[Das Seelchen auf der Heide]

[611] Das Seelchen auf der Heide

Hat nicht genug zum Kleide

Und friert durch Mark und Bein;

Ich hab in heißer Sonnen

Mein Leben aufgesponnen

Zu einem Faden fein,

Den hab ich treu gewebet,

Mein Schifflein ist geschwebet

In stäter Not und Pein.

Mit Tränen ich's erweichte,

Mit Tränen ich es bleichte

In Mond und Sternenschein.

Todwund lag ich zum Sterben,

Der Seele Kleid zu färben

Mit roter Farbe Schein.

Ich trug es ohn Verweilen

Hin viele, viele Meilen,[611]

Da war mein Tuch zu klein,

Das Seelchen zu bedecken,

Da zuckt an allen Ecken

Heraus das Flämmelein,

Und irret auf der Heide,

Mein Zeug reicht nicht zum Kleide

Dem Feuer-Lämmelein.

Da drüben die Gesellen,

Die schleudern tausend Ellen

Rot Zeug zur Nacht hinein;

Die Fackeln und Schalmeien,

Sie brennen, reißen, schreien

Mir tief durch Mark und Bein.

Weh, Weh tut das Verschwenden,

Mit Not mußt' ich vollenden

Mein Tuch – nun ist's zu klein.

Das Seelchen springet trunken

Von Tönen, Farben, Funken,

Zur roten Lust hinein.

Wenn Tön' und Farben starben,

Kömmt Nacht und bittres Darben,

Arm, bloß, allein; allein!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 611-612.
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