Antonio Firmenti an Godwis Vater

[165] Segen über Sie und das Ihrige! Sie haben mir die fröhlichste Nachricht erteilt, die ich seit zwölf Jahren erwartete. Mein Bruder, mein geliebter Franzesco lebt und ist in den Armen eines Freundes. Meine Nachfragen sind ganz Europa durchlaufen, fünf Jahre lang habe ich selbst alle große Städte durchreist, ohne eine Spur von ihm zu finden. Schon wollte ich auf die Freude Verzicht tun, ihn je wieder zu umarmen, schon löschte die Zeit sein Bild aus meinen Augen, als er mir plötzlich und unerwartet wiedergefunden ist. Die wenigen Blicke, die er Sie in sein Schicksal tun ließ, will ich Ihnen, soviel als möglich, erläutern. Seine Geisteszerrüttung, die mich so sehr schmerzt, würde es ihm ohnedies zu gefährlich machen, in der Darstellung in seine Leiden zurückzukehren. Wenden Sie alles an, ihn so viel als möglich zu zerstreuen und wieder herzustellen. Ich sende Ihnen hierbei einen Wechsel auf dreihundert Pfund Sterling; geben Sie mir von Zeit zu Zeit Nachricht von ihm, und wenn Sie mir endlich den glücklichen Punkt melden, wenn er fähig ist, die Erschütterung des Wiedersehens zu ertragen, so komme ich selbst, umarme ihn und führe ihn dem sanften Himmel seines Vaterlandes zu. Doch itzt zur Erzählung seiner Geschichte, die die Geschichte meiner ganzen Familie werden wird, die Sie ganz kennen müssen, da der Himmel Sie zu ihrem größten Wohltäter gemacht hat. Ich werde ganz aufrichtig sein, und Ihnen meine innersten Meinungen über diese Familie aufschließen.

Unser Vater war ein redlicher, kluger und reicher Mann, doch alles dieses aus kaufmännischen Gesichtspunkten betrachtet. Redlich, ohne doch die sogenannten Handlungsvorteile zu verwerfen, klug in Spekulationen und bürgerlichen Verhältnissen; auch seine Religion war Spekulation auf den Himmel, Verhältnisse mit der Menschheit hatte er wenige, und hier waren Mönchsköpfe seine Maschinen, reich an Gütern des Lebens – Gott segne seine Asche!

Wir beide waren seine einzigen Kinder; das Taufbuch bezeugte es, sonst hätten wir es wenig erfahren, denn er war rauh und hart. Ein Glück für uns war es, daß er auch stolz war, so[165] daß er wenig mit uns sprach, und nur seine Mienen uns weh taten. Wir standen in keinem Umgange mit ihm, und sahen ihn oft wochenlang nicht, bis der Tod unsrer vortrefflichen Mutter uns plötzlich in eine engere Verbindung mit ihm brachte, die um so drückender war, da die freundliche Mittlerin nun fehlte. Sie war die Tochter eines vornehmen Römers, der wegen einiger gewagter Ausfälle auf den Nepotismus Rom verlassen und seine Güter bezogen hatte. Ihr Vater hatte sie zum geistvollen, vorurteillosen Weibe gebildet, und ihre Mutter ihr Herz und ihre Sitte zu einer Zartheit der Empfindung und einer Bescheidenheit geleitet, die sie fähig machten, den Flug ihres Geistes und die Freiheit ihres Denkens auf dem Punkte in der Erscheinung zu begrenzen, auf dem Weiber, um die Forderungen der sogenannten Weiblichkeit nicht zu übersteigen, verweilen müssen, und der in sie jenen unergründlich reizenden Hintergrund legt, der uns wie ein verborgener Schatz aus den tiefen Augen der wenigen entgegen sieht, die ihn besitzen. Mein Vater, der bei Bergwerken mehr Sinn für den Inhalt der Tiefe als bei Menschen besaß, berührte mit all seinem Geize diese Fülle nie, die sie in Liebe und inniger Teilnahme über uns ausgoß. Ihre Handlungen gingen immer mit ihren Äußerungen in gleichem Schritte; wo ihr Geist viel weiter als ihre Äußerung war, verbreitete er über diese eine helle, deutliche Allgemeinheit, so daß, indem sie das Ganze im Einzelnen äußerte, sie weder der Welt durch ihre Größe drückend, noch sich selbst ungetreu werden konnte; und wahrlich, nur der Blick nach innen, nur ihr hohes Selbstbewußtsein konnte sie für den Druck einer rauhen Umgebung, für die harte Behandlung meines Vaters und seine ungestüme Liebe zu ihr entschädigen. Ich habe sie nie gegen ihn murren hören, und zu uns, die wir ihre Freunde waren, sprach sie nie von ihm als mit allgemeinen Worten der Achtung und Pflicht.

Unsrer Mutter ging es sehr kümmerlich, sie teilte ihr kleines Taschengeld mit uns und den Armen. Mein Bruder war ihr ganz heimgefallen, mein Vater haßte ihn, indem er durch seinen allgemeinern Sinn und seinen Künstlerglauben keinen Berührungspunkt in dem engen Herzen des Kaufmanns hatte. So umfaßte die Mutter den Sohn mit doppelter Liebe, da sie[166] ihn lieben und schützen mußte, und legte in seinem Herzen dadurch den Grund zu der wunderbaren Leidenschaftlichkeit seines Gemüts, die die Wirkung des wirklichen Lebens auf ihn so rauh und schmerzlich machte. Er verließ sie selten, saß halbe Tage zu den Füßen dieser Märtyrerin, und suchte ihren stillen Kummer, den er aus Delikatesse mit Worten nicht zu zerstreuen wagte, mit Singen, Vorlesen oder Verfertigung kleiner allegorischer Bilder zu zerstreuen. Seine Liebe ward immer heftiger in ihm, sie brannte eigentlich ohne Gegenstand und verzehrte ihn selbst; sein ganzes Dasein war umfassend und voll Wunsch ohne Hoffnung, so daß er ewig in sich selbst zurückkehrte, und indem er an sich selbst allein immer von neuem und neuem bestimmen mußte, ward er der unbestimmteste, undeutlichste Mensch. Meine Mutter gab sich ihm ganz mit ihrem innersten Wesen aus Mitleid hin, und er verwuchs mit seinem eignen Ursprung, aus dem er sich doch hätte entfernen und sich seinen eignen, freien Raum hätte erfüllen müssen. Bald lag keine einzige Folge mehr in seinen Gedanken noch seinen Handlungen, und wer nicht sein Bruder oder seine Mutter war, mußte über den zerstückten, seltsamen Menschen trauren. Bald bemerkte die Mutter selbst diese leidenschaftliche Liebe in ihm mit Angst, und fühlte nur zu sehr, daß sie ihn ganz vernichten müsse, um sich ihm zu entwinden; umso lieber ergriff sie die Gelegenheit, die sich ihr darbot, seiner Leidenschaft einen andern Gegenstand unterzuschieben. Sie nahm die Tochter einer Freundin zu sich, die ihre Ehre auf dem geradesten Wege der Natur verloren hatte. Die Mutter des Kindes verlor sich, und die Anverwandten hörten, daß sie gestorben sei. Cecilie wurde bis ins vierzehnte Jahr bei meiner Muhme in Ancona erzogen, dann nahm sie unsre Mutter zu sich, voll Freude, ein weibliches Wesen um sich zu haben, die Jugend, diese verlorne einzige glückliche Zeit ihres Lebens, noch einmal in einem zarten Herzen zu sehen, und sich gleichsam in diesem Spiegel nochmals unter Sonne und Liebe zu entwickeln. – Mein Vater fragte öfters bitter, wo denn das Kind herkomme? und da meine Mutter antwortete: »Von der Unschuld und Armut« so fragte er: »Was soll aus ihr werden?« – »Meine Tochter«, antwortete die Mutter. »So!« sagte er bitter, »ich werde nie Ihre[167] Kinder anerkennen, die nicht die meinigen sind,« und verließ uns.

Cecilie war nun die stete Gesellschafterin Franzescos und der Mutter, die mit Freude bemerkte, wie diese beiden sich immer näher und näher kamen, und endlich sich ganz durchdrangen.

Ich brachte den größten Teil des Tages in kaufmännischen Geschäften zu, und machte nebenher kleine Spekulationen zum besten Ceciliens, der ich für den Fall der Not einen heimlichen Schatz sammelte, denn ich liebte sie herzlich, und wußte, daß der Vater ihr nichts geben würde, die Mutter nicht könne und mein Bruder viel zu sehr aus ihren Augen getrunken hatte, um nur den Gedanken an Ernähren möglich werden zu lassen. Meine Mutter begünstigte Franzescos Leidenschaft auf alle Weise, um sich mit ihm selbst wieder in das Verhältnis kindlicher und mütterlicher Liebe gesetzt zu sehen, denn sie hatte sicher erfahren, daß Franzesco von dem freisten, allgemeinsten Geiste der Liebe beseelt war, und keine gefesselte Unterabteilung ihn zu beschränken vermochte.

Ich sah Cecilien selten, ja es gab eine Epoche, in der ich sie sorgfältig vermied, denn ich liebte sie; und warum soll ich es nicht gestehen, da alle diese Lieben nicht mehr sind? Ich fand einen großen Genuß darin, meinem Bruder ein stilles Opfer mit dieser Leidenschaft zu bringen. Franzesco hatte sich der Malerkunst gewidmet, und würde es weit gebracht haben, hätte seine Schwärmerei, sein nicht ganz heitrer Blick in die Zukunft und sein durch den Umgang mit den zwei einzigen Weibern tief, aber einseitig bestimmter Umgang seiner Phantasie kühnere Bilder gereicht. Sein ganzer Stoff lag in ihm und seinem kleinen Zirkel. Er konnte nur stille, zarte und leidende Gestalten bilden, und das Höchste war so ewig über seiner Grenze; er fühlte das innerlich, doch wußte er es nicht, und siechte, wie jede volle Seele leise hinwelkt, die von der Vollendung zurückgehalten ist. Es lag in allen seinen Bildern eine geheime Sehnsucht nach irgend einem andern Gegenstande, und es war mir oft vor ihnen, als sagten sie mit dunkeln unverständlichen Worten: »Wir sind die wahren nicht«; sie schienen ewig zu entfliehen, um höhern Wesen die Stelle zu räumen, oder standen ängstlich da, als ständen sie nicht an der rechten Stelle. In Blumen, Stilleben[168] hatte er es weit gebracht, und in seinen Arabesken lag sehr viel Harmonie und Musik. Cecilie, welche eine sehr geschickte Stickerin war, hatte ihn zu diesem Teile der Kunst besonders gestimmt. So lebten wir drei Jahre lang in einem zarten Wechsel von Arbeit und traulicher Erholung in unserm kleinen Zirkel, der heilige Stunden umfaßte, Stunden, die mir mit seiner Zerstörung nimmer wiederkehrten.

Der traurige Zeitpunkt trat ein, in dem der innere Harm meiner Mutter ihren Körper besiegte. Sie bekam heftige Krämpfe auf der Brust. Cecilie und Franzesco verließen ihr Lager nicht, sie teilten den kostbaren Schatz ihrer letzten Augenblicke, und wenn ich einige Minuten von den Geschäften loskommen konnte, so trat ich zu ihnen, und wir alle hörten die Lehren und den Trost unsers sterbenden Glücks. Die fürchterliche Stunde kam heran, der Vater wagte es nicht, sich dem Krankenbette zu nahen, er reiste weg, ohne jemand zu hinterlassen, wohin. Vor ihrem Tode hatte jeder von uns dreien eine besondere Unterredung mit ihr. Ich war der letzte, sie starb in meinen Armen, mit den Worten: »Antonio! du bist der stärkste, nimm dich Ceciliens und deines unglücklichen Bruders an.« Die Zerrüttung war fürchterlich unter uns; von dem Sterbebette mußte ich auf die Schreibestube, der Vater war weg, Franzesco war in Wahnsinn verfallen, und Cecilie stumm und ohne Bewegung, nur dann und wann löste sich die Wut ihres Schmerzes in einem heftigen Schrei, der das ganze Haus durchschallte, und unter allem diesen Jammer arbeitete ich des Tags und wachte die Nacht bei den zwei Leidenden. Da Cecilie wieder etwas besser war, ließ ich sie in ein Kloster bringen, in dem eine Freundin unsrer Mutter Äbtissin war, weil sie ihren Kummer dort ruhiger zerstreuen konnte, bis ich mit meinem Vater weitere Maßregeln mit ihr ergreifen konnte. In Franzesco kehrte mit seinem Verstand auch seine Liebe zurück, und ich konnte ihn nur mit der Vorstellung über Ceciliens Abwesenheit beruhigen, daß ich sie meinem Vater und seinem Verdrusse hätte entziehen wollen.

Der Vater kehrte zurück und mit ihm seine Strenge. Er billigte mein Verfahren mit Cecilien, doch wohl nicht aus der Ursache, die mich bewogen hatte. Franzesco und ich besuchten[169] sie öfters, und unsre Zuneigung zu diesem lieben Wesen ward um so heftiger, als sie uns durch den Verlust der Mutter einziger und unentbehrlicher geworden war. Mein Vater war einst nach Tische vorzüglich guter Laune, und einige Mönche, die ihm und seinem Weine Gesellschaft leisteten, nicht minder. Er äußerte sich, er werde Cecilien eine Nonne werden lassen, und verbot uns daher für die Zukunft, sie zu besuchen, weil wir beide zu weltlich gesinnt wären. Meine Bitten rührten ihn nicht, und den schrecklichen Blick Franzescos, der in seiner Gegenwart immer stumm war, verstand er nicht. Sie ward hierauf in ein anderes Kloster gebracht, und wir konnten sie nicht mehr sehen.

Franzesco hatte nun alles verloren, was ihn ans Leben fesselte, er brachte den ganzen Tag auf einsamen Spaziergängen zu, und ängstigte mich mit seinem heimlichen, stillen Betragen sehr.

Eines Abends kam er in die Stube meines Vaters, seine Erscheinung war mir ungewöhnlich kräftig, er ging auf mich zu, umarmte mich heftig und trat dann vor den Vater mit den Worten:

»Vater? wo ist Cecilie?«

»Sie ist im Kloster«, erwiderte dieser unwillig, »und wird die künftige Woche eingekleidet werden.«

»Sie wird nicht eingekleidet,« erwiderte Franzesco, »denn sie liebt mich und ich sie; sie ist meine Braut, und ich werde ihr Gatte sein.«

»Sie ist die Braut des Himmels, Bube!« brach mein Vater im Zorne aus: »denke, wie du leben kannst; reiche ich dir nicht schon zwanzig Jahre Almosen, Ketzer! An ein Weib denke nicht, denke an Brot.«

Franzesco erbebte im Innersten, fürchterlich stand er da, wie ein Mensch, der sich von der Natur losreißt, die Bande des Blutes rissen tief in seiner Seele; ich faßte ihn in meine Arme, damit er seinem Vater nicht lästern möge, und er rief mit Wut folgende Worte: »Gerechter Himmel! Gott und meine Mutter seien meine Zeugen, ich will mich nähren und sie, und kein Bissen mehr von deinem Tische! Große ungeheure Schuld über mir, ich muß dir alles wiedergeben, was du mir gabst, und[170] habe gegen meinen Vater mich empört.« Ich führte ihn nach seiner Stube, er stand starr und stumm, sein Blick wurzelte in den Boden, da floß ein Strom von bittern Tränen über seine Wangen, er umklammerte mich fest – ach! ich wußte nicht, daß dies der letzte Rest meiner Freude war, die ich zum letztenmale umarmte. – Er bat mich, ihn allein zu lassen; ich hörte ihn noch lange über mir mit schnellen Schritten auf und abgehen, bis ich einschlummerte.

Der folgende Tag erschien, ich eilte auf seine Stube und fand ihn nicht mehr. Ein Brief lag auf dem Tische:

»Antonio! o könnte ich neben dir stehen und dich trösten! Lebe wohl! ich gehe zu sterben, oder fliehe mit ihr; zeige meine Flucht nicht an, bis sie sich selbst kundtut, denn wahrlich, ich töte mich und sie, wenn man uns ergreift. Die Gewalt ist schrecklich in mir erstanden, ich habe zwei Wesen dem Schicksal entrissen, und trage sie mit Macht zu ihrem Ziel. Lebe wohl! du Teurer, in einigen Monaten sollst du wissen, wo ich bin. Die Träne, die auf dies Blatt fällt, gehört dir und dem Grabe meiner Mutter. Lebe wohl!«

O Franzesco, sie war heiß die Träne, die du mir weintest, denn alle meine Freuden, mein ganzes Leben ist in ihr versiegt. Mein Vater erfuhr die Flucht meines Bruders, und die Entführung Ceciliens. Die Sache machte ein ungeheures Aufsehen, denn eine Nonne zu entführen, heißt ein Ehebruch im Bette des Himmels. Man setzte ihnen von allen Seiten nach, doch vergebens. Mein Vater enterbte ihn, und er ward mit Cecilien in den Kirchenbann getan. Einige Monate lang zeigte man mit Fingern auf mich, als den Bruder des Verbrechers; von allen Kanzeln hörte ich die Namen meiner teuersten Freunde unter den schimpflichsten Benennungen ablesen, und wenn ich in die Kirche ging, um am Grabe meiner Mutter für ihre Kinder zu beten, so mußte ich erst den Bannfluch über sie an der Türe angeschlagen sehen. So sehr mir auch von jeher diese Machtsprüche der Kirche in weltlichen Dingen, und überhaupt alle grobe Versinnlichung von Dingen des tiefsten Gefühls, erbärmlich schienen, so machte es doch mechanisch den fürchterlichsten Eindruck auf mich; so wie uns immer schaudert, wenn wir etwas Ungewöhnliches sehen, ohne daß wir deswegen an Geister[171] zu glauben brauchen. Ich hatte nun keinen Menschen mehr, dem ich mich offenbaren konnte, und mußte dabei den ganzen Tag dem Feinde meiner verlornen Freunde gegenüber die trockensten und langweiligsten Arbeiten verrichten. Allein das Maß war noch nicht gefüllt: ich erhielt einen Brief von Franzesco ohne Datum und Ort, er war ein Bild des Wahnsinns, der Tod Ceciliens und verwirrte Ideen von Selbstmord waren die einzigen lichten Stellen. Mein Schmerz war grenzenlos, alle Hoffnung war gebrochen, ich unterlag, eine Sinnenermattung warf mich nieder, ich konnte nicht außer dem Bette sein. Bei allem dem mußte ich arbeiten, mein Vater brachte mir die Briefe ans Bette, die ich beantworten mußte. Ihn selbst schien in dieser Zeit etwas ganz eignes zu rühren. Eines Tages war ich matter als je, einige Arbeiten hatten meine letzten Kräfte er schöpft, die Gegenstände verschwanden um mich, und ich starrte träumend vor mich hin, bis ich einschlief. Da ich wieder erwachte, war es Nacht, der Mond schien in die Stube und erleuchtete eine Statue der heiligen Marie, die zu den Füßen meines Bettes in einem Glasschranke stand. Der goldne Mantel des Bildes glänzte schön, und die Glorie leuchtete wunderbar heilig um das liebliche süße Angesicht der Mutter. Ich glaubte, Cecilie stehe vor mir, ich war ganz in die Anschauung der Erscheinung zerflossen, und fühlte sie in und außer mir; so schlummerte ich wieder ein, und auf einem seligen Traume schwebte das Bild in meinen Schlaf hinüber, und bewegte sich lebendig mit himmlischer Grazie in meinen trunknen Sinnen. Es war mir, als bräche sich des Bildes Schein in drei großen Spiegeln in mir, und Franzesco, Cecilie und die Mutter lebten in mir; dann hörte ich eine rauhe Stimme, Pietro, mein Vater, stand vor meinem Bette, mit einem Lichte in der Hand, er sprach: »Antonio, ich verreise, in vierzehn Tagen kehre ich zurück, dann sollst du angenehmere Tage haben, jetzt arbeite fleißig.«

Ich stellte ihm vor, er möge bis zu meiner Genesung bleiben. Allein dazu war er nicht zu bereden. Er befahl und reiste. Nach einigen Tagen konnte ich wieder auf sein. Der vierzehnte Tag erschien, es kamen einige Neapolitanische Offiziere zu mir und fragten nach der Signora Fiormenti. »Die ist schon längst tot«, erwiderte ich. »Nein, nach der jetzigen Gemahlin Fiormentis[172] fragen wir; sollte er noch nicht angekommen sein?« – »Ich kenne sie nicht,« erwiderte ich stammelnd, und bat die Herren, mich zu verlassen. Also eine neue Mutter erwartete ich. Ich fand die Sache mit Vorteil verbunden, denn so wurde mein Vater doch beschäftiget; und mußte nicht jedes Weib besser sein als er, schon weil sie ein Weib war? Der Gedanke, an ihr ein Organ zu finden, durch das ich zu ihm sprechen könnte, tröstete mich. Den Mangel des Zutrauens zu mir, der in der Verheimlichung der Sache lag, war ich gewohnt, und harrte mit einiger Neugierde auf die Weiblichkeit meiner neuen Hausgenossin.

Der Abend kam, mein Vater stieg aus dem Wagen, aber es war kein Weib bei ihm. Ich wagte ihn nicht zu fragen. Er ging auf seine Stube und schrieb, dann verließ er das Haus um die zehnte Stunde. Ich hüllte mich in meinen Mantel und folgte ihm. In einem entlegenen Teile der Stadt trat er in ein Haus, dessen Fenster festlich erleuchtet waren, und aus dem mir das Getümmel muntrer Gäste und der Klang fröhlicher Musik entgegenschallte. Ich stellte mich dem Hause gegenüber an eine Gartenmauer, und lauschte ängstlich auf jede weibliche Stimme, um in ihr die Stimme der Braut zu bemerken. Ich war plötzlich von einer tiefen Teilnahme für sie ergriffen, ohne sie zu kennen. Ihr Schicksal rührte mich. Als ich so stand und lauschte, ertönte die Betglocke der Nonnen hinter mir, die mich tief erschütterte; ich hatte so oft dies Glöckchen in schlaflosen Nächten mit zärtlichen Wünschen für Cecilien gehört, es war mir eine Sprache aus untergegangenen Zeiten, die schrecklich an ein verlornes Leben mahnte. Gleich neben mir flüsterte die Laube, aus der sie sich in Franzescos Arme herabgelassen hatte, flüsterte die grüne Halle lebendig, aus der sie in ihr Grab gestiegen war. Von allen Seiten umgaben mich Bilder des Schmerzes. Ich hörte die Pappeln von dem Kirchhofe der Mutter herüberrauschen, und vor mir den hellen Jubel einer unsinnigen Verbindung. Der nächtliche Wind spielte in meinem Mantel, ich verbarg das Gesicht und weinte. Die Musik verstummte und die Gäste verließen das Haus, meinen Vater allein hatte ich nicht herausgehen sehen. Die Braut öffnete ein Fenster, und ich bemerkte an dem Schnupftuche, das sie vor die Augen hielt, und den[173] Worten meines Vaters: »O liebe Julie, Sie weinen an dem freudigsten Tage meines Lebens!« daß sie ebenso gestimmt war wie ich. Sie sprach wenig, aber ihre Stimme war sanft und lieblich, und ihre Worte voll tiefen Gefühls. Die Reden meines Vaters standen mit den ihrigen in einem widrigen Mißton, und in ihren Antworten lag für mich ein Stolz, der sich aus Überzeugung opfert. Sie sagte viel über das Kloster, und bat dann meinen Vater zu schweigen, damit sie dem Gesange der Nonnen zuhören könne. Dann beurlaubte sie meinen Vater, der sie mit Zärtlichkeiten überhäufte, und ich trat in einen Winkel, um ihn vorüberzulassen.

Ich wollte schon eilen, um auf einem anderen Wege vor Pietro nach Hause zu kommen, als mich die Töne einer Laute zurückhielten, an die sich eine süße Stimme schloß. Es war mir, als hörte ich Cecilien singen, es war ganz ihre Stimme. Ich kehrte zurück, und es war Julie, die sang:


So bricht das Herz, so muß ich ewig weinen,

So tret ich wankend auf die neue Bahn,

Und in dem ersten Schritte schon erscheinen

Die Hoffnungen, der Lohn ein leerer Wahn.

Mit Pflichten soll ich Liebe binden,

Die Liebe von der Pflicht getrennt;

Und frohe Kränze soll ich winden,

Die keine Blume kennt.


Der erste Blick muß schon in Tränen schwimmen,

Mir gegenüber steht das stille Haus,

Der Orgelton schwillt bang um helle Stimmen,

Die blassen Kerzen löschen einsam aus.

Ihr Stimmlein kann ich nicht erlauschen,

In Gottes Hand erlosch ihr Licht,

Und aus der schlanken Pappeln Rauschen

Die stumme Freundin spricht.


Eine Menge Lichter, die sich die Straße herauf bewegten, und einzelne Töne, wie von getragenen Saiten-Instrumenten, unterbrachen dies Lied, das mich durch seine dunkeln Andeutungen tief gerührt hatte. Die Musikanten näherten sich, und ich bemerkte Pietro unter ihnen, zweifelte also nicht, daß es[174] eine Galanterie meines Vaters gegen seine Braut sei. Der Kreis ordnete sich unter den Fenstern Juliens, die, als sie es bemerkte, das Licht ausgelöscht und die Fenster zugemacht hatte. Ich war begierig, wie mein Vater in der Musik gewählt habe, die er seiner Geliebten brachte; aber wirklich, er übertraf alle meine Erwartung, als er nach einer rührenden Symphonie selbst eine Arie sang, und zwar:


I miei pensieri,

Corrieri fedeli

Ihr, meine Gedanken,

Lauft eiligst, geschwind,

Correte, volate

E passion portate

Verehret die Dame,

Die mich hat entzündt etc.


Ich konnte nicht länger bleiben, ein tiefer Unmut bemeisterte sich meiner bei dem Gesange Pietros, und ich ging mit dem Gedanken nach Hause, daß der Verbindung der Liebe und des Alters keine Grazie beiwohne.

Den folgenden Mittag war bei Tische der Platz meiner verstorbenen Mutter wieder besetzt, und mit einem, wo nicht so feinen, doch ebenso freundlichen Wesen. Mein Vater war heftig fröhlich und zärtlich, Julie in einer wehmütigen Verlegenheit, und da ich einmal ihren Blick überraschte, der lange auf mir verweilt zu haben schien, überflog eine sanfte Röte ihr Gesicht und drang eine Träne in ihr Auge. Ich dankte dem Himmel, daß sie in die Familie getreten war, die seit dem Verluste Ceciliens und Franzescos einer Einöde glich. So wandelte doch wieder ein sanftes, weibliches Bild wie ein guter Geist durch das stille Haus, das sonst einen ganzen Himmel umfaßt hatte; so konnte sich mein innerer Kummer doch wieder in der schönen Entsagung einer Mitleidenden erheben. Ich ging öfters durch alle Gänge des Hauses, nur um sie zu finden, und so oft sie mir begegnete, überraschte sie mich mit einem süßen Schrecken, Cecilie oder die Mutter schien mir entgegenzukommen; durch ihre Schritte über die gewohnten Wege dieser Verlornen, indem sie die häuslichen Verrichtungen besorgte,[175] er hielt sie über mich die Macht der sinnlichsten Erinnerung. Wenn wir uns begegneten, schienen wir beide verlegen, und dennoch schienen wir uns zu suchen.

Ich saß nachmittags in meiner Stube, und in dem Augenblicke, daß ich die Worte in mein Tagebuch schrieb: »Meine Stiefmutter ist ein gutes, sanftes Weib, das Leben hat mir durch ihre Nähe einen neuen Reiz erhalten, sie erweckt die schönste Zeit meines Lebens, indem sie wie ein guter Geist auf den Wegen geht, die einst Cecilie und die Mutter gingen«, pochte es leise an der Türe, und Julie trat zu mir herein. Sie bat mich, ihren Besuch zu entschuldigen, und er schien ihr eine kleine Überwindung gekostet zu haben; sie setzte sich zu mir auf das Sopha und redete mich mit schüchterner Stimme an:

»Signor Antonio, wir wohnen unter einem Dache und, ich glaube, uns näher, als es scheint. Ich habe schon lange auf den Zufall gehofft, der uns bewegen könnte, uns diese Nähe zu erklären; ich habe nicht länger darauf warten können, umso mehr, da ich bemerkte, daß Sie mir wohlwollen, und daß es nur der Zufall ist, der uns bis jetzt von einander entfernt hielt.« – »Signora,« erwiderte ich, »Sie sind gütig, und es tut mir wohl, daß Sie den Schritt tun, den ich allein verzögerte, weil ich Ihre Gesinnungen gegen mich nicht kannte.« – Hier schwieg sie, ihr Blick verweilte mit Rührung auf dem Gemälde meiner Mutter. Es war allein in meiner Stube, denn Pietro hatte es seit seiner zweiten Verbindung aus allen Gemächern, in die er treten konnte, verbannt. Es schien ein tiefer Schmerz in ihr zu erwachen, und helle Tränen traten in ihre glänzenden Augen.

»Kannten Sie dies Weib?« sprach ich ernst.

»O, ich kannte sie, ich liebte sie, sie war meine Freundin, meine Wohltäterin«, erwiderte sie in einer schönen Leidenschaftlichkeit des Schmerzes. Ich staunte, und sah gespannt einer Auflösung von vielen Rätseln und Ahndungen entgegen.

»Sie sind ihr Sohn,« fuhr sie fort, »und mein Freund in dem Grade, als wir uns gegenseitig in der Liebe zu Ihrer Mutter begegnen.« Hier reichte sie mir ihre Hand mit unendlicher Anmut, und ich erkannte in ihrer Würde die Freundin meiner Mutter.

»Signora!« erwiderte ich, »Sie sind die Freundin dieses Weibes[176] gewesen, Sie haben die Stelle gekannt, auf der jene untergegangen ist, und konnten die nämliche Stelle betreten; wissen Sie, was Sie taten?«

»Es war mein Wille,« sprach sie stark, aber ihre Stimme sank bei den Worten, »da zu leben, da unterzugehen, wo meine Cecilie, meine Tochter –«

»Cecilie Ihre Tochter« – rief ich aus, und lag in ihren Armen – »so sind Sie dann auch meine Mutter!« Sie zog sich zurück und sprach ruhig: »Fassen Sie sich; ja, ich bin Ceciliens Mutter, ich will Ihnen alles erklären.« –

Verzeihen Sie, wenn ich hier meiner Stiefmutter etwas in die Rede falle, um Sie um Ihre Verzeihung zu bitten, daß mich die Freude meines wiedergefundenen Bruders so gesprächig macht. Es ist eine innerliche Gewalt, die mich zwingt, Ihnen alles zu erzählen; es ist mir, als hätten Sie mich gefragt, als wären Sie ein Glied meiner Familie, das, ganz von ihr getrennt, jetzt erst von ihrer Geschichte unterrichtet werden müßte. Sie müssen es auch dem Nationalcharakter des Italieners zugute halten, den die Freude allein aufschließen kann. – Sie werden meinem Bruder dann und wann wie ein Arzt etwas von diesen Begebenheiten hinreichen, um ihn zu der großen Überraschung vorzubereiten, die ihn erwartet. Ich kehre nun zu meiner Geschichte zurück. Julie sprach mit ruhiger, gelassener Stimme:

»Ja, Cecilie ist meine Tochter, ihr Vater war mein Gatte nicht, sie hatte einen kühnen Schritt getan, auf die Welt zu treten, auf der sie nur das beleidigte Gesetz erwartete. Meine Eltern lebten nicht mehr; der Mann, der mich zur Mutter gemacht hatte, wurde von meinen Verwandten ermordet; ich, eine arme Waise, ward einer Waise Mutter. Ich hatte nichts als meine Schande, und wäre gewiß dem Hohne und der Rachsucht meiner Verwandten ein Opfer geworden, wie sie auch noch bis jetzt glauben, hätte Ihre Mutter, die meine Milchschwester und lange Zeit meine Gespielin war, nicht mich und mein armes Kind gerettet.

Den täglichen Kränkungen meiner Verwandten ausgesetzt, konnte ich es nicht länger ertragen, mein Kind, das Einzige, was ich auf Erden hatte, mit Verachtung behandeln zu sehen, und ich entschloß mich daher, eher mit ihm zu verhungern, ja[177] lieber zu betteln, als länger in dem Hause einer alten Muhme zu bleiben, bei der ich lebte, und mit der niedrigsten Arbeit ein Leben voll Undank und Spott verdiente. Eine alte Frau, die meine Amme gewesen war, die mich sehr liebte und mir bei der Geburt der unglücklichen Cecilie beigestanden hatte, machte mir den Vorschlag, zu ihr in ihre kleine Hütte zu ziehen, das Leben wollten wir schon gewinnen, meinte sie. Der Vorschlag wurde gerne von mir angenommen, ich gab der Alten mein weniges Eigentum einzeln hin, und sie schaffte es nach und nach weg, und endlich verließ ich nachts mit Cecilien auf dem Arm das Haus selbst, in dem ich alles verloren hatte. Nimmer vergesse ich die stille Mitternacht, in der ich wie eine Geächtete durch die breiten Straßen Roms, wie das Gespenst meiner gestorbenen Ehre hinschlich. Die Welt war um mich verwandelt, die Häuser, an denen ich sonst so unbefangen am hellen Mittage vorübergegangen war, rückten wie schwarze Kerkerwände gegen mich; die Bildsäulen standen kalt und streng vor mir, und sahen beleidigt auf mich herab, mein Herz bebte, Cecilie schlief in meinem Arme. Als ich an die Peterskirche kam, riß es mich unwillkürlich auf die Knie nieder, ich kniete auf den Stufen des Eingangs und betete für mein Kind. Über diese Stufen war ich zwei Jahre vorher in einer Reihe unschuldiger Mädchen, mit Blumen gekrönt, zum erstenmale an den Tisch des Herrn gegangen, und nun, wie kniete ich hier, es war, als wollte die hohe Kirche über mich hinstürzen und mich begraben. Ich betete mit Inbrunst zur heiligen Jungfrau, plötzlich hörte ich ein Geräusch innerhalb der Kirche, ich zitterte, die ungeheure Türe öffnete sich mit einem donnernden, traurigen Tone, und ich zuckte tief auf. Es war ein Mesner, er bemerkte mich nicht und ging seinen Weg fort. Cecilie war durch das Geräusch erwacht, sie weinte, ihre Stimme drang jammernd durch die Nacht, und kehrte in vielfachem Echo von den Säulen der Kirche mit tausendfach schneidenden Dolchen in mein Herz. Ich setzte mich nieder, lehnte den Kopf an die kalten Steine, und reichte meinem armen Kinde die Brust. Ich bemerkte eine Laterne, die sich gegen mich bewegte. Die Alte mußte befürchtet haben, es sei mir etwas zugestoßen, weil ich so lange ausblieb; sie suchte mich daher, und Ceciliens Stimme brachte[178] sie zu mir. Nachdem sie mich ausgeschmäht hatte, so in der Nacht dazusitzen und zärtliche Gedanken zu haben, wie sie sich ausdrückte, brachte sie mich zu sich, wo ich hierauf noch einige Monate lebte. Die Alte nährte sich von einem kleinen geistlichen Handel mit Reliquien und geweihten Wachskerzen, auch machte sie von Wachs alle Gliedmaßen des menschlichen Körpers, welche fromme Leute kauften, um sie den wundertätigen Bildern zu opfern, wenn sie an irgend einem Gliede ein Gebrechen oder böses hartnäckiges Übel hatten. Ich arbeitete fleißig mit, aber wir konnten uns doch nur kümmerlich ernähren. Mein Kummer stieg täglich und meine Gesundheit sank immer mehr, die Einsamkeit machte mich mit den fürchterlichsten Gedanken vertraut. Mein altes Mütterchen kam erst spät abends nach Hause, und ich saß den ganzen Tag verzweifelnd in einer kleinen dunkeln Stube, Cecilie lag kränklich in meinem Schoße, und das Bild ihres Vaters hing über meinem Herzen wie ein ewiger Vorwurf. So saß ich an einem von den vielen langen, langen Tagen abends ohne Licht, und wartete auf die Alte, die mir manchmal etwas aus der Stadt erzählte, wenn sie zurückkam. Heute blieb sie länger als gewöhnlich, der Mond blickte schon herein, und ich hatte Cecilien schon zum Schlafen hingelegt. Ich saß und brütete über meinem Elende, das mit helleren Farben als je vor mich trat: wenn nun die Alte stürbe, wenn sie ausbliebe, was würdest du anfangen, dachte ich, du müßtest mit deinem Kinde betteln. Dieses Gefühl durchdrang mich mit all seiner Schmach, es war mir schon, als würde die Alte nicht wiederkommen, mein Gram ließ sich nicht mehr denken, ich sank in die dunkelste, tiefste Bewußtlosigkeit meines ganzen Zustands, und es war mir, als würde mir es wohler, als mischte sich ein banger, heiliger Leichtsinn in meine Geschichte, starr und kalt standen einzelne Gedanken in meinem Kopfe, und eine Menge wunderbare nackte Gestalten gaukelten weinend und lachend mit einer fürchterlich süßen Trunkenheit vor meinen Augen. Ich riß mein Kind aus der Wiege, entkleidete es und bedeckte es mit heißen Tränen und Küssen, und alles das mit einem bangen Gefühl von Unrecht und Verbrechen. Das Kind weinte nicht, es lächelte und bewegte sich freundlich, als spielte ich mit ihm, ich zitterte dabei am ganzen Körper, und[179] mein Zustand war dem Wahnsinn nah. Ich hörte die Türe gehen und erwartete die Alte, aber es näherte sich ein fremder Schritt meiner Stube, und eine Person, in einen Mantel gehüllt, trat herein. Ich hielt sie anfangs für einen Mann und erschrak vor der Idee, es möge ein junger Wollüstling sein, der mir Hülfe um das höchste Elend bringen wollte. Ich hatte diese Erniedrigung schon einigemal ertragen. Aber ihre Stimme flößte mir Mut und Vertrauen ein, ich erkannte ein edles Weib in der Unbekannten, die mir und Cecilien helfen wollte. Sie trat an das Fenster und nahm mein Kind in die Arme, ich war wunderbar durch ihr ganzes Betragen gerührt, und als die Alte mit einem Lichte hereintrat, sanken wir uns in die Arme; es war Ihre Mutter und ich, Antonio! die sich erkannten. Sie verließ mich bald darauf, um mich völlig abzuholen. Als sie weg war, erzählte mir die Alte, warum sie so lange ausgeblieben, und wie sie die Dame gefunden habe. Sie hatte weniger als je verkauft, saß ängstlich hinter dem Tischchen mit bunten Lichtern, Rosenkränzen und Reliquien, es war schon dunkel, die Leute verließen die Vesper, und kein Mensch wollte ein Lichtchen kaufen; endlich kam noch eine Dame aus der Kirche, und als sie sie sehr dringend bat, sie möge ihr doch etwas zu verdienen geben, weil sie eine gar feine Dame mit ihrem Töchterchen, die ins Elend gekommen, zu ernähren habe, so hätte sich die fromme Frau erbarmt, hätte sie mit nach Hause genommen und wäre dann so verkleidet mit ihr hierher gegangen.

Den folgenden Morgen kam Ihre Mutter mit einem Wagen, mich aus der Wohnung der Alten abzuholen, die ich nicht ohne Tränen verließ. Emilie bezahlte sie reichlich für das Gute, das sie an mir und meinem Kinde getan hatte, und verschaffte ihr die Stelle einer Pförtnerin in einem Kloster, dem eine Freundin von ihr als Äbtissin vorstand.

Ihre edle Mutter berührte mein Unglück mit keinem Worte mehr, und begehrte keine Bedingung, als die Befolgung ihres Willens; ›denn‹, sagte sie, ›liebe Julie, du kannst in deiner Lage keinen Entschluß fassen, du bist zu sehr durch Reue zerstört, und könntest leicht eine Menschenfeindin werden, weil die andern dich für geringer halten als sich selbst, und du dich für mißhandelt.‹[180]

Sie versorgte mich mit allem Nötigen, und brachte mich in die Gesellschaft zweier Menschen, deren Gesellschaft mir eine immerwährende Darstellung der Gesetze war, die ich übertreten hatte. Vassi, ein Maler, und Bettina, eine Jüdin, liebten sich von der frühsten Jugend an, und da sie die große Trennung ihrer Religion an einer engern Verbindung verhinderte, so lebten sie schon zwanzig Jahre in der reinsten Seelenverbindung. Diesen beiden vortrefflichen Menschen ward ich zur Gesellschafterin gegeben, und sie nahmen sich meiner und Ceciliens wie Eltern an. Als Cecilie sechs Jahre alt war, kam sie nach Ancona zu Ihrer Tante, und nachher zu Ihrer vortrefflichen Mutter im vierzehnten Jahre, und jetzt – jetzt bin ich an der Stelle, wo mein Kind aufblühte, wo meine Emilie starb an der Seite ihres Sohnes, meines Freundes.« – – Da mein Vater nach dem Tode meiner Mutter, um sich zu zerstreuen, nach Rom gereist war, hatte er sie kennen gelernt, und sie gefiel ihm. Sie wußte wohl, daß sie ihm nicht sagen durfte, daß sie Ceciliens Mutter sei. Er sprach oft von dem Tode seiner Gemahlin mit ihr, und da er nicht wußte, daß sie dann um ihre größte Freundin weinte, hielt er diese Tränen bloß für eine Folge ihrer Neigung zu ihm. Dies fesselte ihn immer mehr an sie; er hatte wenig Gründe gegen den Vorschlag, ein junges Weib zu nehmen, und setzte seine Bewerbung mit ununterbrochnem Eifer fort. Julien lag in dieser Verbindung, selbst in der Unannehmlichkeit seines Alters und Charakters, ein schwärmerischer Reiz der Entsagung. Sie wußte, daß er gesagt hatte, da Emilie ihm Cecilien als ihre Tochter vorstellte, daß er ihr Vater nicht werden werde; nun konnte sie ihn zwingen, ihres Kindes Vater zu werden.

»Der Gedanke,« sagte sie zu mir, »auf die Stelle zu treten, wo meine Freundin stand, alles das zu leiden, was sie erduldet hatte, hatte einen sonderbaren Reiz für mich. Es war mir, als könnte ich mich in die Form und Gestalt eines bessern Wesens, als ich selbst war, einschleichen, um auf mich zurückschauen und meiner Gebrechen lachen zu können. Ich habe Cecilien nicht mehr gefunden, ich trete in eine aufgelöste Familie, Sie sind der einzige, letzte Zweig, der Rechte auf mich hat, so nehmen Sie denn meine heilige Versicherung, daß mein Eintritt in dieses[181] Haus keinen Zweck hat, als Ihnen ein Herz voll Dank, voll Freundschaft näherzubringen, als in diesen toten verödeten Mauren Ihnen das Leben wieder in einem zärtlichen vertrauten Umgange zu entzünden. O, wir sind leider durch die fremde Macht des gewaltigen Geschicks verbunden, alle unsre Lieben haben wir verloren, unsre Vergangenheit ist ein Grab aller unsrer Freuden der Gegenwart und der Zukunft geworden. Die Gegenwart, Antonio, sie ist zu enge, wir müssen sie zersprengen, wir müssen ineinander alle Zeit zerstören, wir müssen uns lieben. Es umschwebt uns dann das Bild der Mutter und Ceciliens, und ziehet unser Leben in leiser Sehnsucht hinüber zu sich.« – – Sie weinte, meine Arme umschlangen das edle Weib, ich glaubte meine verlornen Freuden alle wiedergefunden an mein Herz zu drücken – »O, so habe ich alles gefunden!« – rief ich aus, und mein Vater trat herein. Julie blieb ohnmächtig in meinen Armen. Der Schrecken benahm mir die Sprache, mein Vater drückte nur eine Minute den verzweifelnden Zustand seiner Seele in einem glühenden Blicke aus, und stürzte zu Boden. Wir kamen ihm zu Hülfe, aber es war zu spät, der Schlag hatte ihn gerührt. Er mußte geglaubt haben, ich sei der Verführer seines Weibes gewesen, seine Eifersucht kannte keine Grenze. Sein alter schwacher Körper konnte den Sturm des Verdachts der Wahrscheinlichkeit und der Überzeugung des unvermutetsten Betrugs nicht in derselben Minute ertragen, und unterlag.

Lange nachher noch wagten Julie und ich nicht, sich gegenseitig zu nähern, sein Tod war gleichsam zwischen unsre Umarmung gefallen, und hatte uns gewaltsam auseinander geschleudert. So unschuldig wir auch waren, so schreckte uns doch der Gedanke auseinander, daß er die Welt mit dem Verdacht der schändlichsten Verräterei von uns verließ.

Wir näherten uns furchtsam und konnten nur nach und nach die stumme Betrachtung dieses Zufalls durch Blicke und einzelne wenige Worte unterbrechen. In dieses Dunkel, das kaum zur Dämmerung übergegangen war, warfen Sie, lieber Freund! durch Ihre Nachricht von Franzescos Leben ein fröhliches, helles Licht. Verzeihen Sie daher die Unordnung und Unbestimmtheit, die diesen Brief begleiten könnte. Es ist so lange[182] her, daß ich der Freude entbehrte, daß mir wohl ihre Sprache etwas ungeläufig ward. Meinem Bruder werden ich und die Mutter seines Weibes mit offnen Armen entgegenkommen. Sein Vermögen blieb ihm unversehrt, mein Vater ist ohne Testament gestorben. Er soll kommen und mit mir teilen, was auch ihm gehört, und in Ruhe seine Tage beschließen. Ich kann kaum die Zeit erwarten, ihn an mein Herz zu schließen. Ob ich ihn wohl noch kennen werde? – Lassen Sie ihn doch malen, und schicken Sie mir sein Bild, bis ich ihn selbst mit seinem Bilde vergleichen kann, das fest, unauslöschlich in meinem Herzen steht.

Wenn Sie können, ohne ihm weh zu tun, so suchen Sie doch einiges von dem wahren Schicksale seines Weibes zu erfahren, damit ich Julien etwas über ihre Tochter sagen kann.

Leben Sie wohl, antworten Sie bald, denken Sie, daß Sie das Glück zweier Menschen dadurch vermehren, die so lange unglücklich waren, und deren besseres Geschick Ihr erster Brief begründete.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 165-183.
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