Elfter Auftritt.

[32] Die Vorigen. Barjac.


BARJAC den Brief an Mad. Quinault gebend. Er wurde zur augenblicklichen Überreichung abgegeben.

QUINAULT nimmt den Brief und tritt etwa zur Seite.

BARJAC raunt ihr zu. Lesen Sie um Gottes willen!

QUINAULT hastig. Ha, was ist's? Zu Narziß. Beantworten Sie meine Frage, Narziß; Sie sollen mir nicht entwischen. Sie durchfliegt den Brief.

LAMBERT. Ja, antwortet darauf.

NARZIß. Was Mademoiselle sagte, ist gewiß recht hübsch, recht edel. – Wenn es derlei Dinge gibt, die uns, wenn wir darben, entschädigen, um so schlimmer für mich, denn ich habe nichts, wofür ich leiden kann. Ihr Narren, das ist ja das Entsetzliche meiner verfluchten Existenz, ich darbe eben um nichts! – Eins aber ist immer an mir zu rühmen – daß ich über meine Handlungen ohne Schimpf, ohne Scham lachen kann – und wenn mich ganz Paris verachtet, solange ich mich nicht verachte, lache ich euch allen in die Zähne! – Ho, wenn ich ein ausgelernter Spitzbube wäre, ich wäre jetzt ein berührter Mann – etwa wie Grimm, der weiße Tyrann, der seine Qualität der Materie, seinen Geist, erst zur Geltung bringen konnte, als er seinem Freunde Jean-Jacques einen Fußtritt verabreichte,[32] und doch hatte ihn Rousseau in anständige Gesellschaft gebracht, wie Ihr mich, Diderot. Hahahaha, laßt Euch nicht auslachen! – Alle, wie ihr dasitzt, die ganze noble Gesellschaft von Paris heißt Narziß, Narziß der Selbstliebhaber, der Eigensüchtige, der Ichmensch, Narziß Rameau! – Es ist Zeit in die Oper, Adieu! Er wendet sich nach der Tür.

GRIMM wütend. Die Frechheit dieses Burschen grenzt an Wahnwitz, und nur seine Erbärmlichkeit hält mich ab – Er greift nach dem Degen.

NARZIß einfallend. Haha, aber ich bin logisch. Er geht lachend nach der Tür.

EPINAY leise zu Grimm. Er entschlüpft uns, wir müssen ihn fragen! Laut. Rameau, noch ein Wort!

NARZIß umkehrend. Und?

QUINAULT die, als sie den Brief mit steigendem Affekt durchflogen, Narziß lange angestiert, plötzlich hervorbrechend. Narziß, eine Frage!

EPINAY rasch. Wo waren Sie gestern vormittag, um elf Uhr etwa?

QUINAULT einfallend. Gewiß auf dem Boulevard du Temple?

EPINAY erschrocken. Wie kommen Sie zu der Frage, mein Fräulein? Leise. Mein Himmel, sie weiß doch nichts davon?!

QUINAULT. Das wollte ich Sie soeben fragen. Leise. Sollte er's doch sein?


Allgemeine Spannung.


NARZIß verwundert. Nun, und was ist's denn? – Ist das so wunderbar, daß ich das Pflaster von Paris trete? – Ja, ich war da!

QUINAULT rasch. Ihr saht dort eine königliche Equipage?

GRIMM. Saht Ihr sie?

EPINAY für sich. O Gott, sie weiß es!

NARZIß. Wohl! – Ganz richtig! – Ich besinne mich! Sechs Isabellen mit karmoisinsamtnem Geschirr? Die Leute[33] meinten, es sei der Wagen der Pompadour; ich hätt' was drum gegeben, sie einmal zu sehen!

QUINAULT, EPINAY, GRIMM starr. Er ist's!!

ALLE ÜBRIGEN sind erstaunt näher getreten.

QUINAULT faßt plötzlich Narziß am Arm und zieht ihn beiseite, leise. Ein Wort, Narziß!

DIDEROT. Aber was bedeutet das, meine Herrschaften?

QUINAULT leise zu Narziß. Keinen Laut weiter! Ich habe ein Geheimnis für Sie! Erwarten Sie mich drüben an der Ecke in einem Mietswagen! Um Gottes willen rasch!!

NARZIß leise. ich bin galant! Laut. Adieu! Er geht rasch durch die Mitte ab.

EPINAY will ihm nachstürzen. Narziß, wohin?

QUINAULT tritt ihr triumphierend in den Weg. Er ruft nur meinen Wagen. Ein Wort, liebe Bouffleurs! Zu Bouffleurs, die rasch zu ihr getreten ist, leise. Die Pompadour will gekrönt ins Grab steigen. Der Dispens aus Rom ist da! Eilen Sie zur Königin!

BOUFFLERS entsetzt. Großer Gott!

QUINAULT zu Epinay. Er ruft meinen Wagen, denn ich habe dem Prinzen Conti eine sonderbare Neuigkeit mitzuteilen. Sie knickst. Ich habe die Ehre!

BARJAC UND QUINAULT gehen rasch durch die Mitte ab.


Kurze Pause.


ALLES starr.

EPINAY wie vernichtet.

GRIMM. Eh, beim Satan, sie weiß alles!

DIDEROT. Was weiß sie denn?

EPINAY außer sich. Wir sind verraten!

GRIMM stürzt ans Fenster. Sie steigt mit Narziß in den Wagen, er rollt vorbei! – Sie hat ihn mit sich genommen!

EPINAY wütend. Zum Prinzen Conti! In Todesangst. Meinen Wagen! O Gott, meinen Wagen! Ich muß Choiseul sprechen.

GRIMM UND EPINAY gehen durch die Mitte ab.[34]

HOLBACH. Träum' ich denn? – Was bedeutet diese sonderbare Szene?

BOUFFLERS tonlos, starr. Die Pompadour will gekrönt ins Grab steigen! Der Dispens aus Rom ist da!

ALLE aufschreiend. Die Pompadour? –

LAMBERT. Gekrönt?

DIDEROT. Und was geht das Narziß an?

HOLBACH. Ja, Narziß?

BOUFFLERS auffahrend. Ich muß die Königin sprechen! – Sie eilt durch die Mitte ab.

LAMBERT. Ich begleite Sie! Er geht ihr nach.

DIE ANDEREN starren ihnen sprachlos nach.


Der Vorhang fällt rasch.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 32-35.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Narziß
Narziß

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon