Abends am 27. Oktober 1817

[403] An des Hauses kleiner Türe,

Wo ich all mein Glück verliere,

Hast du lieb das Haupt gewendet,

Und so war der Tag geendet.


Alles, alles mögst du geben,

Und doch muß ich sterbend leben,

Armes Kind, du Herz der Güte

Ach zu geben nicht ermüde!


Ich will auch nicht müde werden,

Will im Grabe aus der Erden

Reine Blumen zu dir treiben,

Ach, die dürfen bei dir bleiben!


Aber ich muß heimwärts wanken

Einsam knieend, weinend danken,

Für die Freuden für die Schmerzen,

Für das Feuer auf dem Herzen.


Ach, das ich mit bittern Zähren

Einsam Tag und Nacht muß nähren

Und muß drin so ganz verbrennen,

Daß nur du mich kannst erkennen.


Wie du Tiere kennst fern irrend,

Vöglein schnell vorüber schwirrend,[403]

Blumen, Beeren in der Wildnis,

Kenn' auch mich im bleichen Bildnis.


Wenn vorbei die andern gehen

Und so scheu nach mir hinsehen,

Wie man nach Gespenstern blicket,

Die den Grenzstein falsch gerücket,


Ach dann fliehe nicht mein Winken,

Reiche einmal mir zu trinken,

Und willst du nicht zu mir treten

Kniee, um für mich zu beten.


Wenn die andern längst mit Zagen

Den verloschnen Denkstein fragen,

Bist du auch ein Mensch gewesen,

Sollst du klar noch in mir lesen,


Daß ich dich mit Schuld betrübet,

Daß ich Buße schwer geübet,

Daß, Versühnung zu erwerben,

Ich dich lieben muß zum Sterben.


Daß ich mich mit heißen Tränen

Ewiglich nach dir muß sehnen,

Läg' ich auch an deinem Herzen

Wie die Leiche zwischen Kerzen.


Weil das Gut, das ich verloren

Mir in dir ward neu geboren,

Weil mein Richter dir gegeben

Mein unschuld'ges tiefes Leben.


Daß die reine Himmelsgabe

Ewig ich vor Augen habe,

Daß das Gottesbild im Kinde

Zeige mir den Greul der Sünde.[404]


Lies auch im zerbrochnen Herzen:

Habe Dank für alle Schmerzen,

Die du für mein böses Leben

Mir zur Buße mußtest geben.


Habe Dank, du blühnde Rute,

Unter der ich still verblute,

Ich verdiente zu verderben,

An dir soll ich ehrlich sterben.


Jedem ist ein Amt verliehen,

Richter sitzen, Sünder knieen,

Und ich muß zu deinen Füßen,

Für die schweren Schulden büßen,


Gnad' ist mir für Recht ergangen,

Ich darf deine Knie umfangen,

Darf in Tränen zu dir stammlen,

Laß, o laß mich Kräfte sammlen.


Kraft den Himmel zu umarmen,

Den mit rührendem Erbarmen,

Ich in deinen Blicken fühle,

Daß ich dieses Feuer kühle.


Kraft, die Blumen all zu sehen

Die da auf und untergehen,

Wenn du deine Seele rührest,

Und mich in dein Herz einführest.


Kraft, mich über sie zu bücken

Und doch keine zu erdrücken

Tränen, alle zu erfüllen,

Ach und Nacht, mich einzuhüllen.


Eine Nacht, wo ich alleine

Um das trübe Leben weine,

Ohne Mond, ohn' Sternenschimmer

Einsam mit dem Worte: Immer!

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 403-405.
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