1312. An Johanna Keßler

[179] 1312. An Johanna Keßler


Mechtshausen 25. Sept. 1901.


Liebste Tante!

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet zum Berge gehn – da Sie nichts von sich hören laßen, muß ich zur Ermunterung wohl einige Fragen thun. Wann sind Sie zurück gekehrt? Wie war's auf den Bergen? Ist der heimatliche Garten nicht auch recht schön? Sitzen Sie noch zuweilen im Schweizerhäuschen?

Neulich, als die Zeit, wo wir Besuche hatten, so ziemlich zu Ende war, ging ich auf vierzehn Tage nach Verden an der Aller. Bei dem Ostwind, dem Regen und der Kälte saß ich meist in der Stube, las aber derweil zwei Bücher über deutsche Hausalterthümer, so daß, wenn auch Neffe und Nichte nicht zugegen sein konnten, doch für Behagen und geistige Bildung aufs Beste gesorgt war.

Nach meiner Heimkehr sah das Wetter noch tagelang grämlich aus. Nun aber ist's herrlich geworden. Frühmorgens sind Wald und Feld und Garten in silbernen Nebel gehüllt, den dann die aufsteigende Sonne gar bald in blitzenden Thau verwandelt. An den Obstbäumen stehen die langen Leitern. Eine ungewöhnliche Menge von Äpfeln und Birnen wird heuer im Keller gelagert; andere, die abfielen, verwandeln sich in Saft und Gelee und sonst dergleichen. Die für Menschen und Schweinchen so wichtige Kartoffelerndte hat auch längst begonnen. Schon zieht der Dampf der Laubfeuer weit über die Gegend hin.

Die Hähnchen im Hühnerhof sind in Angriff genommen. Enten, Gänse und Puter reifen ihrem späteren Schicksal entgegen; denn bis jetzt sind wir leider noch Mörder und Fleischfreßer und begnügen uns mit der Hoffnung, daß dereinst in zehntausend Jahren mal beßere Menschen kommen.

Leben Sie wohl, liebste Tante. Herzliche Grüße an Sie und alle, die Ihnen angehören, von Ihrem getreuen

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 179.
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