LXXXVI.

[165] Wer meint, daß Gott nicht strafend dräut,

Weil er oft zögert lange Zeit,

Den trifft der Donner oft noch heut.


Christus mit dem Reichsapfel in der Hand, durch eine offene Gegend dahinwandelnd, wird von einem Narren am Barte gezupft, doch zucken aus dem Himmel schon Donnerkeile und Blitzstrahlen auf den Vermessenen hernieder.


Von Verachtung Gottes.

Ein Narr ist, wer Gott achtet nicht

Und Tag und Nacht ihm widerficht

Und meint, er sei den Menschen gleich,

Daß er sich spotten lass' und schweig'.

Denn Mancher fest und sicher glaubt,

Wenn ihn der Blitzstrahl nicht beraubt

Des Hauses gleich und schlägt ihn todt,

Wenn er den Nächsten bracht' in Noth,

Und wenn er nicht stirbt jähelich,

– Er brauch' nicht mehr zu fürchten sich,

Denn Gott hab' sein vergessen doch

Und warte lange Jahre noch

Und werd' ihm dazu lohnen auch.

Damit versündigt sich manch Gauch,

Der in der Sünde recht verharrt;

Darum, daß Gott sein etwa spart,

Denkt er zu raufen ihm den Bart,

Als ob er mit ihm scherzen wolle

Und Gott vertragen solches solle.

Hör' zu, o Thor; werd' weise, Narr!

Versäum' dich nicht, nicht länger harr'!

Es trägt fürwahr ein grausam Band,

Der, welcher Gott fällt in die Hand,

Denn ob er auch dich lange schont,

So wird dir schließlich doch gelohnt.

Manchen läßt sündigen Gott der Herr,

Daß er ihn strafe desto mehr[166]

Und heim ihn suche auf einmal;

– Man spricht, das mach' den Säckel kahl.

Mancher, der stirbt in Sünden klein,

Dem thut Gott solche Gnade drinnen,

Daß er ihn zeitlich nimmt von hinnen,

Damit er nicht viel Sünd' auflade

Und größer werd' der Seelen Schade.

Gott will den Reuigen erweisen

Barmherzigkeit, wie er verheißen;

Doch keinem Sünder er verhieß,

Daß er ihn so lang leben ließ',

Bis ihn die Besserung überkäme

Und er zum Guten sich bequeme.

Gott gäb' wol Manchem Gnade heut,

Dem morgen er mit Zorne dräut.

Ezechias von Gott erwarb,

Daß er am Ziele doch nicht starb,

Sondern noch fünfzehn Jahre weilte,

Dagegen Belsazar der Tod ereilte.

Die Hand von aller Freud' ihn trieb,

Die Mene tekel upharsin schrieb;

Er war zu leicht nach dem Gewicht,

Drum ward entzogen ihm sein Licht;

Er merkte nicht, wie sein Vater war

Durch Gott gestraft vor manchem Jahr

Und sich zur Buß' und Besserung kehrte,

Darum der Herr ihn auch erhörte,

Daß er in Viehes Gestalt nicht starb,

Sondern durch Reue sich Frist erwarb.

Der Sünden wie der Jahre Zahl

Ist Jedem festgesetzt zumal

Und wer in Eile sündigt viel,

Eilt nur damit zum letzten Ziel.

Viel sind schon dieses Jahr gestorben,

Die, hätten Besserung sie erworben,

Ihr Stundenglas gedreht bei Zeit,[167]

So daß der Sand nicht abgelaufen,

Wol ohne Zweifel lebten heut.

Quelle:
Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Leipzig [1877], S. 165-168.
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Das Narrenschiff (Ausgabe 1877)
Das Narrenschiff
Das Narrenschiff: Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494
Das Narrenschiff
Das Narrenschiff: Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben (Neudrucke Deutscher Literaturwerke)
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