1126. An Nanda Keßler

[95] 1126. An Nanda Keßler


Wiedensahl 25. April 1897.


Meine liebe Nanda!

Ich danke dir für deinen freundlichen Brief vom letzten März. Obgleich er schwierig zu lesen war, ging ich doch fleißig an's Werk, indem ich bedachte, daß selbst die aßyrische Keilschrift am Ende mit Geduld und Schlauheit entziffert wurde; denn was thut man nicht für die Deutung eines Manuscriptes, von dem man ahnt, es müße der Inhalt angenehm wichtig sein. Und siehstewol! Die Mühe war nicht vergebens. Zu meiner Freude entdeckte ich, daß du völlig gesund und munter bist und daß du dich wieder auf Rad und Roß zu schwingen gedenkst und zwar viel kühner und sorgenfreier als ehedem.

In den Ferien, nehm ich an, bist du mit den Kindern in Kronberg gewesen. Hoffentlich war dort beßeres Wetter als hierzuland. Wir litten an Finger- und Nasenkälte. Der Wind ging scharf, der Regen strömte. Ich dachte an euch; doch dacht ich vor allen an enge Gaßen und dunkle Höfe, deren Bewohner mit Kind und Korb, nach dumpfiger Winterzeit, zu Ostern in's freie streben. Wohl mancher unbemittelten Tante, die nicht zu Hause blieb, ist da der neue, einzige hochgeschätzte und schwer zu ersetzende Hut verregnet.

Für mich gab's immerhin helle Minuten genug, um draußen im Garten zu sehen, was los war. Jenes jugendliche, stark drängende Wonnegefühl des aufkeimenden Frühlings hat ja das Alter nur selten noch. Dafür entschädigt man sich, so gut es geht, durch intellektuelle Ergötzlichkeiten, durch genauere Beobachtung des täglichen Wachsthums von jedwedem in seiner Art, durch das Pflanzen, Graben, Gießen, womit man sich wichtig macht und Einfluß gewinnt auf ein gutes Gedeihen, und ich darf wohl sagen, daß ich mich solchermaßen recht wohl unterhalten finde. Andre machen sich andre Pläsirchen. Gönnen wir jedem das seine.

Gehab dich wohl, liebe Nanda! Sei herzlich gegrüßt und erinnere dich zuweilen, daß es Wen giebt, der sich nennt

Onkel Wilhelm.


Über die Architektur der neuen Hühnervilla bin ich im unklaren gelaßen. Schwebt die "Brücke" in der Luft so hoch, daß man drunter durchgehen kann?

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 95.
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