[Zur Stunde, die in Sehnsucht zagt]

[548] Zur Stunde, die in Sehnsucht zagt,

Dem Schiffer tief das Herz beweget

Der Freunden heut Lebwohl gesagt,

Und Liebe in dem Pilger reget,

Hört er, wie ferne Abendglockenklänge scheinen

Den Tag, den sterbenden, wehklagend zu beweinen.


Da ward mein Herz so schwer, so schwer,

Ich schiffte einsam auf den Wogen,

Da hat dein Lied vom Felsen her

Mich in die Brandung hingezogen

Sirenenkind, ich mußt' an deinen Klippen stranden

Mich lockten Flammen, die auf deinen Lippen brannten.


Ich drang zu dir, ich rang zu dir

Der Unerkannten, Tiefverwandten,

Du wichst vor mir, du schlichst zu mir

Und legtest mich gebannt in deine Banden,

Da sank dein schlummernd Haupt an meines Herzens Wunde

Und flüsterte dein heimlich Lied aus blühndem Munde.


Sirene


»Ach hätt' ich doch kein Schiff erblickt

Ach wär' ich länger einsam blieben,

Die Sehnsucht hat mir's hergeschickt,

Mein Sehnen hat mir's zugetrieben,

Die arme Liebe ruht mir selig in den Armen,

Armselige du träumst, dich wieget mein Erbarmen!


Wen ich könnt' lieben, hab' ich nicht,

Der heiß mich liebt, ist nur mein eigen,

Und meiner Liebe heimlich Licht

Kann seiner Glut nur Mitleid zeigen

Den Sternen send' ich meiner eignen Sehnsucht Qualen

Die Lichtesküsse mir zu meinen Lilien strahlen.


Ein Fruchtbaum ganz von Früchten schwer

Senkt seinen Himmel zu der Erden,[549]

Kömmt stark ein Sturm von Osten her,

Kann er nicht froh erschüttert werden

Er schüttelt ab die Früchte und die schwachen Blüten,

Und meine Träume, die mir nachts so heilig glühten.


Der heiße Tag kühlt sich am Mond

Doch Meer und Blut hat Flut und Ebbe,

Kein Friede je der Liebe lohnt

Trägt andrer Sehnsucht sie die Schleppe!

Weh! träum' ich Liebe, muß den süßen Traum ich hassen,

Denn ungeliebte Liebe kann mich nicht mehr lassen!«


Der Schiffer


So sang das Kind, ich hörte zu

Und fleh', laß dich durch mich nicht stören,

Mich singt dein Lied zur ew'gen Ruh,

Dir will ich ew'gen Frieden schwören,

Im letzten Augenblick sprichst du in Tränenbächen

Er liebte mich allein bis Herz und Augen brechen.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 548-550.
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