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[194] 1358. An Johanna Keßler
Mechtshausen 8. Mai 1902.
Liebste Tante!
Ihr gutes Brieflein hab ich gestern erhalten. Kaum kann ich mich bedanken dafür, denn von lauter Bedankungsschreiben letzther sind mir die Finger fast krumm geworden. Nun, Sie wißen ja auch ohne viel Worte bescheid.
Der Frühling ist gekommen, aber er benimmt sich sehr kühl gegen uns. Es regnet und schneit durch einander. Manches, was sich zu keck herauf gewagt, läßt traurig die Ohren hängen.
Trotzalledem haben unsere Staare schon Junge. Auch sitzen im Stall zwei Puter, der eine auf Hühner-, der andre auf Enteneiern, und warten geduldig der Dinge, die kommen sollen.
Inzwischen war ich in Ebergötzen, wo ich seit 60 Jahren einen guten Freund in der Mühle habe. Das Dorf, von außen gesehn, hat sich wenig verändert; nur, die meisten alten und viele junge Leute sind weg und hinunter; der dritte Kirchhof, den ich dort kenne, wird schon zu eng.
Von Ebergötzen fuhr ich nach dem nahen Hattorf. Der Neffe Hermann nebst Frau und Kindern (Gertrud und Irmgard) wohnt gemüthlich im Pfarrhaus daselbst.
Vor acht Tagen kehrt ich nach Mechtshausen zurück. Das bekommt mir nun auch ganz schön.
Wann wird denn Ihr Schweizerhäuschen eröffnet? Wenn's geschehn ist, und wenn Sie mir einen Wink geben darüber, und wenn sonst nichts im Wege steht, dann komm ich natürlich sehr gern und hoffe, es läßt sich in Ihrem schönen Garten noch immer so traulich spatzieren gehn, wie in vergangenen Zeiten.
Bleiben Sie gesund und wohlgemuth, liebste Tante.
Sie und Alle um Sie herum grüßt herzlich
Ihr alter
Onkel Wilhelm.