Zweites Kapitel

[26] Adrienne war zum erstenmal in ihrem Leben einsam. Ihre frühe Jugend war in einer geräuschvollen Pension verflossen; inmitten der lärmenden Gefährtinnen hatte sie sich allein gefühlt. Ihre jungen Mädchenjahre verlebte sie in vornehmen Häusern als Gesellschafterin oder Erzieherin; auch da umgab sie sich mit einer unsichtbaren Mauer und glaubte sich allein, wie sie denn auch fortfuhr, ihr Wesen abzuschließen, sogar noch in der Ehe. Diese Art selbstgeschaffener Einsamkeit, die sie aus Trotz künstlich sich aufrecht erhielt, war ganz verschieden von dem ungestörten Alleinsein, zu dem sie sich jetzt gezwungen sah. Sie konnte ihre Bitterkeit nicht damit sättigen, daß sich der nebenan arbeitende Gatte nicht um sie bekümmerte. Sie konnte niemand auf eine etwaige freundliche Bitte antworten: »Ich danke, ich mag nicht unter so viele Menschen gehen;« es forderte sie eben niemand zu einem Spaziergang, einem Theaterbesuch, einer Ausfahrt auf. Sie brauchte ihr innerliches Alleinsein von keiner Umgebung mehr abzutrotzen.[26]

Die Magd, eine gutmütige, beschränkte Person, waltete ihres Amtes als Köchin und Kindswärterin zugleich in tadelloser Gewissenhaftigkeit. Das Kind lebte sein junges Pflanzendasein in gesunder Regelmäßigkeit weiter, das heißt, es schlief mehr als den halben Tag und ließ sich in seinen wachen Stunden umhertragen, wobei es sich die Welt mit ganz verständnislosen Augen ansah. Neben dieser geringen Arbeit war die sehr vereinfachte Küche bald besorgt. Auch schien es den beiden Frauen nicht der Mühe wert, für sich, in Abwesenheit des Herrn, viel zu kochen. Adrienne fing an sehr schlecht zu leben und der Magd die ganzen Küchenbestimmungen zu überlassen, welche diese nach ihren dörflichen Heimatgewohnheiten traf.

Adrienne versuchte es, sich mit dem Kinde zu beschäftigen. Es war ein Vierteljahr alt und begann eben erst zu lächeln, ein Lächeln, welches natürlich bloß physischem Behagen entsprang. Adrienne hatte es sich anders gedacht, »ein Kind zu haben«. Die schönen Redensarten, welche sie in Büchern gelesen und von Frauen gehört, die mit der Mutterliebe kokettirten, von dem ausfüllenden, entzückenden Glück, welches der Besitz eines Kindes gibt, schienen ihr erlogen. Dieses kleine Menschenwesen bedurfte nur einer rein körperlichen Pflege, das Kind hatte seine Mutter, die Mutter hatte das Kind noch nicht in geistigen Besitz genommen, und dieser allein ist es, der Seelenfreuden und Seelensorgen gibt. Wohl ergriff auch ihr[27] Herz bange Furcht, wenn das Kind je zuweilen unruhig oder fieberhaft war, das aber sind die mütterlichen Instinkte, die auch dem Tier nicht fehlen. Manchmal träumte sie sich voraus, in die Zeiten, wo aus dem schlummernden Bündelchen ein denkender Mensch, ein Mann geworden sein würde. Dann ward ihr Herz ergriffen von den bangen und seligen Ahnungen der Mutterlasten. Sie erschauerte unter dem Bewußtsein der tödlich ernsten Pflichten, die ihr denkendes Kind ihr auferlegen würde; sie sah ihren Sohn im voraus als guten, bedeutenden Menschen oder als mißratene Frucht am Baum des Lebens. Sie schlief nächtelang nicht aus Sorge um ihres Kindes Zukunft; sie kämpfte mit ihrem Sohn, sie lobte ihn, sie weinte um ihn, fühlte allen Stolz einer glücklichen, alle Schmach einer unglücklichen Mutter.

Und dann hielt ihr die Gegenwart nichts entgegen als ein kleines, dummes, unerwachtes Lebewesen, das sich in den Armen der sorglichen, mit Kindern vielgewandten Magd behaglicher fühlte als in den zarten, unsicheren Händen der Mutter.

»Nein,« sagte sie sich dann, »das Schönfärben hilft hier nichts: ein so kleines Kind ist nur eine Versprechung auf die Zukunft, und mit Versprechungen füllt man ein einsames Herz nicht aus.«

Adrienne war an eine rastlose Thätigkeit gewöhnt. Sie hatte immer fleißig sein müssen, in der Pension, bei fremden Leuten, in ihrer Ehe, denn Arnold sprach[28] viel von dem sittlichen Wert aller Arbeit, auch der Frauenarbeit, was Adrienne als Mahnung zur Unermüdlichkeit aufzufassen sich verpflichtet glaubte. Weil nun so ihre Thätigkeit immer einem gewissen Zwang entsprossen war, hatte sie sich schon von Kindheit an gewöhnt, alle Erholung heimlich zu suchen. In der Pension hatte sie gleich den anderen Mitschülerinnen heimlich gelesen; in ihrer dienenden Stellung verbarg sie ebenfalls die Neigung; als Frau hatte sie verstohlen in ein Buch geguckt, wenn Arnold und die Magd ausgegangen waren. Nun hörte mit dem Zwang allmälich auch die Thätigkeit auf. Die immer fleißige Nadel wurde seltener und seltener eingefädelt, aber da niemand ein Verbot oder nur eine Frage über das Lesen an Adrienne richtete, nahm sie auch kein Buch mehr zur Hand.

Die Inhaltlosigkeit der Tage und die geringe Nahrung steigerten die Nervenerschlaffung der jungen Frau bis zur brütenden Schwermut.

»Ich möchte sterben,« sagte sie eines Abends laut vor sich hin.

Der einzige Tag, der neues Leben brachte, war der Sonntag. An diesem traf, seit Arnolds Abreise, regelmäßig ein Brief von Joachim und einer von Fanny Förster ein. Joachim war kein Federheld; seine Briefe erzählten in einem ungeschminkten, etwas bummeligen Ton allerlei kleine Erlebnisse aus seinem gesellig bewegten Landleben, von denen er immer die Befürchtung aussprach, daß sie Adrienne langweilen[29] möchten. In der That hatte sie auch keinerlei Teilnahme für seine Berichte als die des Neides, der die reicheren Lebenserscheinungen in einem andern Dasein gegen die Armut derselben im eigenen hält.

Für diejenigen, welche der Welt absterben, ist Neid der letzte Faden des Zusammenhaltens, der erste, um wieder anzuknüpfen.

Fanny Förster schrieb nur immer kurz: »Wann kommst Du? – Was macht Dein Kind? – Schreibt Dein Mann, und was?« Auf diese immer verschieden, aber immer knapp eingekleideten Fragen antwortete Adrienne zuerst: »Vielleicht – im Sommer – oder zum nächsten Winter,« und endlich – es waren inzwischen acht Wochen seit Arnolds Abreise vergangen – »ich komme nicht, ich tauge nicht unter Menschen.«

Darauf schrieb Fanny Förster nicht mehr. Aber das bemerkte Adrienne nur am ersten Sonntag. In ihre Verlassenheitsekstase war eine neue Wendung getreten. Ein Brief von Arnold, der erste, lange Brief, war die unmittelbare Veranlassung dazu geworden. Der Kapitän beschrieb die Reise des Schiffes, welches zur Zeit, da er den Brief verfaßte, in Alexandrien vor der Rhede lag. Er erzählte so klar, gefällig und doch gründlich, als sei der Bericht für eine Zeitung bestimmt. Als er von sich und seiner Reise alles Bemerkenswerte mitgeteilt, ging er zu Adrienne und ihrer Einsamkeit über. Er war zu nüchtern und einsichtsvoll, um die Tage seines Weibes durch das[30] Mutterglück ausgefüllt zu denken; alles, was in dieser Richtung jetzt in Adrienne unter schweren Grübeleien vorging, war für ihn, den Mann, eine einfache und selbstverständliche Thatsache. Er berührte diesen Punkt, ohne zu ahnen, daß er ihr schon zu denken gegeben; er berührte ihn, um sie auf ihre Pflicht zu verweisen, sich schon jetzt für die Zukunft vorzubereiten.

»Man muß seinen Kindern so viel geben, als man im Vermögen hat. Wir können unserem Sohn sehr viel mehr geben, als tausend andere, an Gütern Reichere im stande sind. Wir besitzen eine Bildung des Geistes, die uns gestattet, auch unserem lernenden und erkennenden Sohn noch überlegen zu bleiben. Die fortschreitende Zeit wird freilich auch uns nicht den traurigen Augenblick ersparen, wo wir unser Kind reifer, gebildeter und vielleicht anspruchsvoller sehen, als wir es selbst sind; aber diesen Augenblick weit, weit hinaus zu schieben und ihn dann von der pietätvollen Erinnerung unseres Sohnes, daß er uns auch geistig alle Fundamente danke, übergoldet zu sehen, das sei unser Bestreben. Werde Du seine erste Lehrerin; ich rüste mich, sein Mentor zu werden, wenn er Deinem Anschauungskreise entwächst. Zu dem Zweck bitte ich Dich, alle Disziplinen, welche Du in Deinem Lehrerinnenberuf üben mußtest, fortzubilden, Dir das Neue anzueignen, wo es gut ist, Dich auch insbesondere mit den modernen Sprachen zu beschäftigen. Dieses wird zugleich Deine einsamen Tage[31] nützlich und sittlich ausfüllen und Dir innere Zufriedenheit geben.«

Adrienne lächelte herbe. Anstatt von Sehnsucht nach Weib und Kind zu sprechen, sandte er ihr vom Bord des Schiffes aus noch Ermahnungen. Das war so seine Art. Aber der stumpfe Gehorsam war Adrienne zur Gewohnheit geworden. Und in der Wollust, aus dem Beschäftigungsrat ihres Gatten eine Quälerei für sich zu gestalten, suchte sie sich zur Uebung dasjenige aus, was ihr in der Schule und als Lehrerin die größten Mühen und Aergernisse gemacht, nämlich das Französische. Sie hatte kein Sprachtalent, und obwohl sie mit einem sich oft bis zur Verzweiflung steigernden Fleiß vollkommen die grammatische Seite der Sprache beherrschen gelernt hatte und fließend las, war ihr das Sprechen und Lehren doch immer eine unendliche Schwierigkeit gewesen.

Sie beschloß, sich einige französische Bücher laut zu lesen und zu übersetzen. In Arnolds Bibliothek fanden sich keine vor. Sie schickte die Magd mit einem Zettel zur nächsten Buchhandlung.

Als die Magd mit dem Baby auf dem Arm im Laden den Zettel abgab, in welchem Frau Kapitän von Herebrecht einige neue französische Bücher forderte, sagte sich der Commis, daß eine junge Offiziersdame mit dem »neu« ohne Zweifel »pikant« gemeint habe, und packte einige Bücher von Belot, Gyp und Guy de Maupasant ein, nicht ohne auf der begleitenden Nota den[32] Vermerk zu setzen, daß die neue wohlfeile Ausgabe von Zola, oeuvres complètes, durch sie zu beziehen sei.

So kam Adrienne zu Büchern, zu einer Lektüre, von deren Dasein sie bisher keine Ahnung gehabt. So schlugen zum erstenmal die Laute aus einer verruchten, zerfallenden Kultur an ihre streng verschlossen gewesenen Ohren. Kein Warner war zugegen, der ihr das erste Staunen, das erste Erröten hätte deuten und ihr sagen können: »Das ist die durch Neugier gemilderte Entrüstung – erkenne dies Gefühl und laß von diesen Büchern ab.«

Die peinliche, schamhafte Neugier wandelte sich schnell in ein Gefühl brennender, fast schmerzlicher Spannung. Die Begier, immer weiter sich die Schleier heben zu sehen von Seiten des Lebens, bis zu denen sich nicht einmal ihre Phantasie verirrt gehabt hatte, ergriff ihre ganze Seele. Sie las und las. Bis zum Morgen brannte das Licht vor ihrem Bette. Das Geschrei des Kindes, die Fragen der Magd wurden zu Störungen.

Die Dezenz des Lasters erscheint den Lasterhaften als der Ersatz für wohlanständige Formen, für die verlorene Sittlichkeit – die Phantasien eines Unschuldigen und bisher auch Unwissenden gehen in das Riesengroße, Unfaßliche und suchen hinter dem, was ihm bekannt wird, noch immer Schrecklicheres.

Adrienne zitterte, als seien die Sünden der Welt auf sie gefallen. Sie krankte an der Furcht, daß dies[33] alles Wahrheit sei, und an der Gier, zu erfahren, ob hinter der Wahrheit noch eine andere, noch unmenschlichere sich verberge.

Von den durchlesenen Nächten, von steter Spannung aller Nerven wurden ihre Wangen noch schmäler, ihre Augen leuchtender. Kaum nahm sie sich Zeit, sich sorgsam anzukleiden, ja, sie scheute vor dem Spiegel zurück, denn einmal, als sie, ihr schönes Haar kämmend, den zarten weißen Arm erhob, dachte sie: »Wer freut sich daran?« und bebte vor Scham wegen dieses Gedankens.

Einmal an einem der ersten Tage des Mai, der sich mit einer üppigen Schönheit über den deutschen Norden ausbreitete, wie man ihn in dieser Zone selten genießt, einmal versuchte Adrienne, den Folterqualen zu entrinnen, unter denen ihr Wesen bebte. Sie warf das Buch von sich und eilte in die Natur, um in ihre erhitzte Brust reine, frische, weite Atemzüge zu ziehen. Ihr Auge war scheu, ihr Fuß unsicher, sie kam sich vor wie aus einer Haft entlassen und doch noch nicht genug gestraft.

Am Ufer der Kieler Bucht standen jetzt die Buchen des Gehölzes von Düsternbrook im jungen Laube. Der Sonnenschein rann durch das noch gelbliche und undichte Blattwerk, so daß die Wege von Licht- und Schattenflecken unruhig gemustert schienen. Rechts vom Wege, vor der steil abfallenden Uferböschung und zum Teil sich an dieser terrassenförmig niedersenkend,[34] befanden sich Gärten und vorn an der Straße in diesen weiße Landhäuser. Das Wasser blitzte in der Tiefe auf. Es war eine Wonne und eine Pracht in dem Bild und in der von Syringenduft durchsättigten Luft, daß Adrienne sich von den Wundern des Frühlings wie betäubt fühlte. Wie selig mußten heute die Menschen sein, die liebten und mit einem frohen Genossen den Durst ihrer Herzen ganz stillen konnten. – Ein Bataillon kam mit klingendem Spiel die Wald-und Villenstraße herabgezogen. Vorauf zahllose Jungen, zu seiten mitmarschirende, lachende Menschen. Adrienne stand auf dem Bürgerstiege still.

Die Trompeten schmetterten, die Trommel dröhnte, vom Glockenspiel, das, mit rot-weißem Pferdehaarbusch geschmückt, hinter dem Tambourmajor getragen wurde, fielen einzelne Silbertöne wie Schmuckperlen in die Flut der Töne. Die Militärmusik spielte einen bekannten, sehr flotten, sehr übermütigen Marsch. Die geheimnisvolle Macht, die eine schmetternde, frohe Weise über ein wundes Herz hat, zeigte sich auch hier wieder. Da werden plötzlich tausend unbestimmte Wünsche wach, da fließt jede ungestillte Sehnsucht der Seele in einer unendlichen Wehmut zusammen, da durchwallt das müde Blut ein Bedürfnis nach ungewohnten, berauschenden Freuden. Zu viel, zu viel! Adrienne fühlte ihr Herz zerreißen. Sie stand und horchte gierig den verhallenden Klängen nach und floh dann durch die Straßen heim.[35]

Das Leben war ihr verschlossen – so wollte sie wenigstens ihr Gehirn mit den Erzählungen aus demselben betäuben. Zurück zu den Büchern!

Zu Hause lag ein Brief von Joachim auf dem Tisch. Sie schob ihn fort – er machte ihr Unbehagen. Sie dachte daran, daß auch Joachim ein Mann sei, und schauderte in krankhafter Abneigung.

Es war Mittagszeit. Adrienne setzte sich und löffelte mit der Rechten ihre schlechte Wassersuppe aus, während ihre Linke einen französischen Roman hielt, auf dessen Seiten sie eben die frivole Beschreibung eines Champagnerdiners las. Ihre Wangen glühten. In ihrer Seele regte sich, tief, dunkel, wie in gesunde Menschenseelen sich die Sünde schleicht, eine fürchterliche Empfindung: die des Neides auf jene Weiber, von denen sie las. Und dabei dehnte eine unermeßliche Angst ihre Brust. Alle ihre Nerven waren angespannt wie zu einer Katastrophe.

In diesem schwülen Augenblick trat die Magd ein. Adrienne erschrak so, daß sie krampfhaft aufschrie.

»Draußen ist eine Dame,« sagte die Magd.

Adrienne starrte sie mit offenem Mund an. Da erhob sich im Korridor eine sonore, frohe Stimme und rief:

»Ich bin es!«

Adrienne kannte die wohltönende Altstimme nicht, aber sie schrie zum zweitenmal auf, als die Dame nun in der Thür erschien.[36]

Es war Fanny Förster. Und es war, als hätte jemand in einer dunklen Stube plötzlich Licht gemacht.

Fanny breitete die Arme aus, und die unglückliche Frau rettete sich hinein wie in einen Hafen, schmiegte sich an Fanny, als stände hinter ihr jemand, der sie wieder in einen häßlichen Sumpf zurückreißen wolle.

»Armes Kind!« sagte Fanny; »ich dachte mir so was.«

Dabei ging ihr Auge über die Wassersuppe und das sonnenlose Zimmer hin.

Adrienne bebte so heftig, daß Fanny sie liebevoll zum Sofa führte, wo sie sich in eine Ecke warf, das Gesicht an den Polstern verbergend. Fanny hob unterdes den herabgefallenen französischen Roman auf, sah hinein, blickte kopfschüttelnd auf Adrienne und klappte das Buch zu. Dann trat Fanny vor den Pfeilerspiegel und nahm ihren schleierumwundenen Reisefilzhut ab.

Sie strich mit ihren weißen, wohlgeformten Händen den welligen Scheitel hinunter, doch erwies sich die Bemühung, das glanzlose, lockere Blondhaar zu glätten, als nutzlos; es war immer ein wenig rauh bis in den dicken Knoten, der in klassischer Weise über dem schlanken Nacken saß. Fanny Förster hatte ein Gesicht mit großen Zügen: eine gebogene Nase, eine breite Stirn, einen großen Mund mit herrlich gezeichneten Lippen und wundervollen Zähnen und ein hellbraunes Auge unter dunklen Brauen, mit einem raschen, klaren[37] Blick. Diesen großen, regelmäßigen Zügen wurde eben durch diesen Blick und ein besonderes Lächeln jede Härte genommen, und wer Fanny Förster zum erstenmal sah, empfing stets den Eindruck, einer sehr schönen und ohne Zweifel bedeutenden Frau gegenüber zu stehen. Ihre Kleidung war von jener ausgesuchten Einfachheit, die bei englischen Herrenschneidern sehr teuer erkauft wird. Trotzdem Fanny geradenwegs von der Bahn und von einer weiten Reise kam, waren ihre Farben frisch, ihr Lächeln munter, ihre Kleider sauber.

Sie trat zurück an den Tisch.

»Höre, Kind,« sagte sie mit dem unbefangensten Ton von der Welt, »ich habe Hunger, aber trotzdem keinen Appetit auf Wassersuppe. Sei gastlich, lade mich ein, mit Dir irgendwo zu speisen, wo die Sonne uns in die Weingläser funkeln kann.«

Adrienne hob ihren Kopf. Hatte Fanny denn kein Auge oder kein Gefühl für ihre sichtliche Verstörtheit? Desto besser, desto bequemer!

»Wo könnten wir ... wir beiden Frauen ...« stotterte sie.

»Wo wir beiden Frauen ohne männlichen Schutz in ein Wirtshaus gehen könnten?« lachte Fanny. »Ueberall dahin, wo wir uns ladylike benehmen. Setze Dir einen Hut auf, wir nehmen einen Wagen und fahren nach Bellevue. Aber schließe zuvor das Buch da weg. Wie kommst Du auf die Lektüre?«[38]

»Durch Zufall ... ich wollte Französisch üben ...« sagte die junge Frau, am ganzen Leibe zitternd.

»Pfui Teufel!« sprach Fanny mit kräftiger Betonung; »sich seine Phantasie beschmutzen, ist eine größere Unreinlichkeit, als im Feuer der Leidenschaft einen Sündenfleck auf seine Seele machen.«

Adrienne verbarg das unglückliche Buch und schlich hinaus, sich ihren Hut zu holen. Unterdes besah Fanny sich alles im Zimmer auf das genaueste. Hiebei entging ihr nicht der verschlossene Brief auf dem Tisch; sie hielt ihn prüfend zwischen den Fingern, als Adrienne wieder eintrat.

»Ist das Deines Schwagers Joachim Handschrift? Ich sehe das Herebrechtwappen auf dem Couvert. Eine angenehme, schön fließende Schrift. Du scheinst nicht sehr neugierig auf den Inhalt.«

»Wir wollen den Brief mitnehmen. In der That interessirt es mich nicht übermäßig, was Joachim mir von seinem Leben erzählt. Wenn es Dich interessirt, kannst Du auch Arnolds letzten Brief lesen,« sagte Adrienne.

»Mich interessirt alles,« antwortete Fanny.

»Wie kann das nur?« fragte Adrienne erstaunt; »mich läßt das Wohl und Wehe fremder Menschen kalt, und trotz unserer Verwandtschaft sind doch wir Dir fremd.«

Fanny sah sinnend vor sich hin; es war ein Blick, wie ihn Menschen zuweilen in ihre reichbewegte[39] Vergangenheit zurückthun. Alles, was gewesen ist, erscheint wie ein Gemälde, nicht in uns, sondern außer uns, und wir, die wir durch die Zeit die richtige Standferne eingenommen haben, betrachten das Gemälde kritisch.

»Welche Oede würde mein Leben sein,« sprach sie endlich langsam, »wenn ich mir nicht einen Kreis, einen weiten Kreis von Pflichten zurecht gemacht hätte! Gott sei Dank, in mir liegen keine Kräfte brach, ich lebe ein gesundes, arbeitsames Leben.« Und heiterer setzte sie rasch hinzu: »Aber daß Du nicht denkst, ich bin eine sentimentale Närrin, voll Welt-, respektive Nächstenbeglückungsduselei. Weißt Du, für Heidenkinder in Afrika stricke ich keine Socken, und wenn irgendwo in Spanien oder Italien ein Unglück passirt, bleibt mein Herz zwar nicht kalt, aber meine Börse zu. Dafür aber gibt's in meinem Dorfe keine Not und kein Leid außer dem, was der Tod schafft. Ich meine immer, man solle mit seinen Händen nicht weiter greifen wollen, als die Länge der Arme erlaubt.«

In Adrienne ging etwas Seltsames vor. Sie umarmte Fanny heftig und rief:

»Ich beneide Dich!«

»Um Gottes willen,« sagte Fanny erschreckt, »mich! Und weshalb? Mich, die sich erst künstlich schaffen muß, was Du vom Schicksal schon empfingst: liebe Pflichten!? Du hast ein Kind, einen Gatten und obenein einen klugen, guten.«[40]

»Aber Du brauchst Dich nicht bevormunden zu lassen, Du kennst das Leben, die Welt, Du bist frei,« rief die junge Frau voll Leidenschaft.

»Nun,« antwortete die andere, »Du wirst mein Leben kennen lernen und mir erst später sagen, ob Du es mir neidest. Denn Dich zu holen, ist der einzige Zweck meiner Reise. Jetzt komm ins Freie. Nur zuvor einen Blick in die Kinderstube.«

In der Kinderstube besah Fanny sich den kleinen Joachim und meinte, ob man von ihr erwarte, daß sie ihn hübsch fände, andernfalls würde sie sich die Freiheit nehmen, zu sagen, er sähe ebenso aus wie alle Babies von sechzehn Wochen.

Dann fuhren sie zusammen denselben Weg, den Adrienne vor einigen Stunden in düsterer Stimmung gemacht. Wie anders war ihr jetzt zu Mute: an der Seite einer Frau, die eine sorglose Heiterkeit entweder wirklich besaß oder doch mit unendlicher Anmut zur Schau trug, in einem bequemen Wagen an den Fußgängern vorbei, mit denen sie vorhin selbst im Staube gewandert, in der Gewißheit, ein feines Diner mit interessanten Gesprächen zu genießen. Selbstverständlich beging Adrienne den Irrtum, diesen ganzen Wechsel dem Umstand zuzuschreiben, daß Fanny als reiche Frau sich jede Stunde angenehm machen könne. Aber wenigstens verführte diese Betrachtung sie heute nicht zum Neid.

Oben auf der Höhe von Düsternbrook liegt die[41] Seebadeanstalt Bellevue; der Blick beherrscht von hier aus die Bucht, die Fortifikationen und weit draußen das Meer. Hier saßen die Frauen, und wie Fanny es gewünscht hatte, stahl sich durch die Krone der Linde, unter welcher sie speisten, ein Sonnenstrahl in ihr bernsteinfarbiges Glas, darin Moselwein perlte.

Fanny hatte in den Pausen zwischen den Schüsseln Arnolds Brief gelesen und reichte ihn jetzt der jungen Frau zurück.

»Das ist ein Mann,« sagte sie aufatmend, »ja, Du kannst glücklich sein.«

Voll Widerspruchsgeist bemerkte Adrienne mit einem herben Zug im Gesicht:

»Von Liebe steht nicht viel darin.«

Fanny ließ die Gabel sinken, die sie eben zum Munde führen wollte, und sah ihr Gegenüber ebenso erstaunt als traurig an.

»O,« sagte sie schmerzlich, »das verstehst Du nicht herauszulesen? Du fühlst nicht, wie Du und die Sorge um Dich ihn ganz beschäftigen? Armer Arnold!«

Bei diesem Bedauern regte sich in Adriennens Brust ein Gefühl von heftigem Zorn gegen ihren Gatten. Und Fanny, die das auf dem zarten Gesicht kommen und gehen sah wie Wolkenschatten über ein sonniges Blachfeld, Fanny bereute ihre Aeußerung. Sie war zu klug, um nicht zu wissen, daß sie nicht offen auf Arnolds Seite stehen dürfe, wenn sie das[42] ungesunde Gemüt dieser Frau sich erschließen und heilen wollte.

»Nun wollen wir aber sehen, was Dein Schwager schreibt!« sagte sie ablenkend; »Du siehst, ich bin neugierig wie ein Kind. Darf ich auch lesen?«

»Nur zu!« sprach Adrienne gleichgiltig; »Du wirst die Beschreibung einiger Festlichkeiten finden, die auf jenem Gut in ununterbrochener Reihenfolge vor sich zu gehen scheinen, und dann wird Dir der Name Elly zehnmal begegnen – so heißt die Tochter des Hauses – und schließlich wird eine Ermahnung darin stehen, heiter zu sein und Arnold oft zu schreiben.«

»Was soll so ein junger Mensch denn auch anderes schreiben,« lachte Fanny gutmütig; »die soziale Frage kann er nicht mit Dir lösen. Also da ist eine Elly, deren Namen wir auf jeder Seite finden? Schau, schau!«

»Er ist immer verliebt,« bemerkte Adrienne, eine Mandel zerbrechend.

»Liebe Schwägerin,« las Fanny halblaut, »seit meinem letzten Brief – unglaublich eigentlich, daß es erst acht Tage sind – hat sich sehr viel ereignet. Das Wichtigste sei gleich gesagt: Fräulein Elly hat sich verlobt mit einem unausstehlichen Krautjunker, welcher Ellys Papa das Gut abkauft. Natürlich hört damit meine Stellung als Volontär auf, die mir auch ohne den Gutsverkauf sehr verleidet ist. Fräulein Elly sieht nicht sehr glücklich aus. Arme Kleine! Joachim[43] Herebrecht ist aber ein armer Schlucker, er konnte dir nicht helfen. Nun, liebe Adrienne, gilt es, eine neue Stellung suchen, und zwar endlich eine, wo ich verdiene. Getrost könnte ich auf Grund meiner Kenntnisse die Bewirtschaftung eines großen Gutes selbständig übernehmen; es fragt sich nur, ob ich einen unserer Standesherren bereit finde, mir eine solche Stellung anzuvertrauen. Mache Dir aber keine Sorgen, schreibe auch Arnold nichts. Ich kann hier bleiben, bis ich etwas anderes habe. Du hast mir lange nicht geschrieben; laß mich wissen, wie es Dir und dem Kleinen geht und ob Du kürzlich Nachrichten von Arnold hattest. Mit den innigsten Grüßen, Dein Joachim. Frage doch 'mal bei Fanny Förster an, vielleicht weiß die eine Vakanz, wo ich einrücken könnte.«

Fanny lachte.

»Weshalb lachst Du?« fragte Adrienne; »ich finde es nicht sehr heiter, daß Joachim ohne Stelle ist. Arnold hätte ihn nicht Landwirt werden lassen dürfen; es ist so aussichtslos.«

»Ich lache,« sagte Fanny belustigt, »weil ich mir aus diesem herzlich unbedeutenden Brief doch den ganzen guten, liebenswürdigen und vielleicht ein bisserl leichtsinnigen Jungen zusammenkonstruire. Dieser Zwischenruf ›arme Kleine!‹ ist köstlich. Und dann lache ich, weil ihm im Postskriptum Fanny Förster einfällt und weil diese eminent praktische Frau natürlich Rat weiß.«

»Wie, Du wüßtest eine Stelle?«[44]

»Ich schaffe ihm eine. Meine beiden Güter Mittelbach und Driesa habe ich bislang von Mittelbach aus selbst verwaltet, mit Hilfe meines alten Freundes, des Baron Lanzenau. Mancherlei Umstände, von denen Du schon in Mittelbach Kenntnis erhalten wirst, machen es wünschenswert, daß Lanzenau nach Driesa übersiedelt und sich so wenig wie möglich um Mittelbach kümmert. Weshalb soll ich mir nicht die Bequemlichkeit gönnen, einen Verwalter zu nehmen? Ich werde an Joachim schreiben. Er kennt mich zwar nicht, aber da Arnold eine gute Meinung von mir hat, hoffe ich, Kredit bei Joachim zu besitzen. Zugleich hast Du ihn, Deinen nächsten Verwandten, dann um Dich,« setzte Fanny voll Eifer auseinander.

»Jedes Geschäftsverhältnis zwischen Familienmitgliedern trägt den Keim von Unfrieden in sich,« sagte Adrienne zweifelnd.

»O,« sprach Fanny, den Kopf schüttelnd, »ich bin ganz rücksichtslos, immer und überall, denn das ist am bequemsten für andere und mich.«

»Daß Du für Joachim erst eine Stellung schaffst, gibt der Sache den Stempel einer Wohlthat,« grollte Adrienne.

»Keineswegs,« versicherte Fanny, der alsbald nach dem schnellen Entschluß schon hunderterlei Vorteile der neuen Ordnung einfielen. »Meine Wirtschafterin geht ohnedies, ich nehme keine neue, und anstatt wie bisher immer in den Feldern umherzureiten, finde ich im[45] Hause neue Aufgaben. Ich glaube auch, es wird sparsamer für mein Budget sein.«

Fanny verstummte plötzlich, und man sah es ihr unschwer an, daß ihr geschäftiger Geist mit Plänen, Zahlen, Einteilungen eifrig arbeitete.

»Wie kann eine Frau,« dachte Adrienne voll Staunen, »die vermöge ihres Reichtums und ihrer Schönheit in der Welt glänzen könnte, sich in einem Leben gefallen, das nicht mehr und nicht weniger ist, als ein Krautjunkertum ins Weibliche übersetzt.« Und sie stand nicht an, mit dem lehrhaften Unfehlbarkeitsgeist, der noch von ihren Erzieherinjahren in ihr lebte, etwas hochmütig auf Fanny herabzublicken. Doch Fanny fuhr mit einer schnellen Frage aus ihren Grübeleien auf, mitten hinein in die überhebenden Gedanken der Schwägerin.

»Treibt Joachim irgend eine Kunst?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er singt, aber weit her wird es wohl nicht sein. Warum?«

»Nun, ich liebe Menschen, die ihre Mußestunden schön auszufüllen verstehen. Ich mag, wenn das Reitkleid und die Wirtschaftsschürze ausgezogen sind, nichts mehr von Rübsaatpreisen und Wollkonjekturen hören. Lanzenau ist musikalisch, ich male etwas, der Pastor und seine Frau haben literarische Interessen, jeder sucht teil an den Freuden des andern zu nehmen.«

»So werde ich mich nicht bei Dir langweilen,« sagte Adrienne, eine kleine Beschämung niederkämpfend.[46]

»Ich hoffe, nein. Doch das liegt durchaus in und an Dir selbst. Die Fähigkeit zur Langeweile ist Naturanlage: mit Menschen, wie immer sie auch sein mögen, langweile ich mich sehr selten, in der Natur nie; nur wenn ich im Zimmer lange auf mich ganz allein angewiesen bin; und das ist auch, glaube ich, mehr Ungeduld zur Bethätigung meines Seins, als gerade Langeweile. Du findest nur Durchschnittsmenschen, aber diese in leidlich harmonischem Seelenleben.«

»Wann reisen wir?« fragte Adrienne glücklich. All ihr inneres Widerstreben war schon in der Sekunde erstorben, als Fannys stolze Gestalt heiter über ihre Schwelle trat.

»Morgen,« sagte Fanny, »mit dem ersten Zug, dann sind wir mit Einbruch der Nacht in Mittelbach.«

Die beiden Frauen stießen fröhlich zusammen an. Und am späten Abend saß Fanny, deren Nerven offenbar keine Ermüdung kannten, noch im Gasthofzimmer am Tisch, um einen ihrer bündigen Briefe zu schreiben.

»Mein lieber Kapitän,« schrieb sie, »ich bin in Kiel, um Ihre Frau nach Mittelbach zu holen. An was Adrienne krankt, ist nicht schwer zu sagen. Sie hat in ihrem Leben nur die Arbeit, den Ernst, die Tugend kennen gelernt und sie ist neugierig auf die Kehrseite der Medaille; sie will den Genuß, den Jugendübermut, die Sünde kennen. Allmutter Eva[47] wird in ihr wach, aber das wird sie in jeder Frau einmal. Ihr Weib ist bei mir, Sie können ruhig sein. Geht solche Krisis gesund aus, kann der Mann nur dabei gewinnen.

Ihre Fanny Förster.«


Der Inhalt dieser kurzen Zeilen erschien dieser Frau vollkommen genügend, um sie über das Weltmeer zu senden. Jede andere Frau hätte hier acht und mehr Seiten voll geschrieben. Aber Fanny ging mit dem beruhigten Gefühl zu Bett, sich vollständig ausgesprochen zu haben.[48]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 26-49.
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