Vorrede des Verfassers an

die deutsche Welt.

Ich habe an diesen Ort die Beantwortung eines seltsamen Einwurffes wider das erhabene Gedicht Miltons versparet, der von dem Urtheil des so genannten Publici hergeholet ist. Das ist eben die moralische Person, an welche die Scribenten insgemein ihre Vorreden richten, damit sie sich die Gunst und den Beyfall derselben, als ihres Richters, erwerben, und die ich ebenfals in dieser Hoffnung mit einigen Zeilen zu unterhalten gedencke. Man hat mir eingewendet, die deutsche Nation habe in Miltons Paradiese das hohe Ergetzen nicht gefunden, welches die gerühmte Kunst des Poeten mit einer so grossen Zuversicht verheißt; dieses gebe ein starckes Vorurtheil, daß diese Kunst entweder darinnen nicht vorhanden wäre, oder die Tugenden, die man ihr zueignete, nicht an sich hätte, allermassen die Empfindungen nicht zurükebleiben könnten, wo die Ursachen und Triebräder derselben recht angebracht wären; und weil diese Kunst des Poeten das Hertz angreiffen müßte, welches bey vornehmen und gemeinen, gelehrten und unwissenden Menschen ungefehr von einer Beschaffenheit wäre, so hätte sie, wofern sie nicht betrüglich wäre, auch auf den grossen Haufen der Nation würcken und eine allgemeine Rührung der empfindlichsten Lust verursachen sollen. Dieser Einwurf hat mir Anlaß zu unterschiedlichen Betrachtungen gegeben, welche nicht nur dienen können, denselben zu beantworten, sondern mir auch die Aufmerksamkeit des Lesers für meine Schutzschrift des englischen Poeten zu erwerben. Ich mercke vor allen Dingen an, daß die deutsche Nation ihr Empfindniß und Urtheil von dem verlohrnen Paradieß noch nicht von sich gegeben hat. Dieses Gedicht ist bißdahin allzu wenigen Personen bekannt worden, als daß man diese für die Statthalter und den Mund der Nation ansehen könnte. Das Mittel ein Werk durch den Druck bekannt zu machen, ist etwas langsam, insonderheit in Deutschland, wo wir keine Hauptstadt haben, in welcher der Ausbund der Nation bey einander versammelt wäre, und in ihren Gedancken die Gedancken der gantzen Nation ausdrükete. Bey den Alten geschah dieses ungemein leichter durch ein einziges Exemplar, als iezo durch die tausendfältige Vermehrung derselben, indem gantze Gemeinden sich an einem Orte versammelten, und in einem Haufen ein Gedichte zugleich vorlesen höreten, da die Eindrücke und Würckungen desselben sich in deutlichen Kennzeichen offenbareten; statt daß solche Werke iezo in der Einsamkeit des Cabinets ohne Zeugen gelesen werden, mit leiser Stimme, und ohne Bemühung, daß ihnen durch die Aussprache die gehörige Anmuth und der rechte Nachdruck mitgetheilet werde; wenn auch gleich eine besondere Person auf eine empfindliche Weise davon gerühret worden, so fehlet es ihr an Eifer, den Eindruck, den sie in der Brust fühlet, weiterhin andern Leuten beyzubringen. Daneben muß man sich erinnern, daß sich von dem Befindniß des grossen Haufens nur auf diejenigen Stücke eines Gedichtes mit Grunde schliessen läßt, welche auf den Willen würcken und die Gemüthes-Neigungen in Bewegung setzen sollen; und nicht auch von denen, da der Verstand frey und uneingenommen bleibet, wie alle die Sachen sind, die ihren Grund in der Aehnlichkeit und dem wohleingetheilten Ebenmasse haben, also daß zu ihrer richtigen Beurtheilung ein Erkenntniß ihres Ebenmasses, nicht bloß ein menschliches Hertz, das den Affecten unterworffen ist, erfodert wird. Wie wir denn insbesondere anmercken können, daß unser Poet in seinem Gedichte die Erhabenheit viele mahle in solchen Stücken zuwegengebracht hat, in welchen keine Affecte und Leidenschaften vorkommen. Was mithin die pathetischen Stücke anbelanget, die in dem Verl. Parad. in der That den meisten Platz einnehmen, so kan ich der Kaltsinnigkeit, so man bey der deutschen Nation gegen das hohe Ergetzen derselben zu finden meinet, die Empfindlichkeit der Engelländer gegen eben dasselbe entgegensetzen; auf welche es eine durchgehende und unleugbare Würckung thut. Das Hertz, auf welches diese Würckung geschicht, ist ohne Zweifel bey den Deutschen von einer Art, wie bey den Engelländern; weil es nichtsdestoweniger jene nicht vermag einzunehmen, wenn der Aussage der Mißgünstigen Miltons Glauben zugestellet wird, so muß dieses von einer Ursache herrühren, die nicht in des Poeten Arbeit, sondern dem Zustande der deutschen Leser zu suchen ist. In Absicht auf diese könnte man nun anmerken, daß die Deutschen, die mit so vortreflichen Poeten, wie Milton ist, wenig Bekanntschaft haben, sich in so kurtzer Zeit von dem ungereimten und wunderlichen jedoch ihnen geläuftigen Ergetzen, das sie von ihren gemeinen Poeten empfangen, nicht haben entwöhnen können; sie werden in Miltons Wercke von zu vielen Schönheiten einer hohen Art, die ihnen fremd und unbekannt ist, gleichsam überfallen, und verwirret; gleichwie ein Mensch, der viele Jahre in einer finstern Höle beschlossen gelegen, wenn er einesmahls an das anmuthige Licht des Tages hervorgezogen wird, von den Schönheiten, die ihm in das Gesicht fallen, mehr geblendet als erleuchtet wird, und Zeit und Weile vonnöthen hat, dieselben von Stücke zu Stücke zu erkennen. Sie sind noch in dem Zustand, in welchem die Engelländer viele Jahre gestanden, eh ihnen geschickte Kunstrichter die Schönheiten in Miltons Gedichte nach und nach wahrzunehmen gegeben, und sie damit bekannt gemacht hatten, ungeachtet diese Nation an ihrem Saspar und andern, den Geschmack zu diesem höhern und feinern Ergetzen zu schärffen, eine Gelegenheit gehabt hatte, der unsere Nation beynahe beraubet ist. Wem diese Anmerkung für seine Hochachtung gegen dieses Volck zu nachtheilig scheinet, dem wird verhoffentlich folgende anständiger seyn, welche von der Neigung der Deutschen zu philosophischen Wissenschaften und abgezogenen Wahrheiten hergenommen ist; diese macht unsere Deutschen seit einiger Zeit so vernünftig und so schliessend, daß sie zugleich matt und troken werden; die Lustbarkeiten des Verstandes haben ihr gantzes Gemüthe eingenommen, und diese unterdrucken die Lustbarkeiten der Einbildungskraft. Damit ich dennoch das Auge auf den niedrigern und zugleich grössern Haufen richte, so gebe man, über obiges, Achtung, wie sehr es unsern Landsleuten an einem freyen Geist mangelt, der eben so nothwendig ist, wenn man ein schönes Werck empfinden, als wenn man es schreiben soll. Es fehlt ihrer Einbildungskraft an der Ruh und Stille. Sie leben in einer beständigen Reihe von ungestümen Ergetzlichkeiten oder Bemühungen, die sie beunruhigen, und ihnen keine Zeit übrig lassen. Wem dieses alles nicht anständig ist, dem will ich es nicht verargen, wenn ihm anzumercken beliebet, daß das verlohrne Paradieß nach der deutschen Uebersetzung nicht Miltons Paradieß ist. Wie von allen Uebersetzungen poetischer Wercke auf gewisse Weise wahr ist, daß sie hinter dem Originale zurüke bleiben, so kan dieses vornehmlich von Miltons Gedichte gelten, umsovielmehr, wenn wir annehmen, daß die engelländische Sprache vor den Ausdruck geschickter und geschmeidiger ist, als unsere, und daß ein grosser Theil der Schönheiten dieses Gedichtes in dem Wohlklange der Verse besteht. Alleine beydes wird widersprochen, jenes von den Deutschen und dieses von den Engelländern; und ich muß bekennen, daß mir diese leztere Anmerkung am wenigsten Gründlichkeit zu haben scheinet. Denn ich sehe in dem verlohrnen Paradiese allzu viele Schönheiten, die von dem Plan, den Erfindungen, den Charactern, den Gemüthes-Meinungen herrühren, und schon vor sich alleine, von den poetischen Farben abgesondert, ein wohlbeschaffenes Gemüthe auf das empfindlichste rühren müssen. Ich verwundere mich nicht, wenn eine Uebersetzung eines Werckes nicht gelesen wird, dessen vornehmste Schönheiten in dem Ausdrucke bestehen, wo der Wehrt der Sachen an dem Wehrt der Figuren hängt; da mag entweder der Uebersetzer seine Sprache nicht genug besitzen, oder die Sprache fehlet ihm. Aber die Erfindungen des Plans, der Materie, ihres Zusammenhanges, des historischen Characters, der Entschlüsse, müssen selbst in der ungeschicktesten Uebersetzung einigermassen hervorleuchten; diese Sachen können selbst von einem gemeinen Uebersetzer, insonderheit, wenn er in ungebundener Rede übersetzet, nicht so übel verderbet werden, daß sie einem geschickten Leser nicht in die Augen fallen, und seine Bewunderung erhalten. Es ist mir auch unverborgen, daß unsere deutschen Kunstrichter mehr an Miltons Materie u. Erfindungen auszusetzen gehabt haben, als an der Sprache der Uebersetzung. Und ich will nicht verhalten, daß dieses einem übel befestigten Geschmacke zu einem neuen Vorurtheile wider dieses Gedicht Anlaß geben könnte, wenn er daraus erkennet, daß diese kein grösseres Wohlgefallen daran finden, als der gemeine Leser, ungeachtet sie so viele mehrere Geschicklichkeiten besitzen, dessen Schönheiten einzusehen, indem ihnen nicht nur diejenigen in das Gesicht fallen, so sich den Sinnen empfindlich machen, und von der Bewegung der Affecte entspringen, sondern daneben noch alle übrigen, die ihren Grund in dem Verstande haben. Also könnte man von mir auch die Wegräumung dieses Vorurtheiles begehren, alleine ich habe keine Lust dazu, wenn ich gedencke, daß ein gleiches aus gleichmässigem Grunde von der Ilias, der Odyssea, der Eneis, dem befreyten Jerusalem, gefasset werden kan, vor welche hochgelobete Gedichte unsere Kunstrichter und Poeten selbst keine gründlichere Hochachtung an den Tag legen, als vor das verlohrne Paradieß, indem sie dieselben entweder mit einem verächtlichen Stillschweigen vorbeygehen, oder sie auf eine gantz flüchtige und seichte Weise mit halber Ueberzeugung anpreisen, zumahl da auch unsre Poeten diesen Fürsten der Poesie in ihren Nachahmungen viel geringere Modelle vorzuziehen pflegen. Derowegen kan ich dem Verdacht noch nicht Abschied geben, daß die geringe Hochachtung, in welcher Milton bey den Deutschen steht, nicht dem Mangel oder der Unzulänglichkeit der Kunst auf seiner Seiten, sondern vielmehr dem Mangel an Fähigkeit auf Seite der Leser und Kunstrichter zuzuschreiben sey; und ich bin versichert, daß die Hochachtung desselben destomehr steigen und anwachsen werde, jemehr Deutschland an geschickten Lesern und Kunstrichtern zunehmen wird. Ich hege auch die trostreiche Hoffnung bey mir selbst, daß die neue critische Dichtkunst zu diesem Ende nicht wenig beytragen werde, als in welcher der Verstand zu dieser Art Schriften eben so geschickt als gründlich zubereitet worden; also daß sie meiner Schutzschrift für das verlohrne Paradieß, mit welcher der Verfasser derselben sie auf gewisse Weise verbunden1 hat, vor das beste Creditiv oder Beglaubungs-Schreiben dienen kan. In eben dieser Absicht habe ich des Critikverständigen Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in dem Verl. Par. hier beydrucken lassen; diese hat den Engelländern vornehmlich die Augen aufgethan, daß sie die Vortrefflichkeit derselben erkannt haben; und eben dieselbe hat nach einer gantz widerwärtigen Wurckung durch das ungemeine Lob, das sie Milton deßwegen beyleget, den Herren Magny so sehr zum Neide bewogen, daß er die verboßten Einwürffe dagegen ausgegossen hat, welche mich zu einer so ausführlichen Vertheidigung veranlasset haben.

Fußnoten

1 Sehet den siebenden Abschnitt, der von dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen handelt, in dem letztern Artickel desselben.


Quelle:
Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Zürich 1740.
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