III.

[173] Die Skydsstation lag aus dem Kamm des Gebirges. Diese Lage hat ihre Reize, aber auch ihre Nachtheile. Das merkte man heute so recht, wo der Regen mit dem Föhn um die Wette über die Wipfel hinpeitschte. Die bläulichen Schieferdächer der Holzstabkirche drunten im Thal, die noch vor kurzem im Sonnenschein geschillert, deckte bleifarbiger Flor. Die höchsten Spitzen schienen ersäuft und selbst die Schneekette, deren eingesenkter Grat sich wie ein doppelreihiges Gebiß hohler Riesenzähne gen Himmel fletscht – auch sie war im Dunstmeer untergegangen. Luftgebilde jagten dahin wie adlerbeschwingte Walküren; wie Flamberge zuckte es droben hin und her.

Wie Trauerflöre hingen die düstern Tannenzweige nieder, gleich braunen Segeln in dieser brauenden Brandung. Selbst die breite Stelle, wo der Bergrutsch wie mit dem Rasirmesser mitten durch Kiefern und Gestrüpp den Abhang glatt geschürft, verdunkelte sich. Alle Conturen verwischt, verquollen, verschommen.

Wie ein sturmzerfetzter Regenmantel legte sich ein grauer Nebelschleier um die schwarzbraunen Felsrippen. Bläuliche Dunstwölkchen verfingen sich in den Kronen der Riesenfichten, die aus den Abgründen bis über den Chausseerand sich emporbäumten. Wolken barsten und entluden sich ruckweis mit heftigem Schwall und verschlossen ihre Brunnen ebenso plötzlich. Donner und Blitz kamen jetzt selten zum Durchbruch, nur schüchternes[174] Wetterleuchten zuckte auf. Aber jeder mäßige Elv (Thalfluß) stieg unaufhörlich und die langsamen Wasserfälle stoben jetzt jählings in die Tiefe, wie der Geier mit gesträubtem Gefieder senkrecht aus schwindelnder Höhe niederstößt. Selbst der niedliche Voß (Sturzfall) gegenüber der Skydsstation, der sonst wie ein dünnes Silberfädchen herunterpendelte, schien jetzt schon eine stattliche Quecksilbersäule. Dazu grollte es aus den Klüften, als wimmerten dort gefesselte Trolls; dem schrillen Tenor der Gießbäche mischte sich der dumpfe Baß des brandenden Fjords, und im Nadelholz pfiff und klagte es wie Aeolsharfen.

In dieser heillosen Sündfluth, wo jedes lebende Herz verdrossen und mürrisch dem Tod entgegenschlug; wo selbst die Natur das jüngste Gericht zu ahnen schien, wenn das All in dem großen gräulichen Urbrei versinken und nur der Leviathan aus der chaotischen Wasserwüste den Ararat bezeichnen wird; wo selbst der Berg sich in Rheumatismus zu schütteln schien, – da winkte die Skydsstation wahrhaftig als »Arche Noa« und der bleierne Gockelhahn über ihrer First als eine Oelzweigtaube.

Allmählich zerrieselten die Wasser des Himmels. Wo vordem breite Regensträhnen von den Bergen herniederhingen, als wären es die wirren Locken der Jötunriesen, aber deren niedergeschmetterte Häupter der Donnerwagen Tür's dahinrollt, dessen Speichen die Blitze entstieben; wo der Donnerer in sein Schlachthorn geschmettert und sein Nornenlied angestimmt hatte, daß ihm vom Flammenart die brennenden Funken fielen; wo er des Sturmes[175] knirschende Weichen gespornt und den Miölnir-Hammer durch den ächzenden Himmelsraum geschleudert, – da spannte er jetzt seinen Regenbogen und entsendete Farbenpfeile durch alle Lüfte. In Balsam sind die Pfeile getränkt – berauschender Duft stieg überall aus der köstlichen Frische der neuverjüngten Erde wie ein Dankgebet empor.

Scholl hallten die goldenen Hufen des Sleipnirrosses auf der Walhallbrücke Bifröst: Odin kehrte heim vom Sturmritt durch den Aether.

Die durchsichtige Luft zeigte das Phänomen der Mondspiegelung – jenen zweiten Mond, der sich in irisfarbigem Dunstkreis um das Gestirn bildet und es wie eine Kapsel umschließt. Allmählich veränderte sich der peinliche blaßgelbe Schimmer, ein unbestimmter rother Reflex flog darüber, und der braunrothe Ton der Ginsterhalde mit den carmoisinroth angestrichenen Holzhütten darin nahm eine tiefere Färbung an.

Aus den Schlüften qualmten und quirlten unheimliche Spukgestalten hervor. Droben jagte der Fenriswolf die zitternde Wolkenheerde vor sich her. Und jenseits der Bergmauer des Fjorde schmetterte die Midgardschlange ihren grünlichen Schweif mit zischendem Geiferschaum an die Schären.

Noch lagerten die Wolken breit und massig auf den wuchtig überhängenden Kuppen, noch lagerten sie mitten auf der Bergstraße. Dumpf und undeutlich wie die Töne des Nebelhorns drang das Hott! und Hü! von drunten herauf. Und erst als die Carriolen beinah in[176] den Hof der Station gelangt und der tüchtige Wolfshund mit knurrendem Spektakel ihre Ankunft verkündet hatte, traten die triefenden Köpft der dampfenden Pferde, die an nasse Nacken anklebenden Mähnen, die gequetschten Deichseln – oder an ihrer Stelle derbe Baumäste, mit Seilen an die Speichen und Achsen des gebrechlichen Gefährts befestigt – aus dem Dunstkreis hervor. Jetzt sprangen auch die allesammt sommersprossigen, rothwangigen, rothhaarigen, rothhändigen Skydsbuben vom Hinterbrette ab, schlenkerten die nasse Peitsche und hauchten in die klamm gewordenen Fäuste.

Endlich trat auch der Leiter der ersten Carriole, wie eine Dachrinne triefend, über die Schwelle des Wirthshauses, indem er einen Ballen Plaids hereinschleppte. Hinten sah man noch eine undeutliche Masse sich schwerfällig heranbewegen, wobei ein vom Sturm umgeklappter Schirm im Umriß erkennbar wurde.

Drinnen in der getäfelten Stube mit den ungekalkten Wänden, wo am groben eichenen Tisch mit Holzschnitzereien, wie das kunstfertige Tällekniv sie in Valders und Hallingdal liefert, und auf den ungeschlachten Querbänken ein Paar alte Bauern und Fuhrleute hockten, saß man freilich wohlgeborgen. Der eiserne Ofen pustete und glühte. Was aber noch an Wärme abging, das ersetzte der Aquavit aus Drammen und der Drontheimer Branntwein, sowie das starke Oel (Bier) aus der Carl-Johanns-Gade in Christiania, wie die Etikette besagte. Dazu gab's süßen rothen Käse und armseliges Flachbrot, auf das man[177] Fett herabträufeln ließ, indem man Speckscheiben am Spieß übers Herdfeuer drehte.

Ja, wenn der Engelske, der da wohl ankam, sich dachte, hier könne er sich behaglich on the fireside am Caminfeuer wärmen, indeß dort über den Gitterstäben ein Gericht Eggs- and -Bacon, Schinken mit Spiegeleier, und knusprige Toaste schmoren, – da hatte er die Rechnung ohne den Wirth gemacht, der breitbeinig und mit langherabwallendem Weißhaar rauchend am Thürpfosten lehnte.

Dieser hielt aus strenge Zucht den hergelaufenen Fremden gegenüber und verdammte ihre Ueppigkeit. Er gab ihnen daher karge und knappe Fütterung, auch Viehställe und Heuschober mit rührigen springenden Insassen als Obdach.

Zur Entschädigung nahm er aber auch dafür eine ungeheure Zeche und schmetterte jede Aufsätzigkeit mit der naturwüchsigen Logik nieder: »Ihr seid reich, wir sind arm. Wir haben Euch ja nicht gerufen. Wenn Ihr also kommt und uns nöthig habt, so gebt uns einen Theil Eures Reichthums mit.«

O, er war eilt freier, unabhängiger Mann, ein Verächter aller Standesunterschiede, – weswegen er auch den Verkehr mit andern Dorfmagnaten möglichst vermied. Denn sie waren ihm ja nicht ebenbürtig, der direkt von Harald Schönhaar abstammte, zu dessen Ehren er auch sein Haar nicht schor.

Wie viele Binder muß doch jener außerordentliche König gehabt haben, sintemal ganz Gudbrandsdalen von[178] beglaubigten Abkömmlingen desselben wimmelt! Aber Ole Erikson's Frau (die soeben beim Durchwaten der Entenpfütze ihre dicken Waden sehen ließ) bewahrte eine Silberschüssel, die der liebebedürftige Harald einer steingrauen Urmuhme höchstselbst zum Andenken verliehen hatte. Also! Mit tiefer Geringschätzung sah der würdige »Republikaner« auf die neugebackene schwedische Königsfamilie, herab.

So vermißte man denn auch das Portrait des Dichters Oskar in der Wirthsstube. Statt dessen gab's da zahlreiche Reclame-Annoncen pennsylvanischer Firmen, betreffs neuer Säe- oder Mähe-Maschinen. Auch ein Plakat mit einem einladenden Auswandererschiffe, Linie Stavanger-Boston, war draußen an die Mauer geklebt; es hatte durch die Feuchtigkeit ordentlich ein Leck bekommen.

Nichts rührte sich, als die Schiffbrüchigen da draußen landeten. Die Gäste drinnen stießen mit den Humpen an und brüllten »Skol!«, als wollten sie die Windsbraut übertönen.

Der Wirth jedoch schmauchte ruhig fort, ohne Wort und Gruß, indem er sich die triefenden Jammergestalten mit jener gemüthvollen Freude betrachtete, welche ein guter Mensch im Hafen beim Anblick der stürmischen See empfindet, wo vielleicht Viele stranden.

Auch als Eugen Wolffert ihm direkt mit einem »Good evening!« auf den Leib rückte, brummte er nur ein kühles »'Evening, sir!« zurück. Der Treffliche, ertheilte nämlich den Gästen häufig zarte Winke, daß man in Norwegen seltsamerweise Norwegisch rede. Und[179] so standen sie beide in der engen Thür, dicht vor sich die Alpen, die das Thälchen zusammenklemmten und bis zum Rand der Chaussee fast senkrecht anstiegen, rings der strömende Regen. Standen und schwiegen sich an, zwei einsame Menschen verschiedener Zunge in der ernsten Felsöde. Der Wirth paffte in die Luft, kühl bis aus Herz hinan. Erst als die undeutliche Masse im Hintergrund sich von einem umwickelnden Plaid losgehülst hatte und zwischen die Beiden trat mit fröhlichem Lachen der blinkenden Zähne und kirschroth feingeschwungenen Lippen und mit schelmischem Leuchten der graugrünlichen Augen, – da klopfte der Bauer bedächtig die Pfeife aus. Das war doch ein gar zu schmuckes Weib!

Jetzt verstand er auch gebrochen Englisch und leuchtete den Herrschaften, die sehr müde waren und unterwegs von Conserven ihr Abendbrot verzehrt hatten, die altväterliche Fremdenstube hinauf. Sie seien doch – ja, hm – Mann und Frau? »Ja freilich!« versicherte Wolffert. Kathi, die den Sinn der Frage vom Gesicht ablas, wurde sehr roth und fragte Wolffert halbkichernd, was Jener denn gefragt habe. Als einzige Antwort gab ihr der Amoroso einen Kuß. – Wann die Herrschaften nach norwegischer Sitte warme Spritzkuchen und Kaffee aus Bett gebracht haben wollten? »O!« meinte Wolffert lachend, »er werde schon selbst rufen, sobald seine ... seine Frau aufgestanden sei.«

Der Wirth hustete schmunzelnd und verständnißvoll, und zog sich diskret zurück. Seinen Segen hatten die Beiden. Eugen schob den Riegel vor.[180]

»Es riecht hier schrecklich nach Farbe.« Kathi nestelte an ihrem Mieder.

»Ja, unerträglich. Da lassen wir einfach das Fenster auf.«

»Aber ich bitte Dich..« Kathi wandte sich halb schmollend ab, indem sie den klassisch modellirten rechten Arm in die Hüfte stemmte und mit der linken Hand am Munde herumknabberte.

»I was! Die Sterne freuen sich nur über uns. Sonst hört uns Keiner.«

»Horch!« Ein eigenthümlich angstvolles Lauschen spannte Kathis Züge, ihre Augen traten weit hervor.

»Was ist Dir, Liebchen? Der Fjord rauscht draußen. Der hört nicht auf. Der wiegt uns ein als unser Hochzeitlied.«

»Jaja,« wiederholte sie gedankenlos, indem sie wie abwesend in die Ferne starrte. »Mir war, als hört' ich eine Stimme ... von Jemand ... Ah!« Sie schrie leicht auf – Eugen hatte das Licht gelöscht.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der Norweger lacht ungern und nirgends schweigt man so unheimlich. Der Optimist mag hierin die tiefe Innerlichkeit des Nordländers erkennen. Allein die tiefsinnige Gedankenthätigkeit dreht sich hier doch meist darum, wie man aus einer Krone einen Speziesthaler macht – freilich, wo wäre es anders! Ihre Dichter und Künstler können es nie in ihrer Mitte aushalten, obschon kaum eine Nation der Welt so künstlerisch beanlagt und nur die Dänische reicher an ästhetischen Bildungsphilistern ist.[181] Die Respektabilität in weißer Halsbinde, die über jede wohlriechende Fäulniß den Mantel christlicher Liebe breitet, herrscht in den Städten; im Hochland Haugianische Mystik.

Die Schrecken der Natur und das Hineinragen ihrer Nachtseiten ins Menschenleben führen oft zu sittlicher Verwilderung. Laster und Leidenschaften treten dort mit verdoppelter Stärke auf, wenn auch die frühere Einfuhr von zahllosen Ankern Branntwein in diese Alpengaue statistisch sehr nachgelassen hat und jetzt manche Thäler als unfreiwillige Temperenzler von Kuhmilch und Milch der Menschenliebe leben. Im Bergensstift fand der norwegische Grimm, Asbjörnson, die Märchen zu schmutzig und grobsinnlich, um sie in seine Sammlung aufzunehmen. Dort war's, wo die Frauen zu jedem gemüthlichen Trinkgelage die »Leichenhemde« ihrer Männer mitnahmen, weil man nicht wissen konnte, was passiren würde. Auch jetzt spielt dort das Seitenmesser (Tällekniv), das auch die Gebildeten manchmal aus Affektation an der Hüfte tragen, eine bedeutende Rolle. Man sitzt stets auf einem Pulverfaß. Der Norweger scheint entweder ein verkniffener Choleriker oder ein sommersprossiger Sanguiniker, der jeden Augenblick in Feuer und Flamme geräth.

Dazu kommt der republikanische Grö ßenwahn, der, ähnlich wie die praktischen Schweizer auf die »Förschtenknechte Deutschlands«, auf die Händel Europas im Voll-Bewußtsein eines demokratischen Musterstaats herabsieht.

Dazu noch der Größenwahn der Halbbildung. So[182] sprach der Wirth Wolffert's vier Sprachen, und übte sein Englisch an Shakespeare und Dickens – urtheilte aber, der Letztere sei natürlich viel größer, weil er verständlicher schreibe!! Dieser schauderhafte demokratische Größenwahn des souveränen Pöbels treibt in sogenannten Bauern-Universitäten Nationalökonomie, kaum der A-B-C-Fibel entlaufen. Dieser waldursprüngliche Freiheitsdrang hätte gewiß den seligen Rousseau begeistert. Jeder Düngerhaufen ein ambrosisch duftendes Tropaion des republikanischen Naturstaates!

»Willkommen in Nordland's Thälern!« rief der biedre Wirth und Toddy nebst Pfeifen wurden aufgefahren. Beide politisirten nun radebrechend drauf los und begossen diese Kannegießerei mit manch tüchtigem Schluck, wobei der biedere Ole immer als Leitmotiv ihres Gesprächs gassenhauerte:


»Ja Deutschland ist groß

Und Bismarck famos.

Wir nehmen Alles, was wir können.«


Währenddessen zeigte die Wirthin der schönen deutschen Dame ihre Schmucksachen.

»Sind die Ladies alle so hübsch in Deutschland, wie Ihre Frau Gemahlin?« fragte Ole indem er sich räuspernd Eugen leicht in die Seite kniff.

»Hm – wenige,« erwiderte dieser, halb verlegen halb geschmeichelt.

»Sie haben einen Treffer gethan, Sie smart fellow!«[183]

Ole wurde ordentlich familiär in seiner Herablassung. »Eine solche Frau zu wählen!«

»So? Meinen Sie?« maulte Jener. Der Blick, mit dem er Kathi streifte, verrieth eine nachdenkliche Betroffenheit.

»Na! Die Brut, die da gezüchtet wird!« Der etwas angetrunkene Bauer schlug Eugen jovial auf die Schulter. »Alle Achtung! Ein Kernweib! Vollblut!«

»Wenn Du wüßtest, was für einen Bewunderer Du hier gewonnen hast!« wandte sich Eugen an Kathi. Diese lächelte vergnügt und nickte nur mit dem Kopf.

»Komm, Schatz! Laß uns mal spazieren gehn!« Da war Kathi gleich dabei. Sie schlugen sich seitwärts in die Gebüsche. Kathi war so zärtlich und Eugen so stolz auf ihre Schönheit.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Na, good-bye!« Die Wirthin reichte einen Abschiedstrunk hinauf. Das Pärchen wollte weiter, wieder rückwärts nach Südwesten. Kathi vorn auf der ersten Carriole, Eugen auf der zweiten.

Der Skydsbub wurde zurückgelassen, weil er sie störe und sie schon selbst bis zur nächsten Station fahren könnten.

»Also vorwärts!« Die Hengste lümmelten sich auf den Zügeln. »Glatt anreiten!« Wie auf einer Rennbahn starteten die leichten Gefährte los, während der Wirth hutschwenkend ein kräftiges Schnalzen seinen Pferden nachsandte.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 173-184.
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