Das Treib-Eis

[469] Wer jemals einen Strom voll Treib-Eis fliessen sehn,

Mit welch gewaltig streng und dennoch stillem Drange,

In einem ungehemmt- und Wirbel-reichen Gange,

Die Fluth die Schollen führt, der muß gestehn,

Daß es den Augen Lust, dem Hertzen Schrecken,

Zugleich vermögend zu erwecken,

Indem es in der That

Was Majestätisches, was gräßlich-schönes hat.


Den Augen schwindelt recht, wenn sie ein flaches Feld,

(Wie es von weitem scheint) geborsten, sich bewegen,

Die Erde nicht mehr ruhn, den Boden selbst sich regen,

Und Felsen schwimmen sehn. Es reisst die Wasser-Welt,

In schroffen, ungeformt- und ungeheuren Stücken.

Selbst Berge mit sich fort. Ein wüstes, kaltes Grau

Deckt Wasser, Land und Strand. Berödet, wild und rauh

Ist alles, was man sieht. Der Sonne Strahlen schmücken

Doch öfters manchen Ort,

Da denn bald hier, bald dort,

Zumahl an den versteinten Wellen,

Manch schneller Blitz, manch heller Glantz erscheint,

So daß man fast nicht anders meynt,

Als wenn an unterschied'nen Stellen,

Selbst in der kalten Fluth,

Man eine bunte Gluht,

Gefärbter Flammen funckeln, sähe.


Dieß alles sah ich jüngst, und, wie ich in der Nähe

Im strengen Fluß das Eis schnell vor mir überschiessen,[470]

Und eilend, dennoch sanft, beständig vor sich fliessen

Und sich verlieren sah; kam mir

»Des Stroms nie stiller Zug und sanfte Strengigkeit,

Recht, wie der streng' und stille Lauf der Zeit,

Die Schollen, wie wir Menschen, für.«

Wir werden durch die Fluth der Zeit dahin geführet,

Und weil, das um uns ist, beständig mit uns geht;

Wird die gewaltige Bewegung nicht gespühret,

Ob gleich nicht einer stille steht.


»Gebrechlich ist das Eis; Wir auch. die Schollen werden

Zu ihrem erstem Stoff, zu Wasser; wir zu Erden.

Die wenigsten sind groß, die meisten klein;

So geht es auch mit uns. Es werden von den Grossen

Die Kleinen mitgeführt und fortgestossen;

Ist dieß der Grossen Brauch

Nicht bey den Menschen auch?«

Wenn manche Stückchen Eis, vom Sonnen-Strahl geschmückt,

Vor andern funckelten; so kommen mir

Dieselbigen in ihrer Zier

Als sloche Menschen für,

Die in der Welt vor anderen beglückt.

Es währet dieser, so wie jener Herrlichkeit,

Nur eine kurtze Zeit,

So bald sie sich ein wenig drehen,

Sieht man den hellen Glantz den Augenblick vergehen.
[471]

»Verschiedene setzen sich zuammen, und formiren,

Dem Ansehn nach, ein festes Land;

Doch wird das scheinbar-sichre Band

Die Festigkeit gar bald verlieren.«

Mit diesen kömmt ein Regiment, ein Reich,

Das aus so mancherley Gemüthern auch bestehet,

Das auch, wie starck es scheint, doch öfters bald vergehet,

In billigen Vergleich.


»Ich sah mit Lust viel kleine ruhig fliessen,

So lange sie sich nicht mit andern stiessen.

Wann aber das geschah;

Erhob sich alsobald ein Wirbel in der Fluth,

Ein fürchterlichs Gekrach,

Daß ein Stück hier, das andre dorten, brach,

Und beyde wurde von der Wuth

Erzürnter Wellen umgeschwungen,

Zuweilen auch wohl gar verschlungen.

Hieraus nahm ich mir diese Lehre,

Und dacht': Ach daß doch das auch uns ein Beyspiel wäre,

Wie nichts so sehr, als Zanck und Streit,

Die ruhige Zufriedenheit

Auf dieser Welt vermind're!«

Und alle Lust des Lebens hind're!

Dagegen, wenn man mit der Zeit

Und ihrem Strom gelassen fliesset,

Man vielerley Vergnüglichkeit,

Zu Gottes Ruhm, Der sie uns schenckt, geniesset.
[472]

»Noch ward ich einiger aufs neu gewahr,

Die (von der Sonnen Glantz bestrahlet) heiter, klar,

Und lieblich funckelten, in blauen, bald in grünen,

Und bald in röthlichen, bald gelben, Flammen schienen.

Ein jedes Stückchen Eis, ein jeder kleiner Hügel

Schien recht ein klarer Sonnen-Spiegel,

Der und bald hier, bald dort der Strahlen heitre Pracht,

So sonst nicht sichtbar, sichtbar macht.


Es prägte deren reiner Schein

Recht tief sich den Gedancken ein,

Und wünsch' ich, daß in meiner kurtzen Fahrt,

Von aller Sonnen SONN' erleuchtet und beschienen,

Ich auf dergleichen Art,

Als wie ein Licht, dem Nächsten möge dienen!«


Gib, GOTT, daß ich auf meines Lebens Wege

Im Tugend-Glantze sanft vorüber fliessen möge,

Und auf der nimmer stillen Reise

Zum seel'gen Meer der Ewigkeit,

Von aller Laster Ruß befreyt,

In reinem Wiederschein des Schöpfers Allmacht weise!


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 469-473.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irdisches Vergnügen in Gott
Irdisches Vergnügen in Gott: Erster und zweiter Teil
Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon