[561] Und Krastinik schaute umher von dem Schloß seiner Väter über das Bergland zu seinen Füßen.
»In dem Burzenland ist's immer schön,« singt ein Volkslied über das Waldland, das sich um Kronstadt erstreckt. Das wußte ja schon der deutsche Orden, der bei seiner Übersiedelung nach Europa zuerst im Siebenbürgener Burzenlande seine Zelte aufschlug. Die von ihm gegründeten sieben Burgen sollen dem Lande Transsylvanien seinen neuen Namen gegeben haben. Noch jetzt ragen sieben solcher Burgen des Deutschthums im Lande: Hermannstadt, Kronstadt, Schäßburg, Mediasch,[561] Bistritz, Reps und Broos. Von den alten Burgen des Ordens aber stehen noch gar viele im Burzenlande. Die Heldenburg, die Zeidener, die Tartlauer, die Rosenauer, die Törzburg, die Marienburg. Wer denkt hier nicht an die Residenz des Ordensstaates in Preußen, wohin die kühnen Kämpen von hier aus zogen? So schlingt sich denn ein geheimnißvolles Band um die Errichtung zugleich Preußens und Siebenbürgens, der nordöstlichen und südöstlichen Mark des deutschen Imperiums.
»Ins Ostland wollen wir reiten,« klingt das alte sächsische Auswandererlied aus dem 12. Jahrhundert herüber. Dieser Zug gen Osten gewann dem Deutschthum nacheinander die Elbgrenze, die Donau, die Oder, die Weichsel. Diesem Zug gen Osten verdankte das alte Deutsche Reich seine Weltherrschaft und ihn muß es wieder aufnehmen, will es die alte Obmacht wieder erneuen. Nicht ohne tiefste Bedeutung besingt das deutsche Nationalepos den Ritt ins Hunnenland. Die Hunnen dehnen sich weithin von Donau und Theiß zu Don und Wolga und die einst geladenen Nibelungengäste, die deutschen Kolonieen, drohte, wie abgerissene schwache Reiser der großen Walsereiche, die wüste hunnische Sintfluth zu verschlingen.
Wer kennt nicht jenen hehren Gesang, wo in der Seele des deutschen Mannesideals Rüdiger von Bechlaren der Conflikt widerstreitender Pflichten tobt? Die Deutschen sind seine Freunde und Blutsverwandten, an den Hunnenkönig bindet ihn der Treueid seiner Loyalität[562] Wird Rüdiger noch immer der Deutschenfeindin Krimhild, der Zarin aus deutschem Blut, zu Willen bleiben? Heut ist wohl der Markgraf ein klügerer Mann.
Überwältigend stieg die geistige Weltherrschaft der deutschen Raçe vor der Betrachtung des ungarischen Grafen empor. Wo wäre nicht deutsche Erde? Wie der Römer allüberall auf deutschem Boden stand, so tritt der Deutsche, wo es auch sei, nur einen Boden, den er mit seinem Blut getauft und mit seiner Cultur gedüngt hat.
Die Krastinik's stammten ursprünglich aus Mähren, wie ihr slavischer Name verrieth. Erst im 18. Jahrhundert waren sie durch eine Erbheirath siebenbürgische Magnaten geworden und so allmählich ganz ins Ungarische übergegangen. Dagegen kreuzte sich dies slavisch-magyarische Blut fortwährend mit deutschen, da die Hälfte der Stammmütter dem deutsch-österreichischen Adel angehörte. Auch Xaver's Mutter war eine Deutsche gewesen. Jetzt erst verstand er, daß in seiner ganzen schwerflüssigen Art das deutsche Element überwog. Daher auch sein rasches Einleben in deutsches Wesen. Darum auch vor allem jetzt der mächtige Trieb einer Stammeszugehörigkeit, der in ihm durch Bewunderung deutscher Kraft erwachte. Dies Deutsche Reich – schien es nicht der einzige feste Punkt in der Erscheinungen Flucht? Alles wankte und splitterte. Im Westen in Frankreich und England, Anarchie. Im Osten Panslavismus und Nihilismus. In Deutschland allein das Positive allem Negativen trotzend.
Ja, die große Sündfluth an allen Enden. Der[563] Panslavismus will sein Ziel erreichen um jeden Preis, entweder mit dem Zaren oder ohne ihn. Und siegt er, so springt der Zarismus doch. Denn alles arbeitet im Westen wie im Osten nur einem Ziel entgegen: der Auflösung aller bestehenden Gesellschaftsformen. Alle Anzeichen sind dieselben wie vor der Großen Revolution. Barbarei lauert aller Enden, den morschen Culturbestand zu vernichten.
Um Deutschland muß sich zusammenschließen, was noch auf eine glückliche organische Entwicklung hofft. Nur Deutschland besitzt die unverbrauchte Kraft, sich aus eigener Initiative innerlich aus den Schäden der gegenwärtigen Gesellschaftsbildungen emporzuläutern und aus der häßlichen Puppe dieses Uebergangsstadiums den beschwingten Schmetterling eines neuen Freiheitsbegriffs loszulösen.
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Jetzt hatte er ein unpersönliches Ideal gefunden, das eine wesenhafte Realität vorstellte. In der freudigen Erleuchtung dieser seelischen Entdeckung aber erkannte er zugleich, wie die Uebertreibung seiner berechtigten Auflehnung gegen sein früheres persönliches Ideal ihn wiederum in Ungerechtigkeit verstrickte. Die krankhafte Reizbarkeit, schwächliche Verbitterung und selbstische Ich-Begeisterung Leonharts wurde vollauf erklärt durch die chemische Zusammensetzung seiner Natur und durch die geologische Lage seiner äußeren Lebensverhältnisse, beide unter die Einwirkung[564] der Elektricität einer geistigen galvanischen Strömung gebracht.
Wie gewöhnlich bot sich auch jetzt ein unerquicklichstes Schauspiel, das jeden ernsten Diener der Wahrheit, der bedächtig ein gerechtes Urtheil zu schöpfen sich müht, am tiefsten verletzt. Nur von persönlich gehässigem oder Parteistandpunkt aus wurde nunmehr, nachdem endlich über die »Affaire Leonhart« genug Lügengras gewachsen und der in den Tod Gejagte nach beliebter Taktik gegen seine überlebenden Rivalen als »Klassiker« ausgespielt war, das gegnerische Urtheil laut. Da hatte bald Der bald Jener irgend eine Mordsgeschichte aufzutischen. Theodosius Drollinguère (er hatte seinen Namen nun glücklich gallificirt, auf daß seine französischen Freunde ihn besser aussprechen lernten) brachte einen Artikel in seinem Wochenblättchen »Die Wahrheit über F. Leonhart«, worin er Denselben der ostentativen bewußten Verrücktheit zieh. Doch war er zu feige, sein »D.« darunterzusetzen und verschanzte sich hinter ein »B.«, das Zeichen seines Substituts. Dieser Mann hieß Bullerich. Ein schöner Name.
Mit polypenhafter Geschmeidigkeit umkrallte hier der bedächtige Drollinguère sein Opfer. Da derselbe sich nicht mehr wehren konnte und keine Angehörigen hinterließ, welche etwa Strafantrag stellen durften, so gestattete sich Theodosius sogar den Luxus persönlicher Verdächtigung. Leonhart sei ein gesinnungsloser Mensch gewesen, mal liberal, mal conservativ, je nachdem seine Geschäfte es verlangten.[565]
Krastinik kannte die Verhältnisse genau und wußte, daß der Dichter nie in irgend einer politischen Beziehung zu irgend einer Partei und irgend einem Blatte gestanden. Mit unwiderstehlicher Komik verlangen jedoch die jüdisch-liberalen Blätter, daß man, falls sie Honorar für Feuilletons oder Novellen zahlen, auch als liberaler Philosemit fungire; und bei den Conservativen steht die Sache gradeso. Leonhart hatte nie nur um Haaresbreite seine tiefen politischen Ueberzeugungen geändert und sich stets zum demokratischen Cäsarismus bekannt. Auch seine pangermanistischen Ziele hielt er unbeirrt im Auge, seine Verachtung der deutschen Kleinlichkeit und Philisterei verleugnete er nie. Demokratisch in seinen Anschauungen, verehrte er das Hohenzollernhaus aus historischer Erkenntniß und dankbarer patriotischer Pietät als glänzendsten Zeugen der Darwinischen Evolutionstheorie, als berufenstes, Talent und Charakter von Generation zu Generation vererbendes Herrschergeschlecht.
Die trostlose Unreife und Dummheit der Eintagsparteien vermag natürlich den inneren festen Zusammenhang solcher Auschauung nicht zu erfassen. Ein in der Wolle gefärbter Demokrat hat auf die Juden und das Plapperment und die liberale Presse zu schwören. Und was ein richtiger Conservativer ist, stimmt fröhlich durch Dick und Dünn mit Gott für König und Vaterland – für Vermehrung der stehenden Heere, Schutzpatent des Militairdünkels und des Kastengeistes, Muckerchristenthum, Feudalrechte und allerunterthänigsten Servilismus.[566] Darum warnte ein christlich socialer Bonze vor diesem »verkappten rothen Revolutionär« und Dr. Bergmann von der »Tagesstimme« vor diesem »opportunistischen Streber«, der naiv genug gewesen, »Majestätsbeleidigungen gegen Schiller und Die dulde Ich nicht« zu äußern und den antisemitischen Dichter Dr. Adler zu loben, während er Feuilleton-Honorare von der freiheitsdurstigen »Tagesstimme« bezog!!
»The consequence is: beign of no party, I shall offend all parties«, citirte Leonhart achselzuckend aus Byron, wenn auf solch angebliche Widersprüche die Rede kam.
Aehnlich verhielt es sich mit den Vorwürfen gegen seinen grellen Hohn und sein »boshaftes Schimpfen«. Krastinik hatte ihn über jeden einzelnen Fall interpellirt und wußte aus vorgelegten Dokumenten am besten, daß Leonhart stets der zuerst Angegriffene gewesen war. Schon sein wohlwollendes Gemüth verbot ihm, Andere zu schädigen. Reizte man ihn freilich, dann vergrößerte sich die momentane Entrüstung durch das verbitternde Bewußtsein seiner allgemeinen schiefen Lage und den allgemeinen Ekel gegen das rechtlose Weltgetriebe. Dann schlug er allerdings seine Krallen so furchtbar ein, daß man an der Klaue den Löwen erkannte. Wofür war er sonst ein Leu? Der Leon bleibt ein Leon, man kann ihn tödten, aber nicht ändern. Immer und immer wieder löste sich das Räthsel seiner plötzlichen Anfeindung der Menschen dadurch, daß die Anmaßung der Andern nie zu begreifen vermochte, daß[567] er nicht wie ein andrer Gemeiner in Reih und Glied zu marschiren habe. Viel zu gutmüthig, um jemals Andere zu »drücken«, verletzte er doch jede windige Eitelkeit ohne es zu ahnen, gleich wie der sagenhafte Speer Ithuriels überall die Lüge und Schlechtigkeit aufdeckt. Man haßte ihn instinktiv. Er war so groß und dabei so cordial liebenswürdig, daß man ihn doppelt haßte. Später erst wurde er herb und schroff. Er, dem die Thränen in die Augen traten bei der Betrachtung jeder edeln Handlung, verhärtete sich zusehends und zwang sich gleichsam zu eisigem Egoismus.
Und fühlte Krastinik nicht, wie auch ihn mehr und mehr eine dumpfe Wuth gegen Lüge und Gemeinheit zu verzehren begann?
Mit voller Billigung dachte er jetzt an die höhnischen Glossen Leonharts über den heutigen Adel, welche er früher bestritten hatte. Mit verächtlichem Lächeln hielt er Umschau unter den edeln Standesgenossen des Nachbaradels, wo bereits über den »verrückten Sonderling« nicht wenig medisirt wurde.
Eher geht ein Kameel durch ein Nadelöhr, ehe daß ein Junker oder ein Jude sich bescheiden lernt. Die Katze läßt das Mausen nicht und die Abkömmlinge von Strauchdieben oder fürstlichen Maitressen nicht den Wahn des blauen Blutes.
Mag dieser elende »Adel« noch so sehr auf die Juden schimpfen, obschon bei manchem näselnden Gardelieutnant die mütterliche Abkunft schon gar nicht mehr verkannt werden kann, – unter dem Tisch waschen sich[568] Juden und Junker allezeit die Hände. Daher sagt Disraeli sehr richtig im »Coningsby«: Die Juden seien wesentlich Torys. Denn der Semit dürstet nach »Vornehmheit« d.h. nach der äußeren Geltung derselben. Er beruhigt sich nur in seiner unersättlichen Eitelkeit, wenn er die übrige Welt zu seinen Füßen sieht. Daher zeigt er sich im Verkehr entweder selbstüberhebend dreist oder kriechend gegen den Mächtigeren, den er durch List besiegen möchte.
Diese dem Judenthume eingeborenen Fehler müssen nun mal aus seiner früheren Abhängigkeit entschuldigt werden. Haftet doch im Grunde den meisten Menschen das Snobthum an. Auch besitzen die Juden eine Menge vortrefflicher Eigenschaften, welche für ihre weltkluge Streberei entschädigen, und dies zersetzende Element übt sogar einen wohlthätigen Einfluß aus auf die deutsche Michelei. Daß die unduldsame Eitelkeit dieses auserwählten Volkes natürlich jedes freie Wort in dieser Sache verpönen möchte, scheint halt auch nur eine verzeihliche Empfindlichkeit historischer Rückerinnerung. Gegen die Juden an sich hat man nur einen berechtigten Vorwurf: daß sie geschickter im Kampf ums Dasein zu strebern wissen und wie alle Orientalen kaltblütiger (trotz scheinbarer aufgeregter Zappelei) ihr Ziel im Auge halten, als der sanguinisch nervöse Germane.
Aber wenn man an den Juden ihr protziges Snobthum tadeln möchte, so kann man dem sogenannten Adel oft nur uneingeschränkteste Verachtung widmen. Die Bauern auf dem Lande wissen ein Lied davon zu singen.[569] Diese Junker unterstützen förmlich den Wucherer, auf daß er den produktiven Stand beraube. Sie verbinden sich mit Geschäftsleuten, ob Christen oder Juden, zu den schmutzigsten Gründungen und theilen den Raub mit ihnen; sie decken ihnen den Rücken, falls sie in Verlegenheit kommen.
Der selige Stroußberg, ein genialer Schwindler, nahm sich entschieden am auständigsten aus unter seinen hochvornehmen Compagnons, die er manchmal im Vorzimmer stundenlang bei Champagner warten ließ, weil er selbst ja diese schmutzigen Mit-Geldschinder der armen Leute als Müßiggänger verachtete. – Auf dem Lande haben die vielgeschmähten Juden immer versteckte Hintermänner, wenn es gilt, den Bauernstand zu untergraben. Dringt die Feudalaristokratie erst massenhaft in den Reichstag ein, so wird sie in geheimer Verbindung mit dem Jobberthum das Volk vollends zu Grunde richten. So werden die Produktivstände immer mehr ausgesogen und gedrückt, daher auch immer verbitterter. Während in den Städten die Socialdemokratie langsam und sicher vordringt, brütet auf dem Lande ein dumpfer Haß gegen diese conservativen Wappenschänder, die in den Plappermenten »verdammt schneidig, äh« ihre elenden Phrasen für Gott, König und Vaterland ableiern und daheim im Stillen ihre Procentchen berechnen. Die bodenlos gemeine Interessenpolitik der Parteien ruinirt systematisch, durch Concentrirung des Großkapitals in »Ringe«, das Bürger- und Bauernthum. Und dann wundern sich diese Blinden, wenn eines Tages ihnen das Haus[570] überm Kopfe zusammenbirst, nachdem sie selbst seine unteren Grundpfeiler durchsägt. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. –
Der Adel nützt die Parvenü-Sehnsucht der Juden nach adligem Umgang natürlich nach Kräften auch in »idealen« Gebieten aus. Auch der edle vornehme Graf Fridolin v. Scheckwitz bewirthete auf seiner Villa am Tegernsee den zufällig dort zur Sommerfrische weilenden Chefredacteur der »Berliner Tagesstimme« nebst vier Adjutanten desselben, und fraternisirte mit denselben auf Du und Du, um einigen Reklamerecensionen in der »Berliner Tagesstimme« einzuheimsen. Eine davon schrieb sogar Scheckwitzens eigener Sekretär. Es geschah dies mit unzweifelhaft idealer Absicht, damit doch ja die Intentionen des Dichters richtig gewürdigt würden, und wer könnte dieselben wohl besser verstehen, als des Dichters eigener Famulus! – Wenn nun aber Scheckwitz, der jedem Adligen nachläuft und nur nach Umgang mit »Standesgenossen« giert und in gemeinstem Servilismus vor jeder Fürstlichkeit katzbuckelt, obschon er ultra-radikale Modeansichten in seinen Werken vertritt, und sogar unter durchsichtiger Maske seinen hochseligen Herrn satirisirte, um sich bei dessen Nachfolger einzuschmeicheln, – wenn nun aber Scheckwitz wegen seines intimen Villeggiatura-Verkehrs mit Doktor Bergmann von seinen »Standesgenossen« entsetzt interpellirt wurde: »Herr Gott, ich biett' Sie, Graf! Ein Mensch, der wegen Beleidigung des Fürsten Bismarck gesessen hat und sogar früher[571] ausgewiesen wurde!« – dann warf er naiv hin: »Aber, liebste Comtesse, ich brauche diese Juden! Die Leute müssen halt über mich schreiben!« So spielte er sich den »Standesgenossen« gegenüber als »Dichter« und den Litteraten gegenüber als »Kammerherr Graf Scheckwitz« auf. – Die am wenigst vornehmen Naturen findet man in der sogenannten Aristokratie. Krastinik spie verächtlich aus in der Erinnerung an so manchen pöbelhaften Kriecher oder Stallknecht mit ellenlangem Stammbaum. Solche Burschen verkaufen ihren »Namen« an die Tochter eines Geldfürsten, hauen die verheirathete Jüdin aus germanischer Ritterlichkeit, bringen ihr ganzes Vermögen durch und lassen die etwaigen Söhne ihre Mutter »das Portemonnaie« nennen. So handelt man wahrhaft standesgemäß, wie es sich für einen solchen Stand frecher Nichtsthuer im Größenwahn ihres Nichts am besten schickt.
Die Juden, dies älteste Junkerthum Europas als geschlossene Kaste, sind eigentlich ideologisch-revolutionär angelegt. Darum nennt Renan die hebräischen Propheten mit Recht als Stammväter des Socialismus und Nihilismus. Die Juden stehen den Griechen ebenbürtig zur Seite. Bald siegt der Rationalismus des Hellenenthums, bald der düstre Pessimismus des Judenthums, das sich theilweise in Christi Lehre fortsetzt, In den Juden, einem kräftigen, unterdrückten Volke, lebt ein heißer Sinn für soziale Gerechtigkeit. Sie schufen sich einen eifrigen strengen Gott. Fiat justitia, pereat mundus! Besser, die Welt geht zu Grunde, als das sie ohne Gerechtigkeit[572] fortbesteht. Heut freilich hat der alles zersetzende Zeitgeist auch die Juden so depravirt, daß sie sogar den eigenthümlichen Größenwahn ihrer Race, immerhin ein Zeichen von Kraft, einbüßten. Sie schämen sich ihrer Väter und verachten den jüdischen Namen. Ihr finstrer Trotz ist gebrochen durch erschlaffenden Mammondienst, und gleichgültig platter Lebensgenuß blieb ihnen übrig als einziges Ziel.
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Aber grade, indem dieser wahre Aristokrat mit vornehmem Abscheu all solchen Schmutz erwog, gewann er dem Problem Leonhart, dem Untergang des letzten Idealisten und des letzten genialen Dämons in der nivellirenden Uniformzeit, eine neue Seite ab. Auf immer höhere überschauende Gesichtspunkte erhob ihn die neue Weltanschauung, welche seine naturwissenschaftlichen Studien in ihm reisen ließen.
Sind die Menschen an sich wirklich so schlecht, wie Leonhart's Verbitterung sie auffaßte? War der große Egoist Napoleon etwa gerecht, als er gestand: »Ich habe die Menschen stets verachtet und sie stets behandelt wie sie es verdienen«? Mit Nichten. Die Menschen sind im Ganzen weit besser als ihr Ruf, sind von Natur hülfsbereit und gutartig. Nur soll man nicht ihre Eitelkeit und Selbstsucht verletzen. Thut man dies aber, so sei man wenigstens consequent und wappne sich mit starrem brutalem Egoismus. Auch das muß man Leonhart als Schuld gegen sich selber anrechnen, daß er[573] mit schwächlicher Gutmüthigkeit den Leuten die Wunden verband, die er gerechterweise schlug.
Welch ein unreifes Unterfangen, die Welt und die Menschen anzuklagen! Man bessere oder belehre sie, sei es indem man sie überzeugt, sei es indem man mit Gewaltmitteln sie bekehrt. Aber verlangen, daß Andere ihre berechtigte Selbstsucht auch nur einen Augenblick hintansetzen, um eine fremde Größe aus objectivem Wohlwollen zu fördern, ist lächerlich. Das ganze Naturleben erwächst aus dem Kampf Aller gegen Alle und jedes Wesen in seiner Art dient mit zu dem Gesammtgebäude.
Daß eine Geistespotenz wie Leonhart untergehen mußte, bedeutet freilich einen unersetzlichen Verlust für die Gesammtheit. Aber die Welt dafür verantwortlich zu machen wäre widersinnig.
Warum schlüpfte dieser Heros, ursprünglich zur That und nicht zum Gedanken veranlagt, in eine so gebrechliche physische Hülle? Warum versetzte ihn der Zufall in sonstige Umstände und Zeitverhältnisses die ihm jede Möglichkeit versperrten, seine Individualität frei zu entfalten? Warum sah er nicht klar vor Augen, daß all sein Ringen nach Entwickelung seiner wahren Bestimmung ja doch von vornherein aussichtslos und die Schlacht schon vor Beginn verloren war, und verzichtete darum nicht in stiller selbstüberwindender Ruhe? Warum haschte und jagte er nach Befriedigung seines Ehrgeizes, statt sich mannhaft zu resignieren?
Die Welt trug in keinem Falle die Schuld. Denn von ihr erwarten, daß sie in einem unscheinbaren Federfuchser[574] den Helden und Herrscher erkenne oder mit ihrem halbblinden Maulwurfsblick das Genie begreife – das heißt alle innere Organisation des Weltgebäudes stören und verrücken. Und warum widmete er überhaupt seinen Geist dem Undankbarsten und Unzeitgemäßesten, dem Berufe, den in einer Zeit wilder realer Kämpfe kein Mensch begehrt und nöthig erachtet, dem Berufe des Dichters? Hätte er sich auf die Wissenschaft geworfen, so konnte er hier vielleicht eine Waffe finden, um auf die Zeit zu wirken.
Es war ein Schicksal, es mußte nun so sein. Aber das persönlich individuelle Unglück, zu spät oder zu früh geboren zu werden, berechtigt noch zu keinem Vorwurf gegen den Weltlauf. Ein Unglück und eine Schuld, für die man ihm nicht zürnen darf, – das war Leonhart's Lebensentwickelung. Aber eine Verschuldung bleibt es immer, wenn ein Genie nicht auf seine Mitwelt zu wirken vermag und utopisch an die Nachwelt appellirt. Eine Schwäche und ein Mangel liegt stets darin, wenn ein Mensch sich selbst die Lebensader unterbindet. So ging er denn logisch unter kraft der Verschuldung seiner Charakterschwäche.
Warum gerieth er über jede Gemeinheit und Lüge in Harnisch? warum faßte er, trotz seiner boshaften Menschenkenntniß nicht eben alles persönlich auf? Mundus vult decipi. Mit Wasser wird Alles gekocht und heut stellen die Leute ihren Kochtopf voll schmutzigem Wasser mit cynischem Applomb ganz öffentlich auf den Tisch.[575]
Auch in der Weltgeschichte herrscht einzig die Lüge und die »immanente Gerechtigkeit der Dinge«, von welcher Gambetta schwärmte, wirkt nur in den unterirdischen Wellenbewegungen selbst mit, nicht auf der Oberfläche. Denn alle schlechten Leidenschaften müssen mit den guten zusammenwirken, um Großes und Heilsames zu vollbringen. Allein gelingt dies weder dem guten noch dem schlechten Prinzip.
Die Eroberung Indiens durch die Engländer begleiteten nothwendig unerhörte Greuel. Aber die Thatsache selbst förderte den Fortschritt der Menschheit und ihre Ausführung gereicht jenen energischen Schurken zum Lobe.
Warren Hastings, der Henker Indiens, durfte nicht verurtheilt werden, weil er sich einer so löblichen conservativen Gesinnung befliß. Scheert nur ja nicht den Kamm diesem reinen Opferlamm! Und so saß er denn bald ruhig und wohlgemuth auf seinem Landschloß, das ihm der schuldige Tribut seiner Hindostaner Sclaven zum Dank für seine unvergeßlichen Wohlthaten erbaut. Wenigstens blieb er beständig: auch jetzt noch folterte er eigenhändig, wie früher mit dem Bambus, nunmehr mit der Feder die Seinen. Denn er dichtete als behäbiger Dilettant eine Ode nach der andern: »An die Empfindsamkeit«, »An das Mitleid«, vor allem »An die Tugend«. Seine Hymnen an diese Gottheit waren gefürchtet bei all seinen Gästen, denen er dergleichen salbungsvoll versetzte. Ein herrliches Symbol. Seine Gräuel als Tugend-Dichterling beenden, ziemt dem wahren[576] Lebenskenner, der sich auf der Höhe der Situation erhält. Alle Männer der That und alle Weltmächte, sei es nun das alte Rom oder später das päpstliche Rom, lügen und heucheln aus Prinzip.
Als Bonaparte den heiligen Wallfahrtsort Loretto in seinen Schutz nahm, nachdem er grade an den Papst ein demüthiges Schreiben gerichtet, reinigte er sofort das Marienbild von Perlen und Edelsteinen, unwürdig irdischem Tand. Wer beschreibt aber seinen erhabenen Unwillen, als diese schnöden und überflüssigen Zierrathe sich als Glas und böhmische Steine entpuppten! So waren die Priester in ihrem eiteln weltlichen Sinne ihm lange zuvorgekommen. Sein Schmerz war tief und aufrichtig. O diese Pfaffen, diese Banditen! – Nichts köstlicher, als wenn zwei Diebe einander selbst bestehlen, der Eine im Namen der Freiheit, der Andere im Namen der Gottheit. Und das Volk, das dumme Heiligenbild, läßt alles wehrlos über sich ergehn.
Selbst die Symbole wechseln wie die Ideenbegriffe. Das schöne Wort »Freiheit« kann als »Liberalismus« den krassen Materialismus vertreten und das Königthum umgekehrt als letzter Hort des Idealismus erscheinen. Nur ein Begriff wechselt nie, nur ein Symbol bleibt ewig veränderlich: das Vaterland.
Ein Mastbaum hob sich siegreich als Schlachtpanier über dem Streitwagen der Lombarden als Symbol des Vaterlandes. Und ein Mastbaum diente als Sinnbild der geschlachteten Freiheit, als auf Nelson's Admiralschiff die besten Männer Neapels wie gemeine Verbrecher[577] am Galgen seiner Raae hingen. Aber dieserselbe rohe Henker, Sclave zweier Trybaden, dies rumbegossene Beafsteak, verwandelte sich bei der ersten Breitseiten-Lage von Trafalgar in einen würdevollen Heros. »England erwartet, daß männiglich seine Schuldigkeit thue.« Und er fiel im Sieg: »Ich habe meine Schuldigkeit gethan.« Vaterlandsgefühl hebt Tröpfe über sich selbst empor und steigert unter der Wucht der immanenten Idee die Kraft des Einzelmenschen.
Die natürlichen Bedingungen, die aus der inneren Organisation erwachsen, sind im Menschenleben so unveränderlich wie im Naturreich. Die Weltgeschichte folgt bestimmten Drehungsgesetzen, die man bisher nicht zu ergründen den Scharfblick besaß. Wenn Buckle den Verfall Spaniens lediglich aus seinem fanatischen Religionskultus herleitet und diesen wieder aus der Bodenbeschaffenheit, welche Spanien also für immer zur unculturellen Stagnation verdamme, so ist das eine oberflächliche Einseitigkeit, nämlich eine bloß geologische Betrachtung. Sobald aber die psychische Chemie angewandt wird, ergeben sich ganz andre Resultate im Lande der Calderon und Cortez. Dann erklären sich die Erbfehler als Erbtugenden und umgekehrt. Der starre Jehovacultus dieses auserwählten Volkes, worin schon arabische Mischung erkennbar wird, befähigte es zur Welteroberung. Weil aber die geologische Lage Spaniens widerspracht so verwirrte sich die chemische Zusammensetzung und Spanien konnte seine unnatürliche Weltmacht nicht behaupten.[578]
Man wähnt die französische Politik irgendwie durch äußere Einflüsse und Zeitverhältnisse umwandeln zu können. Und doch lehrt die Geschichte, daß die Grundlagen der französischen Politik stets die gleichen blieben.
Wie Chlodwig die französische Monarchie auf den Stützpfeiler des katholischen Klerus gegründet, so später der »allerchristlichste« Louis Quatorze. Wie die Könige des Mittelalters die Centralisation der Staatsgewalt angestrebt, so kämpften Richelieu-Mazarin den Geist der Fronde nieder. Wie jene lüstern nach Lothringens und Flanderns Besitz geangelt, so »reunirre« man später wirklich diese Länder und grade die Revolution vollendete dies Werk gallischer Völkerbeglückung. Der »Freiheitsbaum«, den diese Republikaner aufpflanzten, wurde ein Upasbaum der Tyrannei, die Prokonsuln und Volkstribune glichen auf ein Haar den späteren Marschällen und Intendanten, Pichegru plünderte Holland, so daß dem Napoleonischen Satrapen Oudinot später kaum etwas übrig blieb. Gaston de Foix, Guébriant, Turenne, Mélac, Louvois lebten weiter unter der Revolution und dem Kaiserreich und wirtschafteten später in Spanien, wo sie sich austoben durften, im Stil des dreißigjährigen Krieges. Das Rheinbundsystem fand schon sein Vorbild in den sogenannten Schwesterrepubliken, welche die erobernde Revolution gründete. Ja, der demokratische Cäsarismus Napoleons I. wie Napoleons III. griff ebenfalls auf Chlodwig zurück und verbündete sich mit Rom. Und die neufranzösische Republik sollte anders handeln? Ihr blieb in ihrer Partei-Zerklüftung[579] das alte Ziel: Centralisation, Anschluß an Rom und Lothringen vom Rhein bis zur Schelde.
– – Sobald man aber die Abhängigkeit aller Volksgenossenschaften von unverrückbaren Gesetzen der politischen Chemie und Geologie (zwei noch unentdeckten Wissenschaften) erkannt, widerlegen sich auch die Vorwürfe, mit welchen die Nationen sich gegenseitig die Wahrung berechtigter Interessen bestreiten. Im Leben der Völker spielt der Neid dieselbe wichtige Rolle, wie im Leben der Einzelnen, und begünstigt das Vorwärtsdrängen. Das chauvinistische Anfeinden alles Fremden beruht im Grunde auf einem tiefen gesunden Gesetz. Denn der Neid, dieser blasse scheue Schleicher, tritt manchmal auch als stattlicher mannhafter Widersacher in die Fehde ein.
Der Neid ist eine Leidenschaft, die man nicht einmal sich selbst einzugestehen wagt. Der richtige Herostrat in seinem wüthenden Ingrimm gegen überlegenes Verdienst spiegelt sich selber vor, daß seine Wahrheitsentstellungen die Wahrheit enthielten. Nun giebt es aber auch Gefühle, die man zwanglos auf den Begriff des Neides zurückführen kann und die dennoch den Charakter des Neides verlieren. So z.B. wenn ein »Heros« in Carlyles Sinne an leitender Stelle, die ihm gebührte werthlose oder doch untergeordnete Leute sieht. Oder wenn ein großer Künstler es mit ansehn, muß, wie Unwerth durch selbstsüchtige Interessenpolitik oder Unverstand zu einem Scheinwerth aufgeblasen wird, während Werke mit einem Ewigkeitsgepräge von seichter Oberflächlichkeit[580] lächerlich gemacht und mißdeutet werden. Der erfolglose Werth fühlt Zweifellos Neid gegen den erfolgreichen Unwerth, aber ist dieser Neid eine unedle Leidenschaft? Entspringt er nicht vielmehr dem Gerechtigkeitsgefühl und zugleich dem unpersönlichen idealen Zorn über die Schädigung des allgemeinen idealen Interesses durch die falsche Werthung des Verdienstes?
So wird man, abstrakt betrachtet, den Chauvinismus aus einem Neid und Hochmuth ableiten können, den man trotzdem ehrenhaft nennen muß.
Wozu in allen Tugenden verkappte Laster suchen, wie der edle Sieur de Larochefoucauld, und selbstsüchtige Berechnung in jeder guten Handlung ausklügeln! Es giebt einen logischen Syllogismus stahlscharfer Argumentation, mit welchem der gesunde Menschenverstand alle Finten und Paraden jener dialektischen Floretfechter durchhaut. Wenn nämlich z.B. Dankbarkeit auch nur eine selbstsüchtige Absicht verbirgt und man beim Erweisen von Wohlthaten auch nur den Dank berechnet, – warum ist dann Undank der Welt Lohn und warum giebt es dann so wenige Wohlthätige und Hülfsbereite? Der Undank mag ja vielleicht eine Dummheit sein, aber er entspricht doch offenbar dem Instinkt der Selbstsucht. Und wenn unser Wesen derartig von Selbstsucht durchtränkt wird, welche Selbstüberwindung müßte dazu gehören, gewissermaßen Wechsel auf Undank zu unterschreiben! Wer Wohlthaten erweist, klügelt aber gar nicht darüber noch lügt er sich zur Deckung fremder Schlechtigkeit die schwindelnd hohe Moral an, daß man[581] auf Dank überhaupt verzichten müsse. Sondern er folgt einfach seiner wohlwollenden Naturanlage. Freilich folgt auch die Schlange ihrer Naturanlage, wenn sie hinterrücks sticht. Den Teufel auch! Man schlägt sie nieder – da folgt man denn auch seiner Naturanlage. Selbstsüchtig ist Beides, ja das versteht sich.
Allein, wenn alles das, was wir als Tugend und Selbstlosigkeit bewundern, auch nur von der gleichen Selbstsucht dictirt wird, so müßte ja die Neigung zur Tugend als zu einem Selbstgenuß bei uns Selbstlingen allgemein verbreitet sein! All die schönen Sprüchlein einer nörgelnden Skepsis zerstieben vor der derben trockenen Thatsache, daß man doch noch egoistischer ist als jene angeblich egoistischen Motive und daher lieber ohne diese heuchlerischen Tugendmotive wie ein brutaler Selbstling handelt. Mag die sogenannte Tugend nur verfeinerte Selbstsucht sein, mindestens ist sie doch ein höherer Grad und das unvollkommene sprachliche Begriffsvermögen unterscheidet sie von der gang und gäben gemeinen Wald-und Wiesenselbstsucht eben durch den nichtssagenden Titel – »Tugend«!
Wo Mitgefühl und passive Selbstsucht collidiren, siegt allemal das Mitgefühl, sobald die sonstige Geistesstruktur eine normal gesunde. Hingegen siegt die Selbstsucht meist dann, wenn sie nicht passiv, sondern activ bei der Collision mit dem Mitgefühl betheiligt ist, wenn das geforderte Mitgefühl sie direkt schädigt. Daher ist es allemal leichter, Jemanden zu sich heraufzuziehen und neben sich anzuerkennen, als ihn über sich zu stellen.[582] Daß aber dennoch im Allgemeinen das Mitgefühl stärker ist als die Selbstsucht, geht aus der Begeisterung hervor, mit welcher normale Menschen für eine große Idee oder für einen Heros ihr eignes Ich in die Schanze schlagen. Man möchte nun natürlich den Gran selbstsüchtiger Eitelkeit herausdestilliren, welcher in der Begeisterung liegt. Dies wird jedoch durch die Thatsache der Vaterlandsliebe widerlegt, welche in besonderen Fällen eine ganze Nation zu selbstloser Hingebung anfeuert. Denn da dieselbe als bloße allgemeine Pflicht aufgefaßt wird, so vermag sie die Eitelkeit in keiner Weise zu befriedigen und weder Lohn noch besonderer Ruhm sind davon zu erwarten. Natürlich scheint ja der Stolz aufs Vaterland zuguterletzt auch egoistisch, aber mit solcher Haarspalterei kommt man nur der Neigung unsrer krittelnden grämlichen Epoche entgegen, alle Unterschiede von Streberei und strebendem Heldenthum, Größenwahn und Größe zu verwischen.
Immer klarer drängte sich bei dieser Analyse der Einzelgefühle dem einsamen Grübler die Gewißheit auf, daß man sich in der wankenden Verwirrung unsrer Umsturzepoche den Stolz auf ein großes Staatswesen wie ein Panzerhemd zurechtschmieden müsse. Jetzt erst verstand er auch »die lächerlichen pangermanistischen Schrullen« seines großen Freundes, die man so oft verspottet hatte – er begriff die Sehergabe dichterischer Intuition.
Amerika mußte entdeckt werden, denn man glaubte an eine Existenz. Ein fester Glaube aber ist allemal ein[583] ahnendes Wissen. »Cogito, ergo sum.« So läßt sich die Theorie vom Gedanken nach Descartes weiterführen.
Im Anfang war das Wort, der Logos, die Vernunft. Aber der blinde Autoritätsglaube, die träge Gedankenlosigkeit, das Unvernünftig-Chaotische setzt seine schwerfällig unfruchtbare Masse stets der lichten Schöpferkraft entgegen. Das Chaos betrachtet sich als die wahre göttliche Ordnung, die neue Welt als eine frevelhafte Revolution. Columbus hieß ein Tollhäusler, Luther ein Zerstörer. Ja freilich muß man stören und zerstören – stören die stumpfe Indifferenz der ideallosen Gesellschaft, zerstören die Drachen, welche der conservative Urschlamm des Bestehenden ausbrütet. Darum dachten sich auch alle Völker den Gott des Lichtes als den Python, den Drachentödter.
Die Prophetengabe ist die natürliche Intuition der Logik, welche die Gegenwart aus der Vergangenheit ableitet und die Zukunft als Konsequenz der Gegenwart voraussieht. Darum sind die großen Dichter alle prophetische Staatsmänner in der Theorie; darum erschaute z.B. Schiller divinatorisch in Wallenstein, dem bestverleumdeten, den Embryo-Bismarck, wie ihn heutige Forschungen endgültig feststellen.
Er gedachte an Leonhart's tiefsinnige Combinationen über die deutsche Weltherrschaft des Mittelalters.
Die Hohenstaufen gleichen den Napoleoniden. Sie führten dieselbe großartige Welttäuschung durch, in der Entfesselung der eigenen Selbstsucht eine Weltbefreiung vorzuschützen. Der eigentliche Napoleon des Waiblingergeschlechts[584] hinterließ einen neugeschaffenen Marschallsstand, den er ganz in des Corsen Manier nach Eroberungen und Waffenthaten betitelt hatte. (Diephold Fürst Rocca d'Arce – von der berühmten Verteidigung jener Felsenburg so genannt.)
So wurden auch gleichmäßige Entwickelungsgesetze der einzelnen Völkergeschichten offenbar.
Die schicksalbestimmenden Genien der Weltgeschichte sind nichts als instinktive Herolde ihrer Zeitströmung.
So folgte auch die Reformation einem unwiderstehlichen mechanischen Gesetz, das sich vollziehen mußte. Aber ihre verschiedenen Formationen, gemäß den chemisch-geologischen Lebensbedingungen in den verschiedenen Ländern, predigen nur wiederum die große physiologische Lehre von der Unzerstörbarkeit und Erhaltung der Kraft. Aus der verfrühten und daher paralysierten Reformation in Italien ging die sinnliche Religion der Renaissance, die Kunst, her vor. Ebenso mußte grade dem Inquisitionsspanien die Entdeckung Amerikas zufallen, ebenso wie später Nordamerika grade von den harten Puritanern colonisirt werden mußte. Denn nur dieser bornirte Fanatismus konnte die uralten Kulturen Amerikas mit so barbarischer Respektlosigkeit vernichten, und dies war eben unbedingt nöthig, um Amerika zu einem jungen Lande zu machen. Nichts gedeihlicher ferner für den Fortschritt Europas, als der hartnäckige Kampf Philipp's II. gegen die Reformation. Denn durch die Reaction gegen dies absolutistische Spinnensystem, das die Welt nur erobern wollte, um sie katholisch zu machen, verschärfte sich die[585] persönliche Initiative, welche in den Oraniern und Cromwell ihre glänzendste Verkörperung fand.
Die ungesunde Großmannssucht Schwedens setzt die Wikingzüge der alten Normannen, aus denen wiederum die Kreuzzüge der französischen Normannen hervorgingen, fort.
»Eine Reformation an Haupt und Gliedern«, nicht eine theoretische Professoren- und Pfaffenästhetik – das war's, was man in Deutschland bezweckte. Aber statt den Wahlspruch Huttens »Durch Freiheit zur Wahrheit, durch Wahrheit zur Wahrheit« zu verwirklichen, richtete die Reformation Deutschland zu Grunde. Jedes Volk straft seine eigenen Erbfehler durch die seiner Helden. Luther war ein Autoritätler. – Als abgezehrtes Gerippe ging das Reich aus dem westphälischen Frieden hervor. Nur die Reformation der Fürsten hatte ihren Zweck erreicht – sie zersplitterten Deutschland in eine Reihe souverainer Duodeztyrannenthümer.
Und doch trotz alledem und alledem erkennt man auch hier die tiefe Weisheit des Weltgesetzes. Denn das Beispiel Frankreichs beweist, daß es auf die Dauer wohlthätiger wirkt, der Idee auf Kosten der weltlichen Macht zum Siege zu verhelfen, als die Staatsgewalt auf Kosten der inneren geistigen Entwickelung zu stärken. Hätten die republikanischen Hugenotten gesiegt, so konnte die zentralistische Einheitsmonarchie nicht durch den Bund mit der Kirche ihre »Gloire« gründen; wohl wahr. Aber diese Niederlage der Idee wurde die Grundursache aller Korruptionen und Revolutionen, an denen Frankreich krankte.[586]
Heut wuchs Deutschland, das siegreiche Land der Ideen, zur politischen Reife empor. Doch schon die Bauern-Constitution Wendelin Hipplers proklamirte gegen die kapitalistische Bourgeoisie den demokratischen Cäsarismus, die auf demokratische Grundlagen gestützte absolute Monarchie. Das protestantische Kaiserreich, von dem Hutten und Sikkingen geträumt, ging in Erfüllung, wie alle vernünftigen Ideen. Sonst würden sie gar nicht in der inneren Offenbarung der Denker auftauchen.
Schon einmal ballte sich das Germanenthum zur Weltmonarchie zusammen, unter Karl dem Großen. Dort spielten die sogenannten Romanen, mit Germanen gemischt, dieselbe Rolle, wie früher die Griechen im römischen Reich. Schon damals gab es in Wahrheit nur zwei Racenmächte: Pangermanismus und Panhunnismus. Der arabische Islam, die Angriffe des assyrisch-ägyptisch-carthagischen Semitismus auf das indogermanische Staatensystem wiederholend, verschwindet wie seine Vorläufer, die Parther, um den mongolischen Osmanen Bahn zu brechen. Die Sarmaten, Wenden und Magyaren Attilas stürzen sich gen Westen, wie später die Mongolen Dschingiskhans, welchen der russische mongolisch-slavische Koloß nachdrängte. So bildet heut der Panslavismus den rechten Flügel und das Centrum, das Magyaren- und Türkenthum den linken Flügel jenes Panhunnismus, der von der Schlacht auf den Catalaunischen Feldern bis auf die Schlacht auf dem Lechfeld, von Lepanto bis Zorndorf, von Borodino bis Navarino unablässig mit der westlichen Kultur um die Hegemonie rang.[587]
Der österreichische Dualismus, die scheinbare Vermittelung dieser Gegensätze, bildet eine Brücke zwischen der inneren Unversöhnlichkeit der Racen.
Dem Oströmischen Reich, obwohl in allen Fugen gelockert, wurde ein langes Bestehen gefristet und Byzanz hielt sich durch Leute wie Belisar und Narses, wie die Habsburger Monarchie durch die Metternich, Prinz Eugen und Radetzky. Diese äußeren Eindrücke wären jedoch ohne Erfolg geblieben, wenn nicht diese Ostreiche ein Bedürfniß der politischen Oekonomie befriedigt hätten. Sie dienten dazu, das Eingreifen des Panhunnismus in die europäischen Wirren abzuhalten. Wie früher das Reich Burgund die Scheidewand zwischen Deutschland und Frankreich bildete, um später als neutraler Mittelstaat Holland-Belgien wieder aufzuleben, und in der österreichisch-spanischen Weltmacht das Bindeglied bildete, so dient heut als Bindeglied Deutschlands und Österreichs und als Scheidewand zwischen Pangermanismus und Panhunnismus – das Ungarreich.
Kann dieses sich halten in der umbrandenden slawischen Sintflut? Kann es seinen Traum eines großen Ungarreiches bis zum Schwarzen Meer ausführen, das einst schon durch die päpstliche Bulle, welche den Johannitern die Wallachei und dem Deutschen Orden Siebenbürgen vergabte, einen Vorläufer erhalten sollte?
Krastinik legte sich mit Ernst diese Frage vor, die ihn als magyarischen Magnaten wie keine andere beschäftigen mußte. Dem nationalen Staate gehört überall die Zukunft. Drum muß man für die Berechtigung der[588] Magyarisierung eintreten, da dies den slavischen Völkerschaften gegenüber einen culturellen Fortschritt und selbst nur eine Etappe der Germanisirung bedeutet. Dem Deutschen aber gebührt ein leitender Antheil an der Führung Ungarns, das er früher allein civilisirte. Ob das Deutsche Reich je an die Leitha rückt oder nicht, ein befreundeter Deutsch-magyarischer Staat wird an ihm seinen sichersten Halt finden.
Deutschland muß ans adriatische Meer vordringen, muß durch Holland und die Ostseeprovinzen sich die Beherrschung der Nord- und Ostsee endgültig sichern, auf daß dies angestammte Herrschgebiet der Hansa eine neue Seeherrschaft fördere. Die Kämpfe, welche die Beschlagnahme dieser Länder begleiten, sind Ergebnisse der geologischen Weltlage und der chemischen Mischung der Rasse-Grenzen, und demnach unvermeidlich. Nach völliger Arrondirung der Nationalitäten drängt die neuere Geschichte hin. Nicht eher kann Deutschland ruhen, als bis die Centralisation der germanischen Rasse in ihm vollendet, bis der deutsche Rhein deutsch vom Quell bis zur Mündung, bis alles von der Donau und Weichsel bespülte Gebiet sich zur Klientel des Reiches rechnet. Keinen Zollbreit fremder Erde soll das Reich sich einverleiben, sondern nur einheimsen, was sein. Aber die Farce des europäischen Gleichgewichts hat ausgespielt. Nicht mehr durch das Mikroskop intriguirender Cabinette schauen wir die großen Weltinteressen. Aus gemischten Rassen zusammengemengselte Staatsgebilde – ungesunde Ueberreste der verflossenen Cabinetspolitik – hören ihre Stunde[589] schlagen. Die Existenzberechtigung der kleinen Staaten hat aufgehört.
Die civilisatorische Mission der deutschen Völkerwanderung, welche die lateinische Welt regenirte und den ihr folgenden slavischen Nachschub wieder in seine Steppen zurückwarf, wird ein Nachspiel finden. Der Zug der alten Nibelungen ins Ostland zu den Hunnen kann auch heut symbolisch worden. »Kolonien« heißt das Feldgeschrei. Hofft man auf die Fiebertropen, die schon jetzt für England und Holland mehr verschlingen als einbringen? Wir brauchen keine Strafkolonien. Die Bedeutung Amerikas für die deutsche Uebervölkerung hat hoffentlich bald ihr Ende erreicht. Nicht in Paraguay haben die Antisemiten ihr lächerliches Neu-Germanien zu suchen, sondern im Hunnenland.
Frankreich aber wird stets ein bestimmender Faktor Europas bleiben, und erlitte es noch zermalmendere Niederlagen. Denn die Logik der Naturverhältnisse läßt sich nicht umstoßen. Die beiden Theile des alten Frankenreiches, das deutsche Mutterland und Francien, die Mittelländer Europas werden immer beide die Weltlage bestimmen. Das »Reich«, gesättigt in Kraftbewußtsein, sollte ein starkes Frankreich mit Wohlwollen betrachten. Gebe man Frankreich, was Frankreichs ist! Deutschland ist Hellas und Rom in eins. Es hat die reichste Bildung und straffste Verwaltung. Und es wird herrschen wie Hellas und nicht wie Rom.
[590]
Die heimkehrenden Bauern blickten scheu ihrem seltsamen neuen Gutsherrn nach, der so spät nach Sonnenuntergang in die Berglandschaft hinausritt. Der schäumende Burzen wirbelte, vom Piatra Mare fegte ein leichter Windstoß herüber. – Xaver trabte weiter und weiter. Rothgelockte Hyazinten schwankten noch wildblühend am Wege hin. An einer Waldspitze sproßte aus Hecken ein Haideröslein. Aber immer öder starb die Pflanzenwelt ab.
Sabbathglocken und das Schellen-Läuten der Heerden weckten noch, sich mischend, ein schwermuthsüßes Echo. Dann verhallte auch dies. Gelassen schlenderte der Hengst durchs feuchte Farrenkraut, Im Klee raschelte es einmal auf, als ein Eichhörnchen, das dort Eichelnüsse auflas, beim Nahen des Reiters wieder den Baum hinanturnte. Wie ein Kobold lugte das rothe Hänschen durch die Zweige dem Reiter nach. Gleich einer Welle, bog sich die Straße auf und nieder. Und auf und nieder ging seines Herzens Wellenschlag. In der dämmerblauen Ferne hob sich Berg an Berg, wie immer höher sich Gedanken herausgipfeln aus dem Dunstflor der Zukunft.
Hellgrün, gelbbesprenkelt wallten die Felder hin. Vom Tannicht schlichen spukhaft bleiche Schatten thalab. Alles totenstarr und lautlos in dunkler Einsamkeit, nur die Schneekette der rumänischen Grenze flimmerte traumhaft herüber. Grenzenlose Stille lastete über der Gebirgshalde. Ja, das waren die alten Berge, die er als Knabe durchschweift. Und ein Gruß von Geisterhänden schien leise seine Wangen zu streifen. Traulich raunte diese[591] schweigende Natur geheimen Zauber und es rauschte der Strom: Willkommen! Kennst Du die alten Spuren wieder?
Diese Bilder bunte Fülle floh einst an Dir vorüber, da Dein Sinn noch jugendfrisch wie die schlanke Edeltanne wuchs. Doch Blitze verkohlten Dir das saftiggrüne Holz, und der Gottgedanke, welcher die Welt verknüpft und nach welchem Dein Pilgerstab gesucht, Du hast ihn erst heute gefunden in der einstigen Heimath.
Ja, er hatte sie endgültig überwunden, diese chronische Krankheit des Jahrhunderts, den selbstbefangenen kindlichen Größenwahn, wo Keiner gehorchen und Jeder commandiren möchte. Auf der erklommenen Zinne einer höheren naturwissenschaftlichen Anschauung konnte er auch den Schicksalsglauben eines Welt-Messias wie Napoleon an seinen Stern nur als lächerliche Selbsttäuschung bedauern. Wohl lag eine dumpfe Ahnung höherer Gesetze in dem Fatalismus eines solchen Menschen:
»Ich fühle mich zu einem Ziele hingetrieben, das ich nicht kenne; habe ich's erreicht und nütze ich nicht mehr dazu, genügt ein Atom mich zu vernichten.« Aber wenn der Welterschütterer fortfuhr: »Bis dahin vermögen alle menschlichen Kräfte nichts wider mich«, so mußte ihn diese Ueberzeugung nothwendig zu jenem Delirium des Größenwahns führen, das sich in Worten austobt wie: »Es beweist die Schwäche des menschlichen Geistes, daß man zu glauben wagt, man könne gegen Mich ankämpfen.«
Nein, sondern es beweist grade »die Schwäche des menschlichen Geistes, wenn man glaubt, ankämpfen zu können« gegen das ewige Weltgesetz. Zwei mal Zweimacht Vier und nicht Fünf. Wer das vergißt und den Sinn für die Realität verlor, den stürzt allerdings »ein Atom«, aber dies Atom suche er in sich selber! Wohl ruhen im menschlichen Geist dicht nebeneinander Größe und Größenwahn. Schwer ist's, jene innere Ruhe zu bewahren, welche die wahre Größe verbürgt, und das eigene Können stets nach richtigem Maß zu schätzen. Vornehmlich schwer, wenn die thörichte Blindheit der Welt mit ihren falschen Maßen mißt und daher verkannte Größe naturgemäß zu übertriebenem Selbstgefühle treibt.
Wohl würde die selbstbeschauliche Vorwegnahme seiner künftigen Größe in den prahlenden Aeußerungen des obscuren Kapitäns Bonaparte lächerlich wirken, wenn er auch nur um die Hälfte weniger groß gewesen und später durch unberechenbares Erfolgsübermaß sein Größenwahn nicht gleichsam gerechtfertigt worden wäre. Aber eine solche Gemüthsanlage mußte endlich doch zum Verderben umschlagen. Größenwahn im gewöhnlichen Sinne konnte ihn zwar nicht bezwingen, weil er ja wirklich so groß, aber dafür reifte denn in ihm der Cäsarenwahnsinn. So wird selbst die Größe denselben Gesetzen unterthan, wie die eitle Selbstsucht der Durchschnittsmenge, und auch sie richtet sich zu Grunde durch Uebermaß des Wollens.
Und da sollen die Menschen dann Schuld sein! »Wenn der Empereur die Menschen verachtete, so wird man jetzt wohl zugestehn, daß er seine Gründe dazu hatte!« So endet der krasse Egoismus überspannter Größe mit einer Anklage gegen den Egoismus der Kleineren![591]
Das Alles ist Thorheit. Die Menschen klagt nur Derjenige an, der sie nöthig hat. Der inneren Größe aber können die Cothurne der Pöbelwelt nicht einen Zoll hinzufügen noch hinwegnehmen. Wozu das Jammern und Schimpfen über eine Welt, die sich nach unabänderlichen Gesetzen dreht! Sie wird schon ihre Vorwärtsdränger selber finden. Du bist solch ein Held? Glaube es nicht! Denn wenn du es bist, so wird sich die Stunde schon finden, wo das Welt-Naturgesetz dich zu seinen Zwecken verbraucht. Jeder, der »eine Kraft« (une force) ist, wie der naturwissenschaftliche Zola dies nennt, wird auf den Punkt magnetisch hingezogen, wo er seine elektrischen Schläge austheilen kann. Und wem eine solche fruchtbare geologische Lage für seine chemische Kraftmischung sich nicht von selber unterschiebt, Der ist auch keine Kraft.
Scheitert jeder Versuch, den Strom der latenten Kraft frei zu machen, so bescheide man sich in stiller Gelassenheit, statt in nutzlosem Größenwahn den Rest seiner Kraft zu vergeuden. Für die Welt ist ja der Schade gering. Für jeden Untergehenden tauchen zehn Neue auf. Aber wohl bleibt es von unberechenbarsten Folgen und verzögert die Entwickelung der Menschheit, daß die geologischen Lagen absichtlich verschoben und die chemischen Zusammensetzungen hierdurch verwirrt werden, indem sie so ihre wahren logischen Lebensbedingungen verlieren. Diesen Einklang der geologischen Materie, der naturgemäßen Außenverhältnisse, zu der lebendigen wirkenden Kraft herzustellen, erscheint als die Triebfeder aller[592] Revolutionen. Eine gewaltige »Kraft« wie Leonhart konnte zwar durch keine niederwuchtende Dumpfheit der Materie gehindert werden, sich ununterbrochen in elektrischen Schlägen zu entladen und sich rastlos durch Thaten kundzuthun. Daß aber den Sinn und die Bedeutung dieser Geistesemanationen nur so Wenige begriffen, lag theils in der zu schwächlichen Struktur seiner Materie-Hülle, welche die innere chemische Mischung oft dem rauhen Einfluß der Außenwelt preis gab, theils aber auch in der unnatürlichen Lage seiner geologischen Lebensbedingungen. Nicht in ihm steckte Unnatur, sondern grade er war ein logischer einfacher Naturbegriff, eine schlichte geschlossene Naturkraft. Unnatur beherrschte nur die Weltmaterie, in einen unorganischen Brei durcheinandergequirlt. Größenwahn eines mönchisch Cäsarenwahnsinnigen in seinem Alpenschloß; Größenwahn eines Zitterers an der Newa; Größenwahn des Gottesgnadendünkels allerorts, der taub und blind wähnt, das monarchische Prinzip auf den alten vermorschten Grundlagen retten zu können; unglaubliches Phosphoresziren verfaulten Adelsgerümpels überall – und dagegen der scheußliche Größenwahn der Anarchie, des Nihilismus, der Socialdemokratie, welche in ihren Dynamitbomben und Knüppeln die alleinseligmachende Panazee für den kranken Staatshaushalt gefunden glauben. Tobt euch nur aus, ihr Ich-Sucher, und macht aus Nichts ein Etwas! Das Ende trägt die Last. Ob sich der Geist des Bösen auf Erden nun als Fürst oder als Pfaffe vermummt, oder ob er als schnödes Pöbelregiment im Namen der[593] Freiheit Verbrechen begeht, stets muß er gebändigt werden. Was Republik, was Monarchie! Das Schlechte muß zu Grunde gehen. Nie währt das Reich der Dummheit und nur das Vernünftige bleibt bestehen. Wenn der Einzelne seiner Kraft und Ueberzeugung gemäß gegen Dummheit und Unrecht eintritt, so erfüllt er eben löblich sein Menschenthum. Aber sobald er ungeberdig jammert, weil dieser Kampf erfolglos, schädigt er nur sich selber. Das Weltgesetz, der Logos, hilft sich schon selber durch und schleudert alle Metternichtigkeiten mit einem Fußtritt bei Seite. Dazu bedarf es keiner Menschen. Am weisesten also, wer sich gelassen von der Woge treiben läßt. –
Krastinik mußte unwillkührlich lächeln, als grade zu diesen Gedanken sich eine seltsame Illustration bot. Sein Rößlein nämlich, ein schmucker Walachischer Bergklepper fand bei einem Engpaß, den man soeben passiren mußte, den von Regengüssen aufgeweichten Boden in der Paß-Mitte zu undelikat für seine vornehmen Beine und kletterte daher plötzlich ohne weiteres seitwärts über die Felsen weg. Sein überraschter Reiter ließ ihm den Willen, auf die Gefahr hin den Hals zu brechen. Doch überwand der rüstige Klepper alle Hindernisse; nur nahm er keine Rücksicht darauf, daß ein Dornstrauch seinen Reiter quer durchs Gesicht schrammte. Als sie unten angelangt, ließ der störrige Missethäter ein triumphirendes Wiehern vernehmen.
Krastinik lachte laut auf. Jaja, so muß Jeder seinen Willen haben, jeder rücksichtslos halsbrechende Felsparthieen hinanstürmen, um nur seinen Eigendünkel zu befriedigen.[594] Zugleich aber erkannte er jetzt, daß auch der Größenwahn nur ein naturnothwendiges Requisit unsrer ganzen Zeitrichtung, indem er das allgemeine Streben verräth, sich hervorzuthun. Vor einigen Tagen war ihm aus Berlin ein Brief nachgesandt, dessen Schreiber ihn noch dort im Zenith litterarischen Ansehens vermuthete und daher seine Vermittelung in Anspruch nahm. Ein Dreiviertelsnarr, den man frei herumlaufen ließ, ein entfernter Cousin Krastiniks in Russisch-Polen versetzte ihm Folgendes:
»Ich, Fürst Lubartschinsky, wohne jetzt in Kowno, Festung gegen Preußen gebaute. Cher Cousin! Anbei mein Photographie mit all meine Orden. Mitglied bin ich von alle gelehrte Körperschaften der Welt, Correspondent mit alle gelehrte Gesellschaften.« (Dies war richtig: er correspondirte, aber einseitig. Die Photographie bot einen ungeheuerlichen Anblick: Förscht Lubartschinsky mit sämmtlichen Sternen, Kreuzen, Mitgliedszeichen, Schützenfestbändchen, Cotillonorden seines Erdenwallens und mit dem dazu gehörigen Ruhm bedeckt! Man staunte baß, wo er all diesen Flitterkram auftreiben konnte. Half nichts andres mehr, so hatte der Ruhmesdurstige die Litzen und Borten seines Dolmans vom Schneider so zuschneiden lassen, daß sie Sternen und Kreuzen ähnlich sahen. So stand er nun da wie ein Götze unter der Last seiner Ehren und grinste vertrauensselig).»Cher Cousin! Vous voyez auf mein Photogramm, daß ich bin wie Wenige gestempelt.« (»Stempeln« nannte Lubartschinsky alles Menschenmögliche. Wo ihm[595] irgend Begriffe fehlten, da stellte dies Wort zur rechten Zeit sich ein.) »Eh bien, enfin, mon ami, das Akademie der Wissenschaften in Berlin hat noch nicht gestempelt mein distinguirtes Person. Mag ich detestiren auch Preußenvolk, von Gott verfluchtes, muß es doch stempeln mich. Nun habe gehört, daß Sie, bien-aimé, sind geworden ein großer Mann in Berlin. Pour l'amour du Jesus-Christ, lassen Sie mich flehen auf Knieen, zu bemühen sich für Ihr armes Vetter Lubartschinsky, wohnhaft in Kowno, Festung gegen Preußen gebaute. Sind Sie geworden gestempelt, so kann man auch stempeln le prince de Lubartschinsky. Adieu, mon ami, je vous adore. Schicke nächstens 100 Rubel für Auslagen. Stempeln, stempeln, stempeln Sie!
P.S. Dieser Brief sein genügend gestempelt, n'est- ce pas?«
..Krastinik lachte laut auf bei der Erinnerung an diesen Ukas des unschädlich Verrückten. So wollen sie heut alle »gestempelt« sein – verrückt, aber nicht unschädlich. Wenn ihnen kein anderer Orden blüht, so wollen sie mindestens mit einem Tugendpreis »gestempelt« werden.
..Welche Stille ringsum auf der Haide! Es war, als läge die ganze Welt erstorben hinter ihm. Die Briefe »guter Freunde«, die jetzt auf den neugebackenen Majoratsherrn herabzuschauern begannen, tönten wie ein fernes mattes Echo bewegter Vergangenheit. Kann der Mensch sie wirklich ertragen, eine so tiefe Einsamkeit? Ruhe und Bewegung müssen wechseln, soll der Geist sein Gleichgewicht bewahren. Fern vom Contakt mit der Menge, sieht[596] man die Dinge zu schwarz oder zu rosig, sieht Teufel und Engel, wo doch nur armselige schwache Menschenkinder ihren kindlichen Unfug treiben.
Jaja, Abwechselung muß sein. Hier allein von seiner Erhabenheit zehren und verbauern ging nicht an. Das fühlte er jetzt deutlich genug. Erst an Menschenauffassung kann sich eine feste Weltanschauung erproben. Sich absondern von der Menge, verräth wenig Muth. Man soll die Welt nicht bessern wollen, man soll sie verstehen. Und immer klarer und ruhiger durchschaute er das Problem des Heerden-Mechanis mus der Gesellschaft.
Alle Regeln sind falsch, weil sie lauter Ausnahmen zulassen. Dieses bekannte Paradoxon enthält eine Tiefe der Lebenserfahrung, welche nur Wenige ahnen. Alles gilt nur von Fall zu Fall. Das Wesen der Genialität besteht daher in der Sicherheit, für jeden einzelnen Fall die entsprechende Regel zu finden.
Lebensregeln, Moralregeln, Kunstregeln? Es giebt keine. Jede Kraft ist sich selbst Gesetz, nur die conventionellen Schein-Puppen schwatzen von unumstößlichen Gesetzen. Darum sollte auch andrerseits das Genie seine apodiktischen Lehren unterlassen, da es das psychologische Moment nie berücksichtigt und stets von sich selbst aus schließt. So stellt z.B. Napoleon Grundsätze der Kriegskunst auf, als wären dies unerschütterliche Normen, obschon dieselben jede mittlere Feldherrnbegabung sicher ruiniren würden. Gewiß siegt meist der Angreifer, obschon der gesunde Menschenverstand das Gegentheil annimmt, weil die eigene Initiative den Gegner fesselt.[597] Allein, wer falsch angreift, wird grade so gut geschlagen. Auch das Umgehen des Feindes mit der ganzen Masse, statt mit einzelnen Corps, losmarschirend auf des Feindes Rückzugslinie und die eigene preisgebend, mag als eine strategische Idee gelten, die in ihrer Einfachheit die seltenste Großartigkeit entfaltet, aber einen minder entschlossenen Feldherrn in unabwendbares Verderben verstricken würde. – In Masse vorbrechen, statt sich zu zersplittern, ist ein herrlicher Grundsatz. Aber wenn die geologische Lage dies nicht zuläßt, so soll man es auch nicht versuchen.
Leonhart fröhnte diesem Prinzip des Masse-Bildens: weil aber die geologischen und atmosphärischen Verhältnisse des deutschen Geisteslebens in Gestalt der gedruckten Litteratur dem zuwider lagen, so kam er so nur ins Gedränge und deployirte nicht sachgemäß. Daher seine äußeren Niederlagen, trotz der genialen Anlage seiner Pläne. – Er wechselte oft seine Operationsbasis, an sich ein geniales Verfahren, verlor sie aber mehrmals dadurch. Und während er den Feind abschnitt, wurde er selbst abgeschnitten von der ungeheuren Uebermacht.
So handeln die Männer der Zukunft, deren Schlachten auch nach ihrem Tode gewonnen werden. Anders aber erscheinen die Männer der Gegenwart, die den Erfolg der Realität erzielen. Dies sind die wahren Realisten, weswegen sie auch stets den Idealismus unnützlich im Munde führen. Denn Solches entzückt ja die geschmeichelte Lüge, »Welt« genannt. Genie macht anrüchig, »vornehmes« Weihepriestern macht ehrwürdig, ein Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.[598]
Der rechte Weltmann und Sinnenmensch zeigt sich zwar äußerst schwach bei sclavischer Befriedigung seiner kleinen Leidenschaften, aber äußerst stark, wenn es ein imponirendes Auftreten gilt. Und dazu gesellt sich das sittliche Pathos, diese logische Folge gänzlicher Verlogenheit. Was man so Sonntagskinder nennt, das sind gewöhnliche Burschen mit lebhafter geistiger Beweglichkeit. Dann pflege man vor allem den stattlichen Corpus, auf daß man den lieben Frauen gefalle. Wer einen eleganten Bückling zu produciren versteht, besitzt den Schlüssel der wahren Lebenskunst.
Nun ja, das alles ist wahr. Aber wozu die Dinge so schwer nehmen! Was einmal nicht zu ändern, das liegt also in der Natur bedingt und also ist es vernunftgemäß. Man soll nur verlangen, was die Natur gewährt. Maulesel, Ziehochsen, springende Ziegenböcke kommen spät oder früh zu ihrem Weideplatz und schleppen ihre Fracht. Lahme Klepper und zierliche Damenzelter thun halt, was sie können. Und wenn der trainirte Vollblutrenner sie um zwanzig Pferdelängen schlägt, so soll man nicht murren, weil er kein Flügelroß ist. Pegasusflügel wachsen nicht oft, auf welchem Gebiet auch immer, und der Phönix steigt in jeder Generation nur einmal aus Flammen empor. Wenn die kneiferblinde Menge das Flügelroß nicht erkennen kann, was schadet das! Jedes nach seiner Art. Die Erfahrung lehrt, daß ein Schwarm Spatzen einen Adler mürbe zupft. Aber darum foll man doch nicht mit Kanonenkugeln gegen Spatzen schießen, denn damit trifft man sie am schlechtesten. Gegen die Spatzen-Verschwörungen[599] der Welt hilft keinerlei Waffe. Sie zersausen sich schon untereinander ums liebe Futter; so lösen sie sich selbst in Wohlgefallen auf.
Bei dieser Spatzen-Theorie flogen ihm unwillkührlich all die Spatzenschwärme vorüber, die im Leben herumpiepen. Da sind die magern Spatzen mit geblähtem aristokratischem Kropf, die dem sogenannten »Staate« ihre Dienste weihen. Jeder dieser Wichte hält sich für ein hochwichtiges Rad des Regierungswagens und alles, was außerhalb dieser Sphäre liegt, für untergeordnetes Unterthanengesindel. Jeder muß kriechen vor Jedem über ihm – der Hauptmann vorm Obersten, der General vorm Commandirenden, der Regierungsrath vorm Geheimrath, der Geheimrath vorm Minister, und alle miteinander kriechen bäuchlings vor jedem gräflichen Hofschranzen und Titularlakeien, um endlich vor »höchsten und allerhöchsten Herrschaften« einen Veitstanz des Byzantinismus aufzuführen. Der Adelspöbel vollendet dies größenwahntolle Strebergepiepe als Massenchorus. Jeder dieser Leute hält sich für hochanständig und bieder, weil er keine silbernen Löffel stiehlt, die bürgerliche Moral intus hat, und dem Nebenmanne nur indirekt das Futter vor der Nase wegstiehlt. Von Interesse für höhere Dinge keine Spur; die Begriffe der höheren Moral nie auch nur geahnt. Alles eingezäunt in den engsten Kreis hochtrabender Berufspflichten, die höchstens ein fleißiges Biberthum oder eine Fuchsschläue ausbilden können. Zu dieser »Gesellschaft« par excellence gesellt sich nun noch das fette Protzenthum, sei es als Finanzparvenü und Waarenfeilscher[600] jeder Sorte, sei es als Juristen-Rechtsverfälschung, sei es als Gelehrtendünkel Maulwurfshügel für Alpen ansehn, darin beruht der eigentliche Scharfsinn der lieben Welt. Unter den sogenannten »Wissenschaften« stellt lediglich die Chirurgie und die exakte Naturwissenschaft noch etwas Reales vor, schlägt aber ins Urkomische um, wenn sie aus ihrer Seichtigkeit eine Weltanschauung zurechtzimmern will und in kindlichem Unfehlbarkeitsdusel über höhere Gebiete aburtheilt, wie Dubois-Reymond einmal über Goethes »Faust«. Und neben diesen werthlosen Wust und Krimskrams setzt endlich auch noch das Allererbärmlichste, die »Aesthetik«, ihr Häufchen windiger Spreu. Da wimmelt es von Shakespeare-Jahrbüchern und Goethe-Jahrbüchern daß Einem Hören und Sehen vergeht. Von einem Verständniß der Meister natürlich keine Ahnung, statt dessen geistlose Compilationen über jeden Hosenknopf, den man irgendwo in einem Kehricht entdeckte – steht weit abseit, ihr Profanen! Da entdeckt Einer einen Dritten Theil des »Faust« und beweist, daß der erste Theil ursprünglich in Prosa geschrieben. Darauf aber wird die Urschrift entdeckt, natürlich in Versen – welterschütternde Großthat! So wird Einer dieser Goethepfaffen stets vom Andern abgethan. »Was ist das für ein Gewäsch über den Faust! Gebt mir 3000 Thaler jährlich und ich schreibe euch einen Faust, daß ihr die Schwerenoth kriegt!« rief der titanische Grabbe. In reklame-berühmten Litteraturgeschichten wird daher auch »der thörichte Grabbe« mit einem Fußtritt bei Seite geschleudert. Andre »christliche« Litteraturgeschichten erfrechen sich, den »frivolen[601] Juden Heine« als eine dreiste Null abzuthun. So etwas nennt sich in Deutschland ästhetische Wissenschaft.
O Tollheit, o unergründliche Dummheit der Menschen! Dieses Corps der Rache rümpft die Nase über »moderne Litteraten« und schwindelt einen seichten Reklamegötzen in die Akademie der Wissenschaften hinein: Denn man finde in unsrer traurigen Zeit der Decadence keinen »Litteraten«, sondern nur einen germanistischen Litterarhistoriker würdig, in so illustrer Genossenschaft zu thronen!
Ja, so wird man »groß« in dieser Welt des Humbugs. Man schmiert eine von gröbstem Cretinismus strotzende Litteraturgeschichte, in der man mit oberfauler »Gelehrsamkeit« die scheußliche Lachmannsche Theorie über das Nibelungenlied wiederkäut und über Goethe in heuchlerische Verzückungen geräth, um die »Epigonen« herzlos mit blödem Unverständniß abschlachten zu dürfen. Dann verschafft man sich vor allem einen Nachschub von liebedienerischen Scholaren und schmuggelt dieselben auf alle leer werdenden Lehrstühle ein. Stirbt man dann, so hat man sich solch einen Famulus als Nachfolger herangezüchtet, der eiligst den vakanten Papststuhl des verehrten Vorbilds einnimmt und in seinem Stile weiterackert. So hat man sogar noch seinen Nachruhm sorglich vorweg »versichert.«
In den bildenden Künsten derselbe Lügenmechanismus. Gottsträfliche Intriguanten, die als Künstler nichts als geschickte Macher, erobern sich das höchste Ansehn, indem sie die Feigheit der Schwächeren terrorisiren. Denn nicht das künstlerische Können entscheidet. Wer versteht heut etwas davon, heut, wo der Eine bloß die Sujets beäugelt[602] und die schlechtesten Historienbilder für Heldenthaten ansieht, der Andre bloß die Handwerksmätzchen bestaunt und ein raffinirtes Virtuosenportrait für den Gipfel der Kunst hält! Und als Untergrund dieser ganzen gleißenden Firniß-Gesellschaft die großen Massen, die als Atlas auf ihren nimmer müden Armen diesen Olympos tragen. Bei ihnen regiert wenigstens nur der Kampf ums Dasein in der rohen äußerlichen Form, und man schachert bei ihnen nicht mit den heiligsten Gütern der Menschheit, mit Wahrheit und Kunst. Sie fürchten Gott und das Kriminalgericht, nähren sich schlecht und recht, und schwören im Uebrigen auf ihre Zeitung. Denn was man Schwarz auf Weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.
Allerdings steht ja dem so beschaffenen Kasernen-Organismus einer bureaukratisch-kaufmännischen Gesellschaft der Originalmensch und gar das Genie wehrlos gegenüber, und muß nothwendig untergehn. Wie darf es sich unterstehn, die Preise zu drücken, den Markt durch seine Ueberproduction zu stören! Allein, das ist weise das ist naturgemäß. Was sollte aus einer Welt werden wohin würde die Entwickelung gerathen, wenn man statt des hohlen Scheins das Sein anbeten, wenn man die wahren Könige der Menschheit nicht verborgen im Dunkel stehen und die Nichtse auf dem Markte sich spreizen ließe! Denn die ungeheure Majorität der Menschen kann nur durch schlechte Leidenschaften zur Arbeit gestachelt werden, durch gute nie. Daher ist nur eine solche Welt geeignet, als bequeme Behausung der Menschenmassen zu dienen, und auf die Massen kommt es ja an. Ein Genie zählt auch nur[603] als einzelner Mensch und darf beileibe keinen breiteren Platz beanspruchen, als jeder beliebige Tropf mit platter Stirn und strammer Lende. Dies ist die wahre Demokratie, die Demokratie der Mittelmäßigkeit, der prudente médiocrité, von welcher Welttyrann Napoleon schwärmte.
Darum weihe sich Jeder in stillbeseligter Erbauung dem wahren Ideal: einem normalen Verdauungsprozeß und den schönen blanken Zwanzig-Mark. Vor Geistesthaten präsentirt ja kein Gardist das Gewehr. Ein gutgebratenes Wiener Schnitzel schmeckt besser, als der überflüssige Schönheitsquark, und wer nur als Schnecke am eignen Schleim emporkriecht, erklimmt das erhabenste Ziel eines guten Bürgers: einen hübschen Titelrang.
So rollt die wohleingeölte Maschine der sittlichen Weltordnung munter fort. Die Damen plaudern auf dem goldnen Deck der Staatsgaleere, frißt auch drunten geheimes Leck. Aber die Parze des kommenden Jahrhunderts schreitet langsam durch die Nächte dahin in dunkeln Träumen. Die Fackel für den Weltenbrand beleuchtet ihre hungerbleichen Züge, ihr unumwölktes Hirn zerschneidet den Phrasendunst der Zeit. Wer vergebens sich klammert an veraltete Banner, fühlt sich hülflos fortgerissen auf den Bahnen eiserner Nothwendigkeit. Die Wellen kommen, Wellen gehen, und die Planken lockern sich nach und nach. Der Sclave im Rumpf des Schiffes entfesselt sich jauchzend, wenn er droben mit Stiel und Stumpf das Deck zerbersten hört. Und immer näher branden die donnernden Fluthen. Aber ihr hört sie nicht.
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Schon geraume Zeit vorher hatte Krastinik das letzte Walachen-Dorf der Grenze durchritten. Jetzt bei einbrechender Nacht sah er sich angesichts der rumänischen Grenze in einem schmalen Bergthal. Wo übernachten? Einige Hütten lagen umher; ein Hirt im Bärenpelz, ohne Hemd darunter, die nackte Brust offen dem Winde bietend, trieb gerade eine Pferdekoppel von der Weide ein. Der Graf trat ins nächste Gehöft und grüßte. Kaum hätte er sich verständlich machen können, aber ein Zufall begünstigte ihn. Am Tisch neben den walachischen Bauern saß ein stattlicher Mann in braungelbem Jägerrock mit grünen Aufschlägen, Hirschfänger an der Seite. Er erhob sich und grüßte freundlich. Der Graf erkannte den Forstmeister des Comitats, einen Sachsen. Sobald man dem erst finsterblickenden Bauern auseinandergesetzt, daß dies der große Graf des nächsten Bezirks sei, schwenkte er ihm mit der natürlichen vornehmen Grandezza des Romanen sein Glas Landwein entgegen:»Sanitate bona!« Er habe gehört, wie der Forstmeister verdolmetschte, daß der Domnule (Herr) gut gegen seine Leute sei. Dann schenkte er ihm ein und bot den ungeheuren Schafkäse an, der auf dem rohgehobelten Tische stand. Seine Frau, (in der eigenthümlichen Tracht der Berg-Walachinnen, statt eines Rocks nur zwei rothgestreifte Schürzen vorn und hinten umgebunden) bereitete dem erlauchten Gast mit gastfreundlichem Grinsen ein Lager in der Wohnstube.
Noch lange saßen der Forstmann, eine germanische Barbarossagestalt mit langwallenden Barte, und der Graf zusammen. Ersterer war hierher verschlagen worden, um[605] den Grenzstreit zweier walachischer Horden über ein Thalflüßchen zu schlichten. Eigentlich, vertraute er flüsternd an, befände man sich hier unter lauter Räubern und Schmugglern. Aber der Gastfreund sei natürlich sicher wie in Abrahams Schoß.
Als man in tieferes Gespräch gekommen und Krastinik seine deutschfreundlichen Sympathien erschlossen hatte, thaute der Andre auf. Es zeigte sich, daß seine Vergangenheit eine bewegte gewesen war. Als Forst-Eleve in Tharand bei Dresden ausgebildet, hatte er sich wie die meisten Siebenbürger Sachsen ganz als Deutscher gefühlt und die Einheitsbestrebungen der deutschen Turnvereine in sich aufgenommen. Als daher der Freiheitskampf der Schleswig-Holsteiner losbrach, hielt es ihn nicht in der äußersten Südmark deutscher Gesittung (der sächsischen Coloniae Imperii Germanici, deren Kirchengemälde neben dem ungarischen Wappen den deutschen Reichsadler führten) und er eilte hinauf zur äußersten Nordmark. Dort an der Eider focht und blutete er für die deutschen Brüder unter dem Befehl des Generals v.d. Tann. Dieser war ihm zeitlebens sein Heldenideal geblieben, obschon er nach der Schlacht von Fridericia für immer in die ungarische Heimath zurückgekehrt. Der heldenhafte und doch vornehm milde Sinn des bayrischen Freiherrn leuchtete ihm noch heute vor als Sinnbild deutscher Männlichkeit und sein Herz schlug höher, als er später von den Thaten des Corps v.d. Tann in Frankreich vernahm.
Beide sprachen hierüber. Welch ein Leben, welch ein[606] typisches Sinnbild für die Entwickelung der neuen deutschen Größe! 1848 als Freischärler mit deutschen Milizen der Kriegsmacht des Inselreichs trotzend. 1866 als süddeutscher Heerführer mit unerschütterlichem Muth dem Höllenfeuer der Preußen Stand haltend, um die Waffenehre zu retten, aber innerlich jauchzend über jeden Sieg der norddeutschen Großmacht, die auserwählt, um den Traum aller großdeutschen Patrioten zu verwirklichen. Und nun 1870, glücklich und stolz als deutscher Häuptling dem Aufgebot des gemeinsamen Herzogs zu folgen, greift er mit einem Hochmuth kriegerischer Ueberlegenheit die französischen Heere an, als sei er ein altfränzösischer Maréchal de l'Empire.
1848-1888, nur vierzig Jahre, für Deutschland vier Jahrhunderte. Welch erschütternder Beweis für die Allmacht der geheimen Drehungsgesetze, das binnen vier Jahren (64-70) die Entscheidung fiel über des ununterbrochene Ringen und Streben dieser großen zerrissenen Nation, seit 1648, dem Westfälischen Frieden! Ein Volk aber, das solche Leiden verwand und in rastloser Arbeit seinem letzten Ziele entgegentrieb durch alle Ränke des neidischen Europa hindurch – ein Volk, das sich urplötzlich in seiner ganzen Löwenkraft erhob und seine waffenstarrende Mähne schüttelt, – ein solches Volk ist berufen, das letzte Wort zu sprechen und das Größte zu vollbringen, das Reich freier Gesittung zu erobern nach Niederwerfung aller inneren und äußeren Unkultur. In der Hohenzollernschen Weltmonarchie liegt der Schlüssel der Zukunft. Schneeweiß angethan in Majestät,[607] wacht zu Häupten ihres Herrscherstuhls der Väter alter Ruhm, das wohlerworbene Herrscherrecht der Besten. Herrschen, ja was heißt Herrschen? Es ist ein weiter Weg von dem geflochtenen Bart eines chaldäischen Priesterkönigs bis zur Allongeperücke des Roi-Soleil und von da zum Krückstock Friedrichs des Großen.
Stets wiederholen sich dieselben Arten.
Die Tugendtyrannen (Brutus mit dem Dolch, Lykurg, und die schwarzen Suppen) tyrannisiren sich selbst ins Grab und kein Mensch dankt es ihnen. Die »liebenswürdigen« Landesväter bewirthen ihre Unterthanen großartig mit deren eignem Ruin, pumpen den Staat ohne Schuldschein an, nehmen den Zehnten, aber küssen dafür leutselig die Töchter des Landes. Wenn ein paar naseweise Harmodiusse ihnen das Handwerk legen, so setzt man diesen Ideologen zwar Bildsäulen, aber erst schlägt man sie sorgfältig todt. Der Perserkönig vollends, der jährlich ein paar Tausend Menschen »verbraucht« und dem Weltmeer hundert Hiebe auf die Sohlen geben läßt, wenn er Bauchgrimmen hat, ist ein Vater des Vaterlands – und zwar in mehr als einer Beziehung.
Bis an die Grenzscheide der großen Revolution kannte man nur diese Gattungsarten des Herrschermetiers. Aber auch der »aufgeklärte Despotismus« hat seine Stunde gehabt und der demokratische Cäsarismus als Säbelregiment wird aussterben mit den Napoleoniden.
Aufleben aber soll und wird jenes altgermanische Prinzip des »Herzogs«, erbaut auf gegenseitiger Mannentreue des Herrschers und seiner Mannen, wo jede Individualität[608] frei bewahrt bleibt und nur freiwillige loyale Unterordnung unter den Vertreter der Staatsgewalt regiert. Dies germanische Prinzip vererbte Karl der Große, dieser »erste Diener seines Staates«, den sächsischen Kaisern, und weil die Salier und Hohenstaufen unter wälschem Einfluß, sich demselben entfremdeten, mußte das Kaiserthum zu Grunde gehn. Aber in den Hohenzollern lebte es um so herrlicher wieder auf.
Diese Mon-archie wird sich stabiliren auf einem rocher de bronce. Nicht auf dem »constitutionellen« Unfug der Plappermente, wo Geldsäcke und rabulistische Advokaten (ja sogar eine besonders auf den Parlamentssport trainirte Sorte von bezahlten oratorischen Blasebälgen, die über jeden beliebigen Gegenstand den Wind einer spitzfindigen Debatte auspusten) die Nation vertreten Sondern auf der Aristo-kratia der Weisesten und Besten der Begabtesten und der Charakterstärksten, wird dereinst diese Weltmonarchie sich gründen, wie die Kirche auf dem Felsen Petri – dereinst, wenn das geschichtliche Naturgesetz eine umwälzende Drehung vollführt, überraschend den Myriaden Blinden, vorherberechnet und prophezeit von wenigen Sehern.
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