[300] Die Apotheose

Canzone


Gebet


Es ruht ein holdes Bild vor meinen Blicken

So kühn und mild verschlungen,

Wie Lieb und Lied, wie Kuß und Tod verwebet,

In Sehnsucht strebt es auf, weilt mit Entzücken,

Von Wollust ganz durchdrungen,

Des Bildes innres Heiligtum erbebet,

Still zu den Göttern schwebet.

Ich kniee an des Bildes Marmorstufen,

All meine Sinne rufen:

Gieb Liebe mir und Lied in Tod und Leben,

Laß mich mit dir zum stillen Himmel schweben!


Das Gewand


Die Jungfrau steigt von nackter Lust umflossen

Aus des Gewandes Falten,

Die halb in schöner Ungestalt herabgelassen,

Halb gierig noch, so buhlerisch ergossen,

Die üppigen Gestalten

Der Hüften ihr verräterisch umfassen,

Den holden Leib nicht lassen.

So zarte Hülle kann nur Dämmrung weben,

Will Phoebus sich erheben.

So küßt das Meer des Gottes goldne Füße,

Und fern noch glimmt die Glut der goldnen Küsse.


Violette


Ein schweres Leid strömt durch die holden Glieder,

Die Schwere kämpft mit Schweben,

Die Hüften ringen himmelan zu dringen,

Der Kopf sinkt sterbend auf den Busen nieder;[300]

Um schneller sich zu heben,

Muß sie die Rechte um den Genius schlingen.

Hoch auf des Schwanes Schwingen

Schwebt er, zur Lyra ihre Rechte strebet,

Die seine Linke hebet,

Und mächtig hebt er sie mit seiner Rechten,

Verschlungen in der losen Locken Flechten.


Der Genius


Er, der am Boden freundlich nur geschienen,

Voll Huld und milder Treue,

Schwebt ernst empor in göttlichen Gedanken,

Des Sieges Feier strahlt von seinen Mienen,

Er läßt in stiller Weihe

Sich von des armen Kindes Arm den schlanken

Geschwungnen Leib umranken,

Ihn hebt der Schwan, und um sie nicht zu lassen,

Muß er ihr Haupthaar fassen.

Des hohen Werkes heilgen Schmerz entzündet

Die Hand, die er in ihre Locken windet.


Das Ganze


Das ganze Bild, in Einigkeit verbunden,

Gleicht rührendem Gesange,

Wie heilige Gebete aufwärts dringen.

Im Herzen glühen ihm so tiefe Wunden;

Mit schmerzenvollem Drange

Muß es nach Lieb und süßen Tönen ringen,

Zu Ruhe sich zu schwingen.

So hebt es sich, so strebt es nach der Leier,

So schwebt in hoher Feier

Der Gott empor und in des Bildes Herzen

Schmiegt sich der Schwan und reiniget die Schmerzen.


O harre, hebe mich empor!

Wie es in tiefer Andacht ganz erbebt

Und zu dem Himmel strebt. –

O Götter, löst den Schmerz in süßen Tränen,

Umarmt im kühlen Flug sein heißes Sehnen![301]


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 300-302.
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