giebt Zeugniß unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«

Doch weil Leonharts Herz, ursprünglich reich an Güte und Wohlwollen, sich aus Verbitterung in starre Selbstsucht krampfhaft zusammenzog, hörte er nicht die Erlöserstimme: »Wer immer mich liebt, den werde ich lieben und mich ihm offenbarenIhm aber, der zum erstenmal seit Kindertagen wieder die Bibel las, dem weltfremden Gottsucher offenbarte sich Gott.


Alles was in der Welt eintrifft, hat sein Zeichen, das ihm vorhergeht. Die zahllosen verschiedenen Ideen, die verworren durcheinander murren, sind Vorzeichen einer ungeheuren Bewegung.

Er dachte an Lamennais' »Worte des Glaubens« (Leonhart hatte ihm einst dies Buch geschenkt): »Junger Soldat, wohin gehst Du? Gehe streiten, daß alle einen Gott auf Erden und im Himmel haben.«[559]

Alle einen Gott, alle, die so verschiedenen Stammes? Ja, nur die Masse, das Allgemeine vermag zu siegen. Wer würde das Stimmchen der vielen armen unmerkbaren Geschöpfe hören, wenn im Frühling ein Summen den Wiesen entsteigt? Unzählbare Laute sind es, die sich hier vereinen – einzeln würde keins von ihnen gehört werden – doch, alle vereint, machen sie sich vernehmlich weithin über die Erde, als unartikulirte Allstimme der Lebenskraft.

Was vermag der Einzelne heut? Weniger denn je! Wer darf aber gar über Leiden klagen, ohne daß seine Tugenden ihm ein Recht dazu geben? Schon in der Uebergangsepoche der Childe Harold-Wertherzeit mahnt Chataubriand seinen René: »Wer Kräfte empfing, soll sie dem Dienst der Menschheit weihen.«

Der sogenannte Weltschmerz kann nur enden mit Selbstüberwindung in vornehmkalter Abgeschlossenheit und prometheischem Selbstgenügen. Aber edler als die wollüstige Todessehnsucht des Pantheismus ist die freudige Lebensertragung, welche das quälende Ich abschüttelt und durch allumfassende Liebe ins Unendliche erweitert. Die rauschendste Melodie auf der Aeolsharfe der Empfindung wird stets das vaterländische, das Stammgefühl entlocken. Aus dem zerfahrenen Kosmopolitismus der ästhetischen und pessimistischen Weltanschauung erhebt sich der Geist, von der Naturbetrachtung sich der Geschichtsbetrachtung zuwendend, zu der Erkenntniß des Nationalbewußtseins. Da gewinnt die rauhe Wirklichkeit einen gesunderen Reiz, als Schönheitskultus ihn bieten kann; da wandelt sich der[560] Schauder vor der ehernen Nothwendigkeit in ein stolzes Wohlgefühl: Getragen zu werden von dem ewigen Wirbel des Weltenrades, das Jeden als Atom des Allgemeinen zu seiner Bestimmung fortreißt.

Das trotzige unselige Ich, das auf sich allein gestellt die Welt umfassen möchte und von der Last dieser selbstaufgelegten Mission erdrückt ward, erkennt sich jetzt freudig als unterthan höheren Gesetzen. Die Ideen »Volk« und »Vaterland« bieten den wahren Schlüssel zum Verständniß des Einzellebens. Die Eitelkeit des Persönlichen zerrinnt so in den Stolz des Patriotismus, die Selbstsucht des Einzelnen überwindet sich leicht zu Nutzen und Ruhm der Rassenselbstsucht. Diese Weltanschauung schreitet zu wahrer Selbsterfüllung vor, sie bildet den verengten innersten Kreis nach all den weitausgreifenden Wirbeln des jugendlichen Idealismus.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 531-561.
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