Abend-Lied

[195] Es ist, O Mensch, heut abermahl

Ein Tag von deiner Jahre Zahl

Verflogen, und in nichts verwandelt.

Du näherst dich zu deiner Grufft,

Und zu der Stimme, die dir rufft:

Thu Rechnung, wie hast du gehandelt?


Wer aber giebt dir Sicherheit,

Daß morgen noch um diese Zeit

Du dieses Leben wirst geniessen?

Gott kennt und ordnet, was geschieht,

Vielleicht ist man alsdenn bemüht,

Dich in vier Breter einzuschliessen.


Die Zeit rückt unvermerckt heran,

In der dein Nachbar sagen kan

Von dir: auch dieser ist verschieden.

Weil du nun nicht die Stunde weist,

Wolan, so rüste deinen Geist,

Daß er hinfahren mag in Frieden.


Du hast dich in die Welt vergafft,

Was aber hat sie dir geschafft?

Viel trübe, wenig frohe Stunden.

Doch gabst du ihr aus eitlem Sinn,

Den besten Kern des Lebens hin,

Gott ward mit Hülsen abgefunden.
[195]

Reiß dich von ihren Stricken loß!

Allein in deines Vaters Schooß,

Da ist das höchste Gut zu finden;

Doch sey du wieder, als ein Kind,

Auch redlich gegen ihm gesinnt;

Entschlage dich gern aller Sünden.


Lieb' ihn, weil du ihn ehren must,

Und laß dich nicht Gewalt noch Lust

Von diesem heil'gen Vorsatz trennen.

Nimm das mit frohem Hertzen auf,

Was Er in deinem Lebens-Lauff,

Dir, zu gebrauchen, will vergönnen.


Dein Augen-Merck sey stets sein Wort!

Geh den geraden Weg nur fort,

Und scheint das Glück dir nicht gewogen,

So ist der beste Rath: schweig still!

Denn wer nicht willig folgen will,

Wird mit den Haaren fortgezogen.


Noch keiner hat durch Menschen-Gunst,

Vielweniger durch eigne Kunst,

Sich einen Wohlstand aufgebauet;

Gott hat die Hand in iedem Spiel,

Bald giebt Er wenig und bald viel,

Doch dem genug, der Ihm vertrauet.


Wer sich gewöhnt, auf Gott zu sehn,

Und, wo die Welt ihr Wohlergehn

Drauf setzt, als eitel zu betrachten,

Der ist an dem Gemüthe reich,

Sein Vorrath Crösus Schätzen gleich,

Er aber höher noch zu achten.


O Mensch, du bist ein fremder Gast,

Und weil du hier nichts eignes hast,

So must du auf den Himmel dencken.[196]

Drum laß dich nicht in etwas ein,

Das dir verhinderlich mag seyn,

Und auch wol deinen Nächsten kräncken.


Zwar weiß dein wildes Fleisch und Blut

Nicht, was der Zwang ihm gutes thut,

Doch must du dich entgegen setzen.

Und wenn dich böse Lust anficht,

So sprich: O Gott, hilf, daß ich nicht

Mir mein Gewissen mag verletzen!


Gelegenheit, die dich verführt,

Zu dem, was Missethat gebiert,

Must du, wie Schlangen-Bisse, meiden.

Der Satan schleicht, denck immer dran,

Dann die geringste Sünde kan

Gott und dich von einander scheiden.


Hast du gefehlt, so trage Reu,

Doch bald, und sonder Heucheley,

Du bist nicht Meister deiner Stunden.

Und, weist du, der du sicher bist,

Obs immer Gott gelegen ist,

Wenn du mit Ihm wilst seyn verbunden?


Erneure noch in dieser Nacht

Den Bund, den du mit Gott gemacht,

Und geh, in seinem Namen, schlaffen.

So wird er auch, nach seinem Rath,

Das, was er dir verliehen hat,

Vertheidigen mit starcken Waffen.


Mein Schöpffer, gib, daß, was itzund

Gesungen hat mein schwacher Mund,

In meinem Hertzen mag bekleiben.

Und schaffe ferner, daß dein Geist,

Wenn eine neue Frucht sich weist,

Sie mag zu vollem Wachsthum treiben.

Quelle:
Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Kritische Ausgabe: Gedichte, Tübingen 1982, S. 195-197.
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