Ermunterung zur Kinderliebe und zum Kindersinne

[455] Wer ist ärmer als ein Kind?

An dem Scheideweg geboren,

Heut geblendet, morgen blind,

Ohne Führer geht's verloren;

Wer ist ärmer als ein Kind?

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Welch Geheimnis ist ein Kind?

Gott ist auch ein Kind gewesen;

Weil wir Gottes Kinder sind,

Kam ein Kind, uns zu erlösen.

Welch Geheimnis ist ein Kind?

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Die im Himmel, waren Kind,

Die auch, die der Fluch getroffen;

Ach! so such' ein Kind geschwind,[455]

Lehr' es glauben, lieben, hoffen.

Die im Himmel, waren Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Welche Würde trägt ein Kind!

Sprach das Wort doch selbst die Worte:

»Die nicht wie die Kinder sind,

Gehn nicht ein zur Himmelspforte.«

Welche Würde trägt ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


O wie heilig ist ein Kind!

Nach dem Wort von Gottes Sohne

Aller Kinder Engel sind

Wachend vor des Vaters Throne.

O wie heilig ist ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Welch ein Bote ist ein Kind!

Denn das Wort, das es erquicket,

Bis zum Himmelsgarten rinnt,

Wo das Wort ward ausgeschicket,

Welch ein Bote ist ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Willst du segnen, lehr' ein Kind!

Aus dem Körnlein werden Ähren;

Wie dein Körnlein war gesinnt,

Wird einst eine Welt sich nähren.

Willst du segnen, lehr' ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


In der Krippe lag ein Kind!

Ochs und Esel es verehren.[456]

Wo ich je ein Kindlein find',

Will ich's pflegen, lieben, lehren.

In der Krippe lag ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Zu mir sendet Gott das Kind,

Das nicht weiß, was tun, was lassen;

Wie ich gebend bin gesinnt,

Wird sein Herz die Gabe fassen.

Zu mir sendet Gott das Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Keine Blume kennt das Kind!

Giftige sind meistens bunter;

Wenn es Lust am Bunten findt,

Ißt's die Frucht und gehet unter.

Keine Blume kennt das Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


O was soll ein schwaches Kind!

Höll' und Himmel stehen offen;

Daß das Lamm dem Wolf entrinnt,

Hat es mich wohl angetroffen.

O was soll ein schwaches Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Wie so leicht lehrt sich ein Kind!

Ob zum Guten, ob zum Bösen,

Wie den Schlüssel es gewinnt,

Wird sich ihm das Rätsel lösen.

Wie so leicht lehrt sich ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden![457]


Wie gar fleißig ist ein Kind!

So wie du es lehrest lesen,

In dem Buch, in dem wir sind,

Wird das Buch zu seinem Wesen.

Wie gar fleißig ist ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Wie gar folgsam ist ein Kind!

Daß es sich ein Krönlein winde,

Daß es selbst sich Ruten bind',

Lehrest du gewiß dem Kinde.

Wie gar folgsam ist ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Herr, wie lenk' ich dieses Kind!

An dem Faden meiner Hände

Geht es durch das Labyrinth,

Es wird wandeln wie ich's sende.

Herr, wie lenk' ich dieses Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Sei nicht bange um das Kind!

Laß es alles selbst verdienen.

Sei barmherzig, streng und lind,

Sei, wie Gott mit dir, mit ihnen.

Sei nicht bange um das Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Werden muß ich wie ein Kind,

Wenn ich will zum Vater kommen;

Kinder, Kinder! kommt geschwind,

Ich will gern sein mitgenommen.

Ich muß werden wie ein Kind!

Wer dies einmal je empfunden,

Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 455-458.
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