[Es war ein frommer Ordensmann]

[522] Es war ein frommer Ordensmann

Gar treu in allen Dingen

Der Mutter Gottes zugetan,

Im Beten und im Singen[522]

In aller Rede fort und fort,

War stets sein erst und letztes Wort:

Gegrüßt seist du Maria!


Gar lieb war ihm ein Vögelein,

Das jung ihm zugeflogen,

Und er im kleinen Körbelein

Gelehrt und aufgezogen

Und lieblich sang es früh und spat

Wie es von ihm gehöret hat:

Gegrüßt seist du Maria!


Nun war das kleine Körbelein

Baufällig und zerbrochen,

Da ist das kluge Vögelein

Zuletzt herausgekrochen,

Und als es in die Freiheit kam,

Fieng fröhlich es zu singen an:

Gegrüßt seist du Maria!


Der fromme Mann dem Vögelein

Ist lange nachgegangen

Und hielt ihm dar das Körbelein,

Es wieder einzufangen.

Doch dies von Baum zu Baum sich schwang

Und immerfort sein Liedlein sang:

Gegrüßt seist du Maria!


Das Vöglein einst auf dürrem Zweig

Sich wollt' sein Nestchen bauen

Da stürzt' auf es ein Geier gleich,

Trug's fort in seinen Klauen,

Da schrie das kleine Vögelein

Wohl in den höchsten Nöten sein:

Gegrüßt seist du Maria!


Da kam ein Blitz in höchster Not

Aus hellem Himmel nieder,

Und schlug den bösen Geier tot,[523]

Frei flog das Vöglein wieder,

Und zu Mariä Ehren sang

Das Vöglein mit noch hellerm Klang:

Gegrüßt seist du Maria!


Der fromme Mann im Garten stand,

Sah zu mit Angst und Bangen,

Frisch und gesund ihm auf die Hand

Flog's Vöglein, ließ sich fangen,

Heim trug er's in dem Körbelein

Und sang mit seinem Vögelein:

Gegrüßt seist du Maria!


Hat nun, o liebste Mutter mein,

Bei dir so viel erworben

Ein unvernünftig Vögelein,

Daß es nicht bös gestorben,

Wirst du mich auch verlassen nicht,

Der dich verehrt und herzlich spricht:

Gegrüßt seist du Maria!


So will ich, liebste Mutter rein,

Dich grüßen mit Vertrauen,

Daß du mich allen Feinden mein

Mögst reißen aus den Klauen.

So sing' ich dir im Tränental

Noch hundertmal und tausendmal:

Gegrüßt seist du Maria!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 522-524.
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