Zehnter Auftritt.

[26] Die Vorigen. Narziß.


NARZIß kommt, wie abwesend vor sich hinstierend, langsam nach vorn und singt parlando vor sich hin.

»Ich bin ein armer Geselle,

Bin ein verblendeter Tor,

Gleiche der schwankenden Welle,

Die sich am Strande verlor!«

Er klatscht. Bravo, bravo! Wahrhaftig unvergleichlich! Das ist doch noch Musik, Donnerwetter!

DIDEROT zu ihm tretend. Ah, Ihr singt die schöne Arie aus dem Dorfwahrsager.

NARZIß wie erwachend. Jawohl! – Ja! – Nicht wahr, sie ist schön? – Sehr schön! – Ich summte sie eben im Kopfe, und so bin ich hereingekommen, ich weiß nicht wie. Eine himmlische Musik! – Apropos, ich vergaß Euch zu fragen, was Ihr wollt.

DIDEROT sich zur Gesellschaft wendend. Ei, ich will Euch diesen Herrschaften vorstellen, man wünscht Euch hier kennen zu lernen.

NARZIß erstaunt. Aha! – Soll das Schmeichelei sein? – Haha, mich, Diderot?

DIDEROT. Nun, Ihr seid doch immer eine Kuriosität, die man sich einmal ansieht. Lange hält's natürlich keiner mit[26] Euch aus! Zur Gesellschaft. Meine Herren und Damen, das ist Narziß Rameau, der ausbündigste Narr Frankreichs.

NARZIß. Der Welt, Herr, wollt Ihr sagen! – Aufzuwarten! – Ich bin so eine Art Universalnarr, in dem alle übrigen aufgehen. Wer mich sieht, sieht sich im Spiegel; sehen Sie mich recht an, meine Verehrten! Zu Quinault. Ah, Mademoiselle Quinault, unsere Rodogune, unsere Merope! – Zu Holbach und Grimm. Ih, und da sind auch die stolzen Pfeiler der Enzyklopädie! – Er verneigt sich. Meine tiefste Ehrfurcht! Ich würde euch gern eine Vorlesung über die Weltseele oder die Atome halten, Serenissimi, daß euch der Kopf summen sollte, aber ich habe kein Geld zu einer Allonge!

DIDEROT. Schadet nichts, versucht's mit uns ohne das.

NARZIß setzt sich links zu Holbach und Diderot an den Tisch. Die Philosophie? Die ist ein reines Unglück, besonders die Enzyklopädistik.

HOLBACH. Was Ihr da sagt, Freund, ist wohl eine Grobheit, aber kein Beweis!

NARZIß. Was, ich soll Beweise führen? – Bin ich ein Gelehrter? – Ich bin Narziß Rameau, ein Nichts von einem Menschen und hab' mich mein Lebtag nie auf Fachstudien eingelassen. Die arme Philosophie, was sie sich quälen muß! – Sie erforscht logisch den Geist und kommt dabei logisch – auf die Materie, dann erforscht sie logisch die Materie und gerät logisch – auf den Geist. Hahaha! der Geist und die Materie sind die zwei Bündel Heu, zwischen denen die liebe Weltweisheit steht.


Bewegung in der Gesellschaft.


LAMBERT. Ihr seid ein geistreicher Schuft, bei Gott, und taugtet genau zu einem Rezensenten, etwa beim »Mercure de France« oder beim »Observateur littéraire«. Ich möchte den Schriftsteller kennen, den Ihr ungerupft ließet.

NARZIß. Deinen, der einer ist, natürlich!

HOLBACH. Den Schriftsteller, der keiner ist? – Mir scheint, Ihr brilliert gern in Paradoxen?[27]

NARZIß. Ach, das scheint nur so. – Nur solche Leute, wie ich, finden Gnade bei mir, zum Beispiel Rousseau.

QUINAULT. Also Rousseau?! – Und wie ist denn ein Schriftsteller, der keiner ist?

GRIMM. Eh, der schwatzt Unsinn!

NARZIß. Seht, Grimm hat's getroffen! Nur immer absprechen, Herr, das ist eine gar bequeme Arbeit, die wenig Hirnschmalz kostet. – – Schriftsteller, die keine sind, sind Menschen, die nichts schreiben wollen – Träumer, Verrückte, verkommene Menschen mit erquetschten Herzen, die als Schaum auf dem stagnierenden Sumpfe der Pariser Gesellschaft schwimmen, wie ich; – Leute, die von wer weiß was leben, nur nicht von Schriftstellerei. – Da kommt aus einmal ein sonderbares Ding über sie, das niemand so eigentlich kennt. Es hängt in der Luft, es ist da, aber man kann's nicht fassen; es kommt über einen allmächtig wie ein neuer Glaube, der die Tore der Zukunft aufreißt, durch die unsre Sehnsucht in die Perspektive aller Ewigkeiten schreitet; – es regiert einen dann ganz und gar, setzt sich eifern in Herz und Hirn, und will man's los werden, so wird – ein Buch daraus.

QUINAULT. Und könnt Ihr uns dies Ding mit keinem Worte beschreiben?

NARZIß. Ich weiß es nicht. – Ich habe oft darüber nachgedacht, auf den Boulevards, in den Sommernächten. – Grübelnd. Ich – ich möcht' – ja, wenn ich's denn zum Satan doch benennen soll – möcht' ich's dann den – den Geist der Geschichte möcht' ich's nennen! – Aber es ist eben damit gar nichts gesagt, es ist alles Schall, Schaum, Rauch! Auffahrend. Pah, ihr, die Gelehrten! Ihr seid weise und gut, ihr verzehrt ruhig euren Braten, trinkt euren Wein und tut euer Amt – aber – – hahahaha! – in fünfzig Jahren wird man sagen: »Diderot war ein ganz vortrefflicher Kopf, schade, daß sich seine Ideen überlebt haben, und Grimm! – Hm! – Grimm, Grimm! Wer war Grimm?« wird man fragen. »Ah so! Der, der einmal auf Rousseau geschimpft hat??«[28]

DIDEROT. Bravo, das ist köstlich!

ALLE geben außer Grimm und d'Epinay ihren Beifall zu erkennen.

GRIMM. Eure Beleidigungen, mein Bester, sind stumpfe Pfeile. Wer von Bedeutung in Paris wird nicht von Euch besudelt!

NARZIß. Recht, das ist mein liebstes Geschäft, darum lieb' ich meine Opfer. Den Rousseau zum Beispiel kann ich für den Tod nicht leiden, ich hass' ihn!

LAMBERT UND QUINAULT. Warum?

NARZIß ärgerlich. Ich kann ihm nichts anhaben!

DIDEROT. Und was hat er Euch getan?

NARZIß. Nichts! – Was ich sagen wollte: die kleine Gaussin, die den Marquis Mirepoix hat, ist in –

LAMBERT lachend einfallend. Nein, nein, erst die Antwort! – Was hat Euch Rousseau getan? – Warum haßt Ihr ihn?

NARZIß. Weil ich – Ich sag's nicht!

QUINAULT legt ihm die Hand auf die Schulter, schmeichlerisch. O bitte schön, Narziß, sagen Sie es doch!

NARZIß blöde. Weil – weil, weil – Finster. Kennt Ihr den – Neid?! – den hirnverwirrenden, herzzerfressenden Neid?! – Bitter. O nicht wahr, haha! ich sehe danach aus, daß ich noch jemanden im Leben beneiden könnte? Mein Neid ist doch – wahrhaftig – haha – höchst – haha – lächerlich! Er sinkt konvulsivisch auf den nächsten Sessel, Tränen rollen ihm übers Gesicht. Aber ich habe mich doch so lieb, mein Gott! – so lieb! – Er versinkt in stiere Apathie.

ALLE sind erschrocken um ihn getreten.

DIDEROT. So ist er oft. Was mag in ihm vorgehen? – Narziß, erholt Euch!

QUINAULT. Das hab' ich nie erlebt! – Der Arme! Mir tut das Herz weh, wenn ich ihn ansehe.

LAMBERT. Wahrhaftig, man kann an ihm sich selbst erkennen lernen.

DIDEROT rüttelt ihn. Rameau!

NARZIß auffahrend. Ja so! – Haha! – Da seht Ihr, wie jämmerlich abgeschmackt ich bin.[29]

LAMBERT. Hört, Ihr seid doch sehr zu bedauern! Ich an Eurer Stelle versuchte einmal meine Gedanken in eine Form zu bringen und niederzuschreiben. Ehe Ihr gar nichts tut, ist es am Ende doch ehrenwerter, Ihr wagt einmal eine Arbeit auf die Gefahr hin, zu verunglücken.

NARZIß. Das fehlte mir! – Pah, man bezahlt meine Nichtswürdigkeiten, Freund, und ich sollte mir die Mühe nehmen, zu sehen, wie sich's bei etwas Reellem verhungern läßt?

QUINAULT. Geht doch, Ihr gesteht selbst, daß Ihr Rousseau beneidet, und Ihr beneidet ihn doch wahrhaftig nicht um die Rolle, die der Verbannte in der Welt spielt? Eure Logik ist schlecht!

NARZIß. Oder auch nicht! – Wenn ich Rousseau hasse, habe ich meinen guten Grund, und – der geht euch nichts an. Gepreßt. Es ist in jedes Menschen Leben ein Etwas, das er nicht gern lüftet, an dem er nie rüttelt; und seine Existenz ist ein Bemühen, über dies verwünschte Etwas hinwegzukommen. Könnt ihr mein vergangenes Leben auslöschen? – Auf die Prämisse kommt's an in der Logik!

QUINAULT. Das heißt: Ich kann mich nicht mehr ändern, ich muß bleiben wie ich bin. Sie faßt ihn bewegt bei der Hand. Ihr könnt nicht?

NARZIß herb. Ich will – ich werde mich nicht mehr ändern! Peinlich. Ich kann ja nicht aus mir heraus! Finster. Ich muß bleiben wie ich bin – ich will es so!

QUINAULT ernst. Nun, Ihr müßt wissen, ob Eure Vergangenheit derart ist, daß Ihr so bleiben müßt, elend mit vollem Bewußtsein. Und das tragt Ihr mit Talenten, die zehn anderen eine anständige Stellung sichern würden.

NARZIß. Ich bin ein jämmerlicher Mensch, Doris, das ist unbestreitbar. Ich gleiche dem Wrack, das mit dem Winde treibt – wozu noch steuern?! – Ich konnte Musikunterricht geben, aber sagt doch, Diderot, würdet Ihr mir Eure Tochter anvertrauen?

DIDEROT. Eine delikate Frage![30]

NARZIß. Nein. Ihr würdet es nicht, und tätet recht daran! – Unterrichten! – Welch verteufelte Arbeit! – »Aber greifen Sie doch richtig, Gnädige! Fis, fis! Herr Gott!« – Wenn man nicht die Aussicht über die Schultern frei hätte, es wäre zum Tollwerden. – Es sieht allerdings jeder den Narziß Rameau verächtlich an, aber sie haben alle doch verdammte Furcht, daß ich ihnen schaden könnte. Pah, es gibt in Paris nicht zehn Menschen, die nicht wie ich täten, nicht tun müßten, um über Wasser zu bleiben. Die Gesellschaft lebt vom eigenen Ruin, sie saugt sich selbst aus, hihi. Und die Selbstaussaugung des Menschengeschlechts nennt man Weltgeschichte.

QUINAULT. Aber Ihr seid bei dieser Ansicht doch sehr unglücklich. – Wenn Ihr's auch leugnet, ich weiß es.

NARZIß erschreckt. Ihr wißt es? – Wieso? – Nein – ich bin's nicht! Spöttisch-naiv. Oder ja – mitunter – das heißt – wenn ich nichts zu essen habe. Ich lebe schon lange genug, um endlich zu wissen, worin das Glück des Lebens besteht.

HOLBACH lächelnd. Und Ihr habt dies Problem gelöst? – Das könnte Euch unsterblich machen. Worin besteht denn das eigentliche Glück des Lebens?

NARZIß. Das einzig wahre Glück des Lebens besteht in – der regelmäßigen Verdauung; der Konsum ist die causa movens des Weltbaus!

ALLE empört aufstehend, durcheinander. Pfui!!

DIDEROT. Unverschämter Gesell!

QUINAULT. O, er ist ein unverbesserlicher Wicht! –

NARZIß. Das hab' ich vorher gewußt; Komisch-ernst. aber es ist das Los jeder großen Wahrheit, daß sie von den Zeitgenossen verlästert wird. Ich bin geistreich, moralisch, wenn ich sattgegessen habe; mein Körper, mein Geist können nicht leben, wenn ich hungern muß.

DIDEROT. Mir tut es leid genug, Sie mit seiner Gegenwart beleidigt zu haben.

NARZIß. Da habt Ihr wieder recht, Herr. Es ist die[31] Strafe aller Leute, daß sie sich für mich interessieren müssen, um sich über mich zu ärgern.

QUINAULT. Aber Mensch, seht Ihr denn gar nicht ein, daß es ein Höheres im Haushalt der Natur gibt? – Habt Ihr im Leben nie eine Ahnung davon gehabt, daß man leiden und darben kann, und dennoch groß und reich sein im Besitze eines Wesens, einer Idee, einer heiligen Erinnerung, einer flackernden Hoffnung?

NARZIß verwirrt. Ihr – Ihr – Ihr fragt zuviel! Er starrt ins Leere.

BARJAC mit einem Brief durch die Mitte.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 26-32.
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