|
[226] O du, dessen Weisheit diesen weiten
Weltenkreis aus Nichts hervorgebracht,
Dessen Stärke ihn für Ewigkeiten,
Dessen Liebe ihn so schön gemacht!
Du, den aller Erdenvölker Zungen
Tausendfach verschieden stets genannt,
Den jedoch bei seinen Huldigungen
Nie ein Volk auf Erden ganz verkannt!
Wesen, das nicht Zeit noch Raum umschränken,
Das nie enden wird, und nie begann,
Das ich nicht in seiner Grösse denken,
Nur in seiner Güte lieben kann!
Welchen Namen soll ein Mensch dir geben,
Der dich nicht begreifet – ahndet nur?
Urkraft, Schöpfer, oder Geist und Leben,
Oder Ein's und Alles der Natur?
Doch wie soll ein Wort dich fassen können,
Den kein menschlicher Gedanke mißt!
Kein Geschöpf auf Erden kann dich nennen,
Du nur weißt allein es – wer du bist.
[226]
Viele zwar der blöden Menschen dachten
Dich in deiner Herrlichkeit zu seh'n,
Wenn sie dich zu ihres Gleichen machten,
Oder sich durch dich vergötterten.
Angethan mit ihren eig'nen Schwächen,
Seh'n sie dich in ihrem stolzen Wahne
Bloß bereuen, zürnen, strafen, rächen,
Und seh'n nichts an dir, als den Tyrann;
Glauben, daß du all' die Millionen
Welten, nur sie zu zertrümmern, schufst,
Und noch täglich ganze Nationen
Bloß zur ew'gen Qual in's Daseyn rufst;
Setzen durch ein ewiges Erbittern
Dich mit der Natur in Widerspruch,
Hören deinen Zorn im Erderschüttern,
Und in Donnerwettern deinen Fluch.
Ja sie glauben, daß du nur zur Sünde
Deines Menschen Herz so weich gemacht,
Und, damit er nie die Wahrheit finde,
Den Verstand so hell ihm angefacht;
Wähnen, daß du bloß des Widerstrebens
Wegen zum Genuß den Menschen rufst,
Und die Rosen auf der Bahn des Lebens
Nur der spitzen Dornen wegen schufst.
Welch ein Bild! – verzeih, was ich empfinde;
(Denn kein Zug von diesem Bild ist dein)
So ein Gott, und wenn es bei mir stünde,
Möcht' ich selbst als dein Geschöpf nicht sein.
Doch noch and're, die sich nicht getrauen
Dich, wie die, zu sich herabzuzieh'n,
Glauben dann, dich durch und durch zu schauen,
Wenn sie sich zu dir hinauf bemüh'n;
[227]
Ringen ängstlich von der schweren Bürde
Dieser Menschlichkeit sich zu befrei'n,
Und vergessen, daß die höchste Würde
Eines Menschen sei – ein Mensch zu sein.
Blind für das, was ihnen in der Nähe
Die Natur in tausend Wundern zeigt,
Richten sie den Blick nach einer Höhe,
Welche nie ein Menschenaug' erreicht.
Gleich den Riesen, wähnen sie vermessen
Schon dir nah, mit dir vertraut zu sein,
Wollen sich mit deiner Grösse messen,
Ach! und sind – für diese Welt zu klein;
Nennen hier auf Erden leben – schlafen,
Und den Körper ihrer Seele Grab,
Und vergessen, daß, der sie geschaffen,
Ihnen auch zur Arbeit – Hände gab;
Streben deine Plane zu durchspähen,
Und zu seh'n dein göttlich Angesicht,
Ach, und kennen sich, und übersehen
Selbst die Spanne ihres Lebens nicht.
D'rum, o Gott, bewahre vor dem Wahne
Mich, der stolz sich bis zu dir erhebt,
Lehre mich, wie man nach deinem Plane
Hier in diesem Erdenthale lebt.
Nie, o Herr, wird sich mein Geist betrüben,
Wenn er dir auch nie in's Antlitz schaut;
Aber immer werd' ich jenen lieben,
Der mir diese schöne Welt gebaut.
Stolz, o Herr, hat manchen meiner Brüder
Hin nach höhern Gegenden gekörnt,
Und der schönsten Menschenkette Glieder
Von dem Pfade der Natur entfernt.
[228]
Viele wagten's, Wesen zu bezwingen,
Die ihr blödes Auge gar nicht kennt,
Und die weite Kluft zu überspringen,
Die den Menschen von den Geistern trennt.
O laß nie den Standort mich vergessen,
Wo du mich als Menschen stelltest hin,
Und laß nie mit einer Welt mich messen,
Deren Glied ich nicht geworden bin.
Denn wie kann ich glauben, Herr! mir wäre
Eine Welt von Geistern unterthan,
Da ich kaum den meinen in die Sphäre
Meiner Lebenspflichten bannen kann?
Laß auch nie als dein Geschöpf mich wähnen,
Als besäß' ich deine Schöpfungskraft,
Die aus Erde, Blei und Eisenspänen
Nach Belieben Klumpen Gold's sich schafft.
O es gäbe Gold genug hienieden,
Alle Menschen zu befriedigen,
Läge nicht, was Tausenden beschieden,
Oft im Kasten eines Einzigen.
Tausend Arme darben für den Reichen,
Tausend hungern, daß sich Einer nährt,
Und das all' durch Wohlthun auszugleichen,
Diese Kunst ist eines Maurers werth.
Aber, Herr, wenn unser Bund den Stempel
Allgemeinen Wohlthuns je verliert,
Wenn ein Vatikan aus unser'm Tempel,
Und aus unser'm Schmuck ein Mönchskleid wird;
Wenn wir jemals einen Stein behauen,
Den nur Eigennutz zusammenhält;
Wenn auf das Gebäude, das wir bauen,
Auch nur eine Menschenthräne fällt;
[229]
O so hemme unsern Bau, verbreite
Schnell Verwirrung über unsern Sinn,
Laß uns unbelohnt, beschämt noch heute
Weg vom Baue dieses Babels zieh'n!
Aber wenn wir nur auf deiner Güte
Weisen Plan bei uns'rer Arbeit schau'n,
Wenn wir jedem Müden eine Hütte –
Und der Tugend eine Freistatt bau'n;
Wenn wir uns bestreben hier auf Erden,
Daß der Weg durch's Leben ebener,
Minder mühsam seine Pfade werden,
Und der schroffen Steine weniger;
Wenn wir nur der Menschheit Wohl zu gründen
Uns bemüh'n nach deinem weisen Plan,
Und den Lohn nur darin finden,
Daß wir Gutes in der Welt gethan;
O, so gib, Allvater, unserm Bunde,
Gib ihm Wachsthum, Segen und Gedeih'n,
Laß uns hier auf diesem Erdenrunde
Stets die Engel deiner Menschheit sein!
Buchempfehlung
Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.
298 Seiten, 15.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro