I.

[386] Das »Deutsche Theater« war buchstäblich ausverkauft. Nicht nur das gesammte litterarische und das übliche Premièrenpublikum Neu-Jerusalems, sondern auch die Crême der »guten Gesellschaft« schien vollzählig erschienen. – – Rechts neben der Direktorloge, wo L'Arronge's freundlicher Vollmond erglänzte, operirte Frau Doktor Bergmann, Chefredaktrice der »Berliner Tagesstimme«, in Mitten ihres Großen Generalstabs, an der Seite ihres Leibadjutanten, des lockigen Apolloschwengels Emil Buttermann. Ah, die Thür der vollgepfropften Loge öffnete sich und unter den Salutirungen des Großen Generalstabs erschien Doktor Bergmann in eigener Person. Er hatte also einmal Europa sich selbst überlassen, um leutselig, wie große Männer pflegen, den leichten Spielen der Musen eine Stunde seiner unschätzbaren Zeit zu opfern. Hält doch Bergmann bekanntlich mit Bismarck das Europäische Gleichgewicht aufrecht. Der Reichskanzler zieht rechts, Er links. Bei dieser Atlasbürde[386] scheint es denn kein Wunder, daß er seinen gewichtigen Corpus, den schweren homerischen Rindern gleich, wankend einherwälzt, so daß man immer fürchtet, er werde einem mit seinen Plattfüßen moralisch oder physisch auf den Fuß treten.

Auch heute suchte er wieder Raum, dieser schnaubende Elephant. Wie dem seligen Napoleon schien Ihm Europa zu enge. Er mauschelte nach allen Himmelsgegenden mit Armen und Beinen, um der Freiheit eine Gasse zu brechen. Sein aufgedunsenes Antlitz, einem plattgetretenen Kuhfladen nicht unähnlich, strahlte vom Bewußtsein seiner Allmacht. O er ist ein graußer, ein sehr graußer Mann!

Sein besonderes Steckenpferd, die Antisemiten-Suche, ritt er wieder mal chevaleresk wie Don Quixote seine Rozinante. Daher der forschende Blick, mit dem er seinen Generalstab musterte. Wie der Riese Polyphem in seiner Höhle tastete er überall an den Wänden seiner Redaktion herum, um den berühmten »Niemand«, einen Antisemiten, unter seiner eignen Hammelherde zu entdecken. Und wehe, wenn ihm solch ein räudiges Schaf zwischen die Finger kam! Dann verspeiste er es mit Haut und Haaren.

Doch getrost, in König Arthus' Tafelrunde schien diesmal alles koscher. Lauter wulstige Lippen und Jatagan-Nasen. Da war Nathan der Weise mit den geschlitzten Augen, der den Kanzlerstab des mosaischen Zukunftsreichs im Tornister trägt. Da war Oskar der Gerechte, der flotte Schächter aller Dichterbabies. Und[387] da war vor allem Er selbst, Israels Gründer, der Zertrümmerer des goldenen Kalbs, der neue Moses, der zum Gelobten Lande leitet, wo da Milch und Honig fleußt. Er schäkerte eben huldvoll mit Frau Doktor Bergmann, welche Lieder ohne Worte mit den Augen flötete, ebenso virtuos wie sie Lieder mit Worten am Klavier brüllt.

Auch im Parkett versammelten sich die Zierden unsrer Kritik, von allen vier Winden hergeweht, wo nur deutsche Zunge klingt, selbst aus dem Lande der Mausefallenhändler. Die leichte Scheerenschleifer-Kavallerie der Preßpanduren formirte sich. Wieviel giftige Früchtchen, neidgrün angelaufen! Da gabs die rührigsten redactionellen Schaukelpferdchen, die mit schnalzendem Hopphopphopplala zwischen Autoren und Verlegern herumtraben. Manch vielgewandter Odysseus, der mit alten Hosen beide Hemisphären durchwandert, schwang kräftig das kritische Richtbeil. In einer Ecke des Saales bemerkte man die wundersamste Pflanze internationaler Bodenkultur: Theodosius Drollinger. Dieser bedeutende Mann war mal in Paris und begann daher seine Orakel unwandelbar mit dem ehrfurchterweckenden Ausspruch: »Als ich in Paris lebte.« Da Papa Augier ihn mal die Treppe 'runter geworfen hat, so ernannte er die Trias der französischen Bühnengötter zu seinen intimsten Duzfreunden in seinen Feuilletons. Er, den ein Augier auf die große Zehe getreten, fühlte sich natürlich, er wußte selbst nicht wie, durchzuckt von gallischem Esprit. Auch hatte er plötzlich den Modedichter Kleist, 70 Jahre zu spät, entdeckt. Die Lebenden schwieg er todt, eben[388] um einen neuen Kleist durch solch uneigennützige Unterstützung heranzuzüchten. Wenn der neue Kleist sich erst eine Kugel vor den Kopf schoß, dann wollte er ihn sofort als Klassiker »entdecken« und von den Todten auferwecken.

Da saß nun Theodosius, diese Carrikatur eines Boulevardiers, die spärlichen Haare in die Stirn geklebt, um doch ja die neueste Mode der jeunesse d'horreur mitzumachen. Doch herrschte unter Kosmetikern über die bahnbrechende Technik seiner Frisur der gelinde Zweifel, ob er Pomade oder Zuckerwasser hierzu benutze.

Sein maskenhaft-todter Ausdruck, sein stier gleichgültiger Blick, sollten ihn als vornehm zurückhaltenden Gentleman aufspielen. Allein, lächerlich reservirt und zugeknöpft, wenn er mit einem anständigen Menschen zu thun hatte, wurde er äußerst munter und zuvorkommend gegen lustige Dämchen, Spitzbuben und Streber. Sein Vorgänger in der Redaction hielt es aus Gewissenhaftigkeit für seine Redactionspflicht, auch die Gattin des Verlegers unter redactionelle Verantwortlichkeit zu nehmen. Theodosius ehrte pietätsvoll diesen fruchtbaren Redactionsusus, auf diese Weise die Vergangenheit angenehm mit der Gegenwart verknüpfend.

Auch er war da, er mit der hackenden Habichtsnase und dem mangelnden Kinn, der große litterarische Todte, der einst die Irrlichter seines schnoddrigen Witzes über die öden Sumpfhaiden seiner heut schon antiquarisch verstaubten Salonstücke verschwenderisch ausstreute. Neben ihm saß ein geistreicher Pavian in großkarrirten[389] Beinkleidern und weißer Weste, und rieb ihm zahllose Paradoxen unter die Nase, und zwar wörtlich, indem er ihm beinahe ins Gesicht sprang. Hinter diesem saß sein Schatten, natürlich ein Baron (denn wo ein Jude, ist auch immer ein Baron nahe). Sein Kater-Näschen und sein ganzes dummdreistes Kneifer-Gesichtchen näselte gleichsam lautlos. Einer jener Litteraturbarone (natürlich stand »Freiherr« groß und breit in Goldschrift auf der Thür seiner Wohnung), welche den ehrenfesten Aristokraten mimen, während der Kenner in ihnen sofort ein neidzerfressenes größenwahnsinniges Streberlein erkennt.

Er erzählte grade in näselndem Ton, wie »Serenissimus sein gnädigster Herr« (einer jener kleinen Köter, kennt ihr meine Farben) ihm eine echte Havanna verehrt habe. »›Mein lieber Baron,‹ meinte der Gnädigste –« Er unterbrach sich, um mit Innigkeit die Gattin eines jüdischen Mache-Meisters zu begrüßen, wie er denn inbrünstig zu Unsrer Lieben Frau vom Jordan betete und mit Gottes Hülfe in den Salons »der geistigen Aristokratie des deutschen (jüdischen) Volkes« zu einer Berühmtheit emporgeschwindelt wurde. Was kann da sein! Man braucht einen Baron als Zimmer-Staffage. Das paßt dem auserwählten Volke in seinen Kram.

Der Adel ist heut immer noch ein gutes Geschäft. Dies wußte ja Frau Hermine Schmidt, geborene v. Preuschen, zu würdigen, indem sie sich schlankweg »Baronin Preuschen« weiter fort titulirte. Und siehe da, es war sehr gut. Mit Enthusiasmus stürzten die jüdischen Federpiraten für sie ins Turnei, sintemal es denselben[390] immer zur besonderen Ehre gereicht, einem Adelstitel unter die Arme zu greifen. Mit Entrüstung muß man jedoch die schnöde Verleumdung zurückweisen, daß all diese adligen Herrn und Damen eines enragirten Philosemitismus verdächtig seien. Sie benutzen eben nur die jüdische Presse ebenso schlau wie die conservative zu ihren durchsichtigen Reklamezwecken. Nein nein, man sitzt nicht immer mit einem Baron an einem Tisch; dies beglückt ja einen armen deutschen Schriftsteller. »College Baron X.« wird daher überall zum Vorsitzenden gewählt. Adel verbürgt Seelenadel, ein sehr gutes Geschäft.

Beide spielten hier die Rolle des »Großen Galeotto«, indem sie über Krastinik eine Verleumdung, »einem on dit zu Folge« aussprengten.

»Haben Sie dafür irgend einen Beweis?« fragte der Mann mit der Habichtsnase.

»Nein, das grade nicht. Aber Beweise beweisen nichts!« grinste Doktor Emil Bengelheim mit seinem grotesken schadenfrohen Kichern. »Es liegt in der Luft. Man sagt.. ›Relata refero, ich bin selbst dabei gewesen‹ wie Commerzienrath Landau zu sagen pflegt. Hihi!«

»El gran Galeotto!« – –

In einer Mittelloge thronte die holde Modelöwin Hagar Satzler in weißem Unschuldgewande, ihren Fächer aus Straußenfedern lieblich hin- und herschwenkend, während ihr andres Katzenpfötchen einen Veilchenstrauß umkrallt hielt. So zart, so weiß, so unschuldsrein wie ein klein Miesekätzchen – sie, die ungenannte Freundin so[391] mancher umwandelbaren Mannesverehrung. Einen hatte sie nach der Riviera versetzt, einen Andern an die Nordmarken – da begriff man denn wohl die heitre Zufriedenheit, die auf diesen edelgeschnittenen Zügen ruhte, das stillbeglückende Bewußtsein eines herzlich guten Gewissens. »Ach,« flötete sie einem neben ihr stehenden kleinen Herrn zu, »ich liebe nur große schlankgewachsene Männer. Sagen Sie doch Ihrem Freund Kabel, er habe so schöne Hände!«

Im Parkett unterhielten sich eifrig Schmoller und Holbach. Letzterer jammerte wieder, daß sein Verleger für ihn so unfläthige Reklame mache, obschon natürlich er selbst hinter den Coulissen das Alles einfädelte. Ueber Schmoller's langgedehnte schnüffelnde Spürnase zuckte und wetterleuchtete es nervös, und seinen bärtigen Mund umspielte ein gradezu wollüstiges Lächeln überlegenen Hohns. »Ihnen schadet das nur, lieber Herr College? fürchten Sie nichts! Hören Sie die Stimme des Pessimisten: Wenn der Tamtam Ihnen schadet, warum ärgern wir uns denn alle so darüber? Das ist doch ein überzeugender Gegenbeweis für die Nützlichkeit Ihres Vorgehens!«

»Haha, Sie alter Schäker!« Holbach lachte heiser auf. »Was Wahres ist ja dran. Worüber sich unsre wahren Freunde freuen, das schadet uns gewiß. Sich zu, ob Deine Freunde sich über etwas ärgern – dann triffst Du sicher das Nützliche!«

»Ach Sie!« Schmoller wurde schon ausfallend. »Sie heulen doch immer mit den Wölfen!«[392]

»Nun, warum nicht?« meinte Holbach begütigend. »Mit dem Hut in der Hand kommt man durchs ganze Land. Folgen Sie meinem Rath: Jedem Kritiker, schreibe er nun bös oder gut über mich, versetze ich auf frischer That einen Dankbrief. Glauben Sie mir, wir sind ja alle Menschen! Alles verstehen heißt alles verzeihen.«

O Du Spitzbube! dachte Schmoller der Fürchterliche. Die Notiz wandert sofort in mein Tagebuch. O schlechte Welt! Nur ich Biedermann verschmähe – –

»Wo steckt denn Federigo?« rief Holbach plötzlich. »Der müßte doch eigentlich die Claque leiten für seinen Freund Krastinik. Ich denke noch an sein Bravo-Gebrüll bei der Première seines Freundes Adler. Er riß sämmtliche Bänke mit sich fort.«

»Ach, bei dem Stubendramatiker! Na, heut hockt er wohl hinter den Coulissen beim Autor in der Stunde der Prüfung. – Uebrigens verkehre ich nicht mehr mit diesem Schurken.« Schurke war bei Schmoller ein Kosename. Bei ihm theilte sich ja doch die Menschheit in zwei Klassen: Die ihm nützten, – anständige Menschen, und die ihm nicht nützten, – Schurken. »Federigo – ja wohl! Ich bemerke übrigens, daß diese Verwälschung des Vornamens von mir stammt. Sie haben sie nur in Commission genommen, Herr Holbach.« Er litt nämlich an der Plagiatbeschuldigungs-Manie.

Auch die konservative Presse war vertreten. Herr Peter von Schnapphahnitzkoy (der polakische Adel darf sich schon 'was darauf einbilden, daß seine Vorfahren noch ärger, als die deutschen Raubritter und Strauchdiebe,[393] das Stehlen und Plündern verstanden) putzte seinen Kneifer zurecht. Seine wasserblauen vorquellenden Froschaugen, sein pomadisirter fuchsblonder Wirbelscheitel, seine aufgestülpte Nase und sein breites bleichlippiges Maul bildeten ein Ensemble, welchem ein lauernder Jesuitenausdruck noch eine besondere Weihe verlieh. Mit spinnefeinem Lächeln tastete er gleichsam mit Spinnwebennetzen vor sich her und umgarnte seine Beute. Wegen allerlei Schuldengeschichten, kaum Lieutnant, aus dem Dienst entlassen, besaß er den hohen Muth, sich als Cirkusreiter das Leben zu fristen. Endlich, um sich zur tiefsten Stufe von der Höhe seines Adels-Tic's herabzulassen, wurde er Litterat. Nicht ohne ein gewisses Talent, besonders zu malitiöser Satire, focht er sich schneidig als litterarischer Freibeuter durchs Leben und endlich zum Redakteur der »Töchterzeitung« empor, wozu außer dem Wörtchen »von« sein formvoller Redeschliff und seine gewinnenden Manieren nicht wenig beitrugen. Gegen einen Schmoller nährte er Geringschätzung, weil sein beschränkter Verstand nur den Plebejer in dem Heros sah, gegen Leonhart hingegen tödlichen Haß, da seine giftige Neidwuth sich innerlich zerknirpst fühlte, trotzdem er sich mäkelnde Glossen erlaubte.

Die lächerliche Anrempelei eines parfümirten jüdischen Apolloschwengels (der eine beiläufige Aeußerung Leonharts über eine, diesem nur per Renommee bekannte, Modelöwin absichtlich mißdeutete, damit er sich als Ritter derselben das Air eines bevorzugten Liebhabers geben könne), hatte der Antisemit Schnapphahnitzkoy dazu benutzt, um Leonhart[394] in eine Duell-Lage zu verstricken. Zwar lag der Thatbestand nicht entfernt so, daß Leonhart den Judenjüngling hätte fordern müssen, umsomehr derselbe nach Duellbegriffen eine unsatisfaktionsfähige Persönlichkeit vorstellte, da er auf öffentliche Ohrfeigung nur durch denunciatorische Ruinirung des Beleidigers geantwortet hatte. Allein, Schnapphahnitzkoy ergriff mit tückischer Freude die schöne Gelegenheit, um zu insinuiren, Leonhart sei beschimpft, falls er nicht Jemanden fordere, und daher wolle er für jenen ihm ganz Fremden eintreten!!! Er konnte dies schon wagen, zumal noch ein andrer sogenannter Freund Leonharts sich würdelos, trotz der überwiegend gegentheiligen Stimmung der Anwesenden, für die sogenannte »Ehre« jener Dame einsetzte, weil derselbe ebenfalls die geheime Gunst derselben zu erringen hoffte. Und Schnapphahnitzkoy spekulirte wieder auf die Gunst dieses Herrn aus Geschäftsgründen. Ergo! Leonhart, immer geneigt von seinen Nebenmenschen besser zu denken, als seine pessimistische Menschen- und Physiognomieenkenntniß ihn sonst lehrte, hielt die Sache jedoch für einen bloßen Spaß und suchte daher den p.p. Schnapphahnitzkoy in dessen Redaktion persönlich auf, um diese wesenlose Angelegenheit durch gemüthliche Aussprache aus dem Wege zu räumen. Allein bald mußte er erkennen, daß er einen schweren Fauxpas gemacht. Denn mit kaltblütiger Tücke bestand dieser ritterliche Shylok auf seinen Schein, sein Pfund Fleisch, sein liebes kleines Duell. Er gab zu, daß ihn die Sache nichts angehe, daß sie überhaupt unbedeutend sei, auch daß er selbst noch nie[395] ein Duell gehabt habe. Trotzalledem aber müsse er darauf bestehn, sich mit Leonhart zu schießen, damit sein empfindliches Ex-Lieutnantsgefühl beruhigt werde. Leonhart stellte ihm die volle Unmöglichkeit der Motivirung vor, falls das Duell ernst sein solle – sei es aber als bloße gemeint, so danke er für solche Zeitvergeudung. Das Duell könne seinen guten Sinn haben (Schnapphahnitzkoy verschanzte sich dahinter, daß Leonhart ja das Duell an sich noch nicht verwerfe), falls es sich um ernsthafte Ehrverletzung drehe, aber nur so. Obschon nun Schnapphahnitzkoy recht wohl wußte, daß jedes Ehrengericht ihn als Rowdie-Raufbold verurtheilen und jeder Gerichtshof ihm das höchste Strafmaß des neu verschärften Duellgesetzes aufbrummen würde, – obschon ferner klar auf der Hand lag, daß er als guter Bekannter Leonhart's, wenn in seinem militairischen Ehrbegriff gekränkt, umgekehrt grade für denselben den Anrempler desselben fordern mußte, um seinem Anstandsgefühl genüge zu thun, – so ergötzte es doch das verkrüppelte Seelchen des Kleinen, den beneideten Großen in dieser Mausefalle zappeln zu sehn. Uebrigens fürchtete er auch ein ernstes Duell nicht. Erstens schoß und focht er meisterlich, wußte sich also von vornherein Sieger. Zweitens lag ihm wenig an seiner traurigen Existenz. Denn, eigentlich kerngesund, dichtete er sich ein aristokratisches Asthma an und sicherte sich nur noch kurze Lebensdauer zu. Es harmonirte damit, daß auch jener unglückliche Liebhaber der hinter den Coulissen spielenden Donna, welcher ebenfalls an Leonhart[396] seine Rittersporen wenigstens schimpfend verdienen wollte, eingestandenermaßen an einem gewissen unheilbaren Leiden kränkelte. Daher der Todesmuth dieser Todeskandidaten.

Nun erfuhr zwar Leonhart bald darauf von verschiedenen Seiten überraschende Dinge über seinen edeln Feind, welche er jedoch schweigend ad acta legte. Auch das sonstige einstimmige Urtheil über den Trefflichen lautete gleich ungünstig. Nicht mal mit der Duell-Bravour hatte es seine Richtigkeit, da er kurz vorher erbleichend »kniff«, als einige gefährliche Studenten ihn wegen einer cynischen Bemerkung über das gesammte weibliche Geschlecht (daher Chef der »Töchterzeitung«) zur Rechenschaft forderten. Aber der Dichter, dessen Mensuren und Schlachten auf ganz anderem Gebiete lagen als auf dem der pöbelhaften Klopffechterei, schien ihm ein bequem wehrloser Prügeljunge, während er selbst vor seinem Todfeind Schmoller zitterte wie Espenlaub, wenn er diesem zufällig auf dem Pferdebahn-Perron begegnete, »zerschmettert von meinem Blicke,« wie der große Sittenschilderer ausschmückend hinzufügte.

Kurz, von welcher Seite man den ritterlichen ironischen Kneiferhelden auch betrachten mochte, – überall blieb er die gleiche einnehmende Überflüssigkeit, die ihre ganze Existenzberechtigung aus dem Wörtchen »von« herleitete.

Einen Augenblick empfand Leonhart, als die fischblütige Ruhe dieses Wouldbe-Gentleman an ihm die hartnäckige Betonung der Duell-Nothwendigkeit »aus[397] unsern gesellschaftlichen Verhältnissen heraus« wie eine Schraubentortur weiterquetschte, das Gelüst aufzuspringen: »Sie sind ja ein Bube, Sie!« Sein Stock zitterte in seiner Hand, es schwamm ihm roth vor den Augen und er sah gleichsam das Blut langsam die wachsbleiche abgelebte Todtenmaske heruntertropfen, wenn er quer durch die hohngrinsende Fratze hieb.

Denn dieser gutmüthig weiche Charakter durfte leider mit Hamlet gestehen: »Wenn ich auch mild bin von Natur, so ist doch was Gefährliches in mir, das ich zu scheuen bitte.« Es war nur ein Augenblick, es ging vorüber. Er überlegte blitzschnell, was denn eigentlich daraus werden solle. Von höchstem moralischen Muthe, fühlte sich der Dichter, zwischen Jähzorn und Niedergeschlagenheit schwankend, so nervös herabgestimmt, daß eine allgemeine Schwäche der persönlichen Initiative (neben höchster Anspannung des Willencentrums in rein geistigen Dingen) ihn vor rohen Aeußerlichkeiten zurückbeben ließ. Sollte er sich hier persönlich mit dem gefährlichen Lauerer herumwürgen? Derselbe war allem Anschein nach wohl stärker, wie denn rauflustige Memmen immer nur dem physisch Schwächeren gegenüber Muth schöpfen, da ihnen ja nichts imponirt als körperliche Züchtigung. Von physischem Muth kann ja überhaupt nur dem Stärkeren oder gleich Starken gegenüber die Rede sein.

Die Renommisten der Fechtböden, prahlend mit ihrem muskulösen Arm, die minder Gewandten abfertigend, laufen oft in der Schlacht davon.[398]

Duell! Sollte er sein kostbares Loben, von welchem die Zukunft der Poesie abhing, aufs Spiel setzen, um einem werthlosen Junkerlein als Zielscheibe seiner Schießkunst zu dienen?! Nein, diese Farce der Selbstentehrung, zu Ehren eines formvollendeten Rowdie für das Gerippe einer moderzerfressenen After-Ehre, sollte nicht den Mephisto des Zufalls ergötzen.

Leonhart erhob und empfahl sich kurz, mit lebhaftem Bedauern, daß ihre Auffassungen so weit auseinander gingen. Schnapphahnitzkoy geleitete ihn mit stummer Verbeugung bis zur Thür. Von beiden Seiten war kein zuchtloses Wort gefallen. In dieser Hinsicht wenigstens verleugnete jener merkwürdige Mensch nicht die Erziehung eines früheren Offiziers.

Beide ignorirten sich natürlich seitdem, wobei Schnapphahnitzkoy selbstverständlich von dem stolzen Bewußtsein strahlte, einen großartigen moralischen Triumph über diesen eingebildeten Dichterheros erzielt zu haben. Es giebt eine Heuchelei der Ehre, wie eine Heuchelei der Moral, und man möchte mit Falstaff fragen: Was ist Ehre! Jedenfalls hatte der Größenwahn der falschen Kavalier-Ehre wieder mal sein Opfer verlangt und zog sich mürrisch zurück, da sein planmäßiger Mordversuch an der gesunden Vernunft und Vorurtheil-Verachtung des Umgarnten machtlos abprallte.

Uebrigens rächte sich der Ritter von Schnapphahnitzkoy später auf eine höchst gentlemanlike Weise für den abgeblitzten Einschüchterungsversuch (eigentlich »Nöthigung« zum Zweck der Körperverletzung), indem er seine[399] Feinde Schmoller und Leonhart nach deren Verfeindung wegen einer Injurien-Klatscherei öffentlich durch eine gänzlich erlogene Thatbestand-Entstellung gegeneinander hetzte, welche Leonhart jeder Zeit durch compromittirenden Abdruck der eigenen Briefe Schnapphahnitzkoy's an ihn hätte aufdecken können. Freilich entsprach es auch der Verlogenheit Schmoller's, daß er, obschon Leonhart gegenüber schriftlich wiederholt das Gegentheil bekundend, seinerseits nun die Darstellung Schnapphahnitzkoy's mit Bezug auf Leonhart's angeblichen »Verrath« an seinem früheren Freunde als richtig auffaßte, während lediglich er selbst seine Ansicht über Schnapphahnitzkoy aller Welt förmlich aufgedrungen hatte. Verlogenheit hier, Verlogenheit dort – in der Mitte die Unvorsichtigkeit einer schwachen Stunde vertrauensseliger Dupirung durch Schnapphahnitzkoy's falsche Freundlichkeit und Wehklage über Leonhart's kühle Ablehnung, welche offenbar durch Schmoller's Verläumdungen inspirirt sei!

Wegen solcher elenden Skandalaffaire hatte Leonhart schlaflose Nächte gehabt, weil er jeden Zweifel an seiner Loyalität als schweren Schimpf empfand, indeß Schmoller wie ein Wahnsinniger umhertobte und der Adelszwerg sich schadenfroh ins Fäustchen lachte, zwei Riesen hinterrücks in die Ferse gestochen zu haben. Gegen solche Meister des äußeren Scheins nutzt nichts die grobe Keule der sittlichen Entrüstung, sondern nur das Stilet ironischen Hohnes ....

Schnapphahnitzkoy referirte hier für die hochvornehme »Kreuz- und Schwertzeitung« und beschloß ritterlich,[400] wie seine Auftraggeber, das Werk eines gräflichen Standesgenossen bis über den grünen Klee herauszustreichen. Lautet doch der allgemeine gang und gäbe Grundsatz der Berliner Kritik: So'n bischen Französisch und so'n bischen Adlig is doch gar zu schön!

Sein herumschlenkernder Kneifer küßte grade zärtlich den edeln Kneifer, welchen der große Heinrich Edelmann neben ihm schielend unter dem Parketsitz putzte. Haubitz hingegen kneiferte kühn die Logen an und strich sein schwarzes Knebelbärtchen, während er stockschnupfend einige weltbewegende Messiasaxiome umherstotterte. Sie referirten ja ebenfalls für ein christlich-teutonisches Blatt und hatten sich feierlich zugeschworen, ihren gräflichen Freund derartig zu preisen, daß er sich einer Anzapfung mindestens um 200 Mark nicht mehr entwinden könne. Das Loos sollte entscheiden, wer von Beiden diesmal »für einen darbenden Freund« die Kritik-Gebühren eintreiben solle.

Schnapphahnitzkoy gab sich mit so was nicht ab, sein Streben ging vielmehr nach einer guten Parthie, wie es bei diesen schlechten Zeiten nun mal nöthig scheint. Doch würdigte er vollkommen die Haltung der beiden verwandten Seelen, welche er sofort als »vornehme Naturen«, wie die technische Phrase lautet, erkannt hatte. Auch Wurmb schloß sich mehrmals begeistert an, wenn sie alle zusammen beim Schoppen die sittliche Größe des wahren charakterfesten Idealismus betonten, im Gegensatz zu der unwahren Weltschmerzfexerei und proteusartigen Unfestigkeit eines Leonhart, auf dessen[401] kindlichen Größenwahn doch nun mal all ihre litterarischen Biergespräche unfehlbar wie die Nadel zum Magnet hinzielten.

Schnapphahnitzkoy erwähnte mit tadelndem Bedauern, daß man doch einen Kavalier wie Krastinik von seiner schier unbegreiflichen Vorliebe für jenes bête noire loseisen müsse. Die Waffenbrüder lächelten verschmitzt. Sie kannten die oft erprobte menschliche Natur. Spielte man nur den Freund gegen den Freund aus, so würde die geschmeichelte Eitelkeit des Einen und die verletzte Eitelkeit des Andern den Bruch schon von selber herbeiführen. Haubitz empfand eine diabolische Wollust des Vorgefühls. Wie wollte er Krastinik anpreisen und ihn den Stümpereien eines Leonhart gegenüberstellen!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Klingel ertönte zum zweiten Mal. Das Bienenkorbgesummne eines Premierenpublikums vor Beginn der Vorstellung verstummte. Die wogenden Linien sanken in sich zusammen. Statt des Rauschens und Knisterns der Damentoiletten hörte man nur noch den üblichen Lärm der sich hebenden oder niederschlagenden Klappstühle, wenn die zu spät Kommenden sich in die Reihen durchdrängen. Der Vorhang ging auf.

Schon nach den ersten Worten verbreitete sich eine angenehme Verwunderung. Das war nicht die geschwollene blühende Jambensprache, an welche man bei historischen Dramen gewöhnt, das war nervige realistische Prosa. Das waren keine theatralischen Pappfiguren, das war[402] wirkliches angeschautes Leben. Der Dichter vermittelte den Geist des alten Venedig so unmittelbar, daß man sich wie zu Hause fühlte. Die Handlung drehte sich um die Vermählung Katharina Kornaro's mit dem Kronprätendenten von Cypern und die Erwerbung dieses Inselreichs durch die meisterliche Diplomatie Venedigs, welche schonungslos jedes Einzelglück ihren Zwecken opferte.

Hier sah man die Emsigkeit, mit welcher sich die Meereskönigin zum Trotz des umbrandenden Meeres auf ihren eingerammten Pfählen lagerte und unablässig mit der andrängenden Fluth um ihr glanzvolles Leben rang, indem sie staunenswürdige Ingenieur-und Baumeisterwerke entgegendämmte. Die unermüdliche Entwickelung der Seekunde, der kühne Erwerbs-und Forschertrieb, der diese Kaufleute in fernste Zonen führte, so daß selbst die verlorenen Söhne Venedigs den Orient überall als Minister, Admirale und Handelsherrn beherrschten – alles das trat hier in die Erscheinung. Vor allem aber entfaltete sich das politische System dieses Insel-Roms, dessen Staatsgebilde die Kraft des menschlichen Willens im geduldigen Verfolgen eines großen Ziels offenbarte. Der Dichter lehrte durch anschauliche Darlegung, warum Machiavell im »Buch vom Fürsten« die geheime Schreckensherrschaft Venedigs als Muster hinstellte – diesen »Schrecken«, der sich auch später im Wohlfahrtsausschuß des französischen Convents als förderliche Waffe erwies. Man begriff, warum Taine den Bonaparte als einen Enkel der italienischen Condottieri[403] gleichsam atavistisch erklären will, als eine posthume Neubelebung des Renaissance-Systems, wie dieses sich am klarsten in Venedig verkörperte.

In dem Admiral Moncenigo hatte der Dichter eine Gestalt geschaffen, aus einem Guße und doch von feinster Detaildurchführung.

Man sah gleichsam die geflügelten Marmorlöwen San Markos ihre Schwingen beutegierig über Land und Meer breiten und ihre Krallen einschlagen. Warum die vier Erzrosse aus Byzanz, welche an der Mittelfront des Doms so ernst herniederstarren auf die tändelnden Tauben der Piazza, an die Sonderstellung Venedigs als halborientalische Weltmacht erinnerten, begriff man an diesem umfassenden Gemälde verschollener Herrlichkeit.

Selbst der Dom San Marko (an dessen byzantinischem, mit romanischem und Ansätzen des gothischen vermähltem Stil alle Epochen der Venetianischen Größe mitgebaut – von der strengen Würde des Donatello-Stils bis zum üppig blendenden Schwung der Hochrenaissance, welche sogar ein Farbengemengsel von Blau, Braun, Gelb, Weiß und grellbunten Fresken zur Schmückung der äußeren Façade verwendete) redete hier in der Theaterdekoration seine wahre Sprache. Man gewann zwanglos tiefere Beziehung zu all diesen Zeugen der Weltgeschichtsentwickelung. In der spitzschnabeligen schwarzen Gondel – ein Sarg unter steinernen Leichen – glitt man gleichsam mit dem Dichter dahin und verstand die Schatten, die um die Kirchhofstille der Paläste[404] griesgrämig dahinschlichen. Unter der hellerleuchteten Rialtobrücke fort, tauchte man unter in dunkle Kanalgassen und trieb langsam hinaus durch Canale Grande zum blauen Lido, während auf abgelegenen Winkelplätzchen allenthalben Kirchen von überwältigendem Reiz reifer Formschönheit emporsteigen. Man athmete gleichsam den Salzgeruch, der die Mauern umwittert und sie mit einer köstlichen bräunlich-grünen Lasur bekrustet.

So verwuchs die Handlung des Dramas gleichsam mit den äußeren Ornamenten der Scenerie. Das ganze Patrizierleben dieser Märchenstadt des Herzens schüttete seine Fülle verschwenderisch aus – Marmor, Gold, Brokat und Atlas, Mosaik und sammetweiches Farbenglühen der Gemälde – und wurde zugleich in seinen innersten Saugfäden offenbar. Es war, als ob die Pfähle, auf denen die Inselstadt erbaut, bloßgelegt würden. Aus allen Thaten und Worten dieses Lebensbildes tönte aber die Mahnung des Dichters: So macht man Weltgeschichte! Das hat den deutschen Tröpfen stets gefehlt. Nur rücksichtslose weltkluge Niedertracht führt zum Ziele. So, durch tausend Verwickelungen unentwegt sein geheimes Ziel vor Augen, pflanzte Venedig auf der Leiche seines vorgeschobenen Schützlings, des Königs von Cypern, sein Banner auf und benutzte die Schönheit der Venetianerin Katharina Kornaro zu einem politischen Schachzug.

Ein seltsamer Epilog krönte das sonst so schonungslos realistische Stück, ein Epiolog, dessen innere Nothwendigkeit gleichwohl sofort ins Auge sprang. Nachdem[405] nämlich der 5. Akt an der Riva gegenüber der Seufzerbrücke im goldigsten Sonnenglanze farbigen Glückes geendet, zog sich plötzlich ein nebeliger Flor über die Scene. Man hörte eintönige Donner rollen und eintönig den Regen niederplätschern. Die meisterhafte Inscenirung gab genau jene Stimmung einer Regennacht in Venedig wieder, wo man gleichsam in purem Wasser zu schwimmen glaubt, von oben durchweicht und unten auf allen Seiten die grünlichen Lagunen. Da glitt eine schwarze Gondel heran, an deren Stern ein Man in schwarzem Pilgermantel stand, eine Lyra im linken Arme gebettet, während seine Rechte mit mondessilbernem Zauberstab die Wogen zu beschwören schien. Und die Wogen murmelten ein Lied von Ihm, dem Gast des zerfallenen See-Gomorrha, das ihn mit Gift berauschte aus venetianischen Kelchen.

Wohl ein Gedanke, würdig eines so großen Dichters wie dessen, der dies gewaltige Drama geschaffen: Dem Weltdichter des Weltwehs, dem Bräutigam der Schönheit, Lord Byron, das letzte Wort zu lassen, die Klage um aller Menschengröße Vergänglichkeit. Und die Gestalt, halb als Vision gedacht, nebelumflort, sprach also:


Noch klebt Schaum und Tang des Meeres,

Dem entstieg dies Wasserwunder,

An dem bröckelnden Gewande.

Marmorsäulen, Palastgiebel

Rings verächtlich niederschauen,

Wie herabgekommene Prinzen,

Vornehm ruhig auf das Lärmen

Dieser neuen Pöbelwelt.[406]

Ueber allem webt sich farbig

Ein geheimnißvoller Schleier.

Den Rialto neubeleben

Bunte Maskenkarnevale

Schauender Erinnerung.

Schnitzerei des Buccentoro –

Die gehörnte Dogenmütze

Auf dem weißen Martyrhaupte

Foscari's und Falieri's

Und des blinden Dandolo –

Scharlachseidene Talare

Der geheimen Tribunale –

Alle Perlen der Kornaro

In dem Goldhaar schöner Damen,

Wie sie Tizian conterfeit –

Alles wirbelt hier zusammen

In ein Bachanal der Sinne,

Feiert eine Dogenhochzeit

Mit dem Meer der Phantasie.


O Venedig, stolze Greisin,

Greisin in zersetztem Purpur,

Steige her zu meiner Gondel

Nieder von den Marmostufen,

Die der Flügellen bewacht!

Wie die letzten Senatoren

Grollend einst hinabgeschritten

Aus dem Saal der letzten Sitzung

Bei dem Fall der Republik!

Also fahre mit mir, fahre

Weit hinweg mit Deinem Freunde,

Weit hinweg aus dieser neuen

Jämmerlichen Welt der Prosa!

Horch, die alten Glocken klagen

Droben von dem Kampanile:[407]

Für Venedig und die Dichter

Hat die Erde nicht mehr Raum!


Langanhaltender Beifall, wiederholtes donnerndes Bravo bestätigte, als der Vorhang fiel, den tiefen und nachhaltigen Eindruck der Dichtung. Das war einmal etwas ganz Neues, etwas, was noch nicht von den alten Tragikern vorweggenommen. Das war das politische Drama, die Historie großen Stils, das realistische Hohelied der Weltgeschichte.

»Krastinik! Graf Krastinik!« schrie es aus allen Logen, von allen Gallerieen. Der tobende Beifall nach den ersten Akten hatte das Erscheinen des vielbegehrten Dichters vor der Rampe nicht erzwingen können. Jetzt aber nach Ende der Vorstellung mußte er doch dem brausenden Hervorruf folgen. Der Director stürzte aus seiner Loge, um selbst hinter Coulissen den Beglückten herauszuholen. Allein nach längerer Pause meldete er persönlich mit verlegenem Gesicht dem ungeduldigen Publikum, daß der Dichter sich bereits entfernt habe. Er danke also im Namen des genialen Verfassers für die herzliche Aufnahme.

So war denn ein neuer großer Dichter aus der Taufe gehoben. Sämmtliche Theaterkritiker stürzten in wildem Pêle-Mêle zu ihren Droschken, um sofort auf der Nacht-Redaction die denkwürdige Thatsache für den Morgentisch Berlins zu serviren. Allen voran als der Findigste rasselte der Referent des »Börsencourier« in seiner vorher bestellten Droschke I. Güte, der einzige[408] Gutmüthige nebenbei, der mit wirklichem Wohlwollen auf etwas Gelungenes hinwies.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 386-409.
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