Erste Szene.

[81] Ino, auf der Spizze eines Felsens, betrachtet ihre schlafenden Söhne.


INO. Learch! Melizert! Meine Söhne! – Getreue Gefährten meines Unglükks! ruhet sanft, ihr zwei Unschuldigen!

Noch empfindet ihr kaum zur Hälfte das Elend, so euch drükkt! –

Fühlt nicht den Kummer, der euch verzehrt.

Wißt nicht das Schiksal, so euch erwartet. Ruhet sanft!

Ich will indeß zu den Göttern für eure Erhaltung flehn!

Sie steigt den Felsen hinab; auf ihrem Gesichte zeichnen sich Angst, Kummer und[81] Spuren des äußersten Mangels. Sie fällt auf die Knie, um zu beten; plözlich steht sie wieder auf.


Umsonst! –

Uiberall schaft meine verirrte Fantasie Bilder des Schrekkens!

Meine Seele vermag keinen Gedanken zu denken!

Diese grauenvolle Ahndungen –

Diese beklemmte Brust!

Dies klopfende Herz!

Unter der Musik.


Götter! Sollte irgend ein neues Unglükk? – O! ich Elende! – bin ich nicht schon unglükklich genug? –

Von der höchsten Staffel des Glükks, aus dem Schooße der reinsten Frenden – zu diesem gränzenlosen Jammer hinabgesunken.

Von aller Welt entfernt! –[82]

Vom Athamas, dem einzigen Sterblichen, den ich unaussprechlich liebe, dem Treulosen, dem Bundbrüchtigen, den ich noch jezt mehr als mein Leben liebe, verrathen, verstossen!

Er in den Armen einer nichtswürdigen, verworfenen Buhlerinn – einer Nephele? –

Und ich – und meine Kinder? –

Ha, Juno! –

Grausame Göttinn! Dein Werk! Das Werk deiner Rache!

Du fluchtest mir –

Schwurst mir einen unversöhnlichen Haß, als ich Semelens Sohn, das Götterkind ernährte.

Du verliehst der Nephele jene zauberischen Reize, meinen Athamas zu fesseln!

Erstikktest in ihm das Gefühl der Liebe, der Trene – der Menschheit! –

Unerbittliche! – – Kann nichts dich erweichen? – Dich nichts versöhnen? – Wohl![83]

Wohl! – So nimm auch das lezte, was mir übrig ist – mein Leben! – Nimm auch mein Leben!

Ach! –

Ach, wohin verleitet mich mein Schmerz? –

Ich Unbesonnene! bin ich nicht Mutter? Mutter von den Söhnen meines Athamas? –

Verzeiht, ihr Unglükkseligen, verzeiht dem übereilten Wunsche den Kummer und Verzweiflung erzeugten! –

Verzeiht! –

Verzeiht, ihr Unglükkseligen! –

Ich muß leben – für euch leden!

Ha! was ist das? –

Welch Geräusch?

Rief man nicht meinen Namen? –

Götter! – Hätte Rephele meinen Aufenthalt entdekkt! – Die Diener ihrer Rache entbothen!

Sie horcht.


Furcht und Angst täuschen mich!

[84] Unter der Musik.


Hier in der Eindde, im Innersten der Felsen – welcher Sterbliche würde es wagen? –

Trügen mich meine Sinne? –

Die Stimme des Athamas? –

Des Athamas? – Sie ists! –

Was führt ihn bieher? –

Welche Absicht? –

Grausamer! – Kommst du meines Jammers zu spotten? –

Mich dem Blutdurst meiner Nebenbuhlerinn aufzuopfern? –

Er kömmt näher; –

Er dringt durch das Gebüsch. – Ich muß mich verbergen! –

Führte Reue ihn zurükk: – Götter! – wie gern wollt' ich ihm verzeihn! –

Geht ab.
[85]


Quelle:
Johann Friedrich Reichardt: Ino, in: Melodramen, Nr. 4, Pilsen 1791, S. 75–107, S. 81-86.
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