Sechstes Kapitel.

[105] Enthält das Gedicht des in Verzweiflung gestorbenen Schäfers, nebst andern unverhofften Begebenheiten.


Kanzone des Chrysostomus

Ich soll, du willst es, Schreckliche, verkünden,

Wie groß die Macht von deinem wilden Grimme,

Von Land zu Land, zu aller Menschen Zungen,


Zur Hölle selbst will ich die Wege finden,

Das Mitleid tönt von dort in meine Stimme,

Im Abgrund Trost zu suchen ist gelungen.


Mein wilder Wunsch hat mir es abgedrungen,

Mein Leiden, deine Taten zu besingen.

Die Töne sollen laut die Luft durchschneiden,

Zu tiefrer Qual in allen Eingeweiden,

Im armen Busen seufzend widerklingen.
[106]

So höre denn und lausche meinen Tönen,

Kein sanftes Lied, ein Schmettern soll erdröhnen,

So wie die Qual mir wühlt im innern Herzen,

Ein rascher Wahnsinn treibt heraus die Leiden,

Zu meinen Freuden, dir zu bittern Schmerzen.


Des wilden Wolfes schreckenvolles Ächzen,

Gebrüll des Löwen, gift'ger Schuppenschlangen

Entsetzliches Gezisch, du gräßlich Sausen


Von tausend Ungetüm, prophetisch Krächzen

Der Krähe, Sturm, wenn du die nassen Wangen

Der Fluten geißelst unter dumpfem Brausen,


Gegirr der Witwentauben in den Klausen,

Des Stiers Geröchel, den die Todeswunde

Zu eitlem Wüten ängstet, dumpf Gestöhne

Der gattenlosen Eule, Klagetöne

Von jeder Schar im unterird'schen Schlunde:


O klingt und helft mir meine Klagen weinen,

Daß alle sich zu einem Ton vereinen,

In wilder Freundschaft durch die Lüfte brechen,

Denn diese Qual, da Herz und Sinn erstorben,

Sie muß in herben, neuen Klängen sprechen.


Nie schallten noch so Jammerklagen wider

Am weiten Strand, bespült von Tagus' Wogen,

Wo um den Ölbaum Baetis' Flut geschlungen.


Dort sollen tönen meine wilden Lieder

Durch tiefe Höhlen, über Felsenbogen,

Mit dem lebend'gen Wort von toten Zungen;


Auch dort, im dunkeln Tal, wo nie erklungen

Ein Menschenwort, wo nie ein Gruß gesprochen,

Auch da, wo, unbesucht vom Sonnenglanze,

Nur Unkraut wuchert und die gift'ge Pflanze,

Von Ungetüm, das Nil ernährt, durchkrochen;


Wenn Widerhall in diesen Wüsteneien

Mit heiserm Ton in meinen Jammer schreien[107]

Von deinem unerhört grausamen Sinne,

Erkundet diesen dann die weite Erde,

Im Tode werde dies mir zum Gewinne.


Verachtung tötet, durch des Argwohns herben

Heimtück'schen Frost muß die Geduld erstarren,

Und scharfe Schwerter sind Verdacht und Höhnen;


Der Liebende muß an der Trennung sterben:

Nie wird die Hoffnung seiner jemals harren,

Wenn er sich einmal muß vergessen wähnen.


Hierin sind stets gespannt des Todes Sehnen;

Doch ich – o seltnes Wunder! – kann noch leben,

Verschmäht, verhöhnt, voll Argwohn, überführet

Von dem, wo sonst Verdacht wie Tod berühret,

Und im Vergessensein, des Flammen um mich weben.


Und unter allen Martern läßt das Hoffen

Mir nach dem Lichte keine Spalte offen;

Verzweifelnd will ich nie die Hoffnung hören;

Nein, um das Äußerste im Schmerz zu leiden,

Von ihr zu scheiden ewig, will ich schwören.


Wer kann zugleich in selbem Augenblicke

Doch hoffen und auch fürchten? o des Toren!

Wenn alles nur gerechte Furcht begründet!


Nie tritt die Eifersucht von mir zurücke;

Schließ ich die Augen? Ist sie ja verloren,

Wenn sie in jedem Schmerz den Eingang findet?


Wie wehr ich, daß nicht jedes Gut verschwindet,

Wenn ich Verachtung unverhüllt muß sehen?

Wenn ich den Argwohn muß bestätigt schauen,

Daß ich ihm muß wie fester Wahrheit trauen,

Soll ich als Lügnerin die Wahrheit schmähen?


Mit Tyrannei sonst Eifersucht gebietet:

Ha! Dolche reich der Hand, die unnütz wütet;

Gib mir das Seil, Verachtung! in die Hände.

Ich Unglücksel'ger! so der Qual erliegend,

Mit Graun besiegend höhnst du auch mein Ende.
[108]

Ja sterben will ich, alle Hoffnung fliehen,

Nicht Trost im Tode suchen, nicht im Leben

Und meinen festen Glauben fester fassen.


Ich sehe dich für einen andern glühen,

Du hast dein freies Herz dem Gott ergeben,

Der niemals noch sein altes Reich verlassen:


Ich sage ja, du magst mich immer hassen,

So wie dein Körper schön ist deine Seele,

Daß du mich schmähst, ist ach! nur mein Verschulden,

Daß ich der Liebe Schmerzen muß erdulden,

Mein Herz in ewig wachen Martern quäle.


Ein starkes Seil und dieser feste Glauben

Wird endlich mir das läst'ge Leben rauben,

Zu solchem Schluß hin trieb mich dein Verschmähen,

Mag, auf die Hoffnungspalmen dort verzichtend,

Sich so vernichtend Geist und Leib verwehen.


O du, die, tötend mich in dem Verachten,

Mein Leben gibst und Kraft, so zu beginnen,

Daß ich mit Tod im eignen Herzen wüte;


Ich richte jetzt dahin mein letztes Trachten,

Zu zeigen dir mit Herz und allen Sinnen,

Wie fröhlich ich mich deiner Härte biete;


Rührt dich mein früher Tod, o so behüte

Den hellen Himmel deiner süßen Blicke,

Daß keine Träne ihren Schimmer trübe,

Ich will von dir kein Zeichen einer Liebe,

Ich weise jedes Mitleid nun zurücke.


Nein, lache, wenn die Botschaft du vernommen,

Daß jeder sieht, wie froh sie dir gekommen,

Doch wahrlich braucht's kein Lachen kundzugeben,

Ich weiß, es wird mit Lust und Stolz dich weiden,

Daß du durch Leiden endigst früh mein Leben.


So kommt, die Zeit ist da, aus tiefen Gründen,

Du, Tantalus, verschmachtend, von dem Pfade

O Sisyphus mit deiner Felsenmasse.
[109]

Bring Tityus deinen Geier, dich soll finden

Mein Blick, Ixion, mit dem schnellen Rade,

Die Schwestern emsig bei dem leeren Fasse.


Verbunden dann mit den Verdammten lasse

Ich meine Klagen aus, im dumpfen Leide

Vereinen sie sich all mit mir im Singen,

Dem Körper Totenopfer darzubringen,

Dem Unbegrabnen ohne Totenkleide.


Der Wächter, der die finstre Hölle schirmet

Und tausend andre Larven aufgetürmet,

Sie heulen dann die trauervollen Chöre,

Der Liebende, so tot und so begraben,

Er darf nicht haben größre Totenehre.


Beklagt euch nicht, verzweifelnde Gedichte,

Daß ich euch auch mit mir zugleich vernichte,

Denn ihr vergrößert wie mein Tod das Glücke

Von jener, die sich freut der herben Plagen,

Drum ohne Klagen geht ins Nichts zurücke.


Allen Zuhörern gefiel das Gedicht des Chrysostomus, nur bemerkte der, welcher es vorgelesen, daß es ihm nicht mit dem Gerüchte von Marcellas Tugend und Sitte übereinzukommen schiene, wenn Chrysostomus über seine Eifersucht, Trennung und seinen Argwohn klagt, alles gegen den guten Ruf und die Unbescholtenheit der Marcella.

Hierauf antwortete Ambrosius, dem die geheimsten Gedanken seines Freundes bekannt waren: »Edler Herr, damit ich Euch diesen Zweifel beantworte, müßt Ihr wissen, daß der Unglückliche dieses Gedicht schrieb, als er von der Marcella entfernt war, er hatte diese Trennung freiwillig erwählt, um zu erfahren, ob sie auf ihn die gewöhnliche Wirkung tun würde; und da entfernte Liebende von tausend Gedanken beunruhigt, von unzähligen Zweifeln erschüttert werden, so wurde auch Chrysostomus von falscher Eifersucht und ungegründetem Argwohn gequält, die er nicht für Traum und Erdichtung hielt. So wich er von der Wahrheit und dem allgemeinen Rufe ab, der die Tugend der Marcella verkündigt; nach diesem ist sie grausam, eigensinnig und unerbittlich, wobei ihr aber der Neid selbst keinen Fehler aufbürden kann.«

»Ihr habt recht«, antwortete Vivaldo, indem er sich bereitete, ein anderes Papier vorzulesen, das er dem Feuer entrissen hatte, als er durch eine seltsame Erscheinung daran gehindert wurde – denn wie eine Erscheinung kam sie allen vor –, die sich unvermutet ihren Blicken zeigte; denn auf der Spitze des Felsen, in welchem das Grab ausgehauen wurde, erschien die Schäferin Marcella so schön, daß der Ruf von ihrer Schönheit übertroffen wurde. Die sie noch niemals gesehen hatten, betrachteten sie mit stiller Bewunderung, und die an ihren Anblick gewöhnt waren, hefteten nicht minder hingerissen die Augen auf sie wie diejenigen, denen der Anblick neu war. Kaum aber hatte sie Ambrosius erblickt, als er mit dem Ausdrucke des Unwillens ausrief: »Ha! Du kömmst wohl, schrecklicher Basiliske dieser Gebirge, um[110] zu sehen, ob deine Gegenwart das Blut aus den Wunden dieses Unglückseligen wieder hervorruft, dem deine Grausamkeit das Leben raubte? Oder kömmst du, um über deine grausamen Taten zu triumphieren? wie ein zweiter frevelnder Nero den Brand deines angezündeten Roms von jener Höhe zu betrachten? oder willst du höhnend den Fuß auf diese jammervolle Leiche setzen, wie es die undankbare Tochter ihrem Vater Tarquinius tat? Sage nur schnell, was du willst oder welches dir die liebste Freude ist, denn ich weiß, wie jeder Gedanke des lebenden Chrysostomus dir dienstbar war; auch im Tode soll er dir gehorchen, und wir alle, seine Freunde, wollen dir ohne Widerspruch willfahren.«

»Keine von deinen angeführten Ursachen, Ambrosius, führt mich her«, antwortete Marcella, »sondern ich bin entschlossen, allen denen, die mir die Leiden und den Tod des Chrysostomus zuschreiben, zu zeigen, wie weit sie von der Wahrheit entfernt sind. Ich bitte also alle, die zugegen sind, aufmerksam zu bleiben, denn ich werde weder viele Zeit brauchen noch viele Worte verschwenden, um meinen Beweis den Verständigen deutlich zu machen. Der Himmel hat mich, wie Ihr sagt, schön geschaffen und so, daß Ihr, ohne weitere bewegende Ursache, mich meiner Schönheit wegen liebt, und die Liebe, die Ihr mir zeigt, soll, wie Ihr sagt, ja fordert, mich zwingen, Euch wiederzulieben. Durch den natürlichen Verstand, den Gott mir lieh, begreife ich, daß alles Schöne liebenswürdig ist; aber das ist mir unverständlich, wie die, weil man sie liebt, gezwungen sei, den zu lieben, der sie als eine Schönheit liebt; da es sich gar fügen kann, daß, der die Schöne liebt, häßlich ist, und alles Häßliche gehaßt werden muß, so reimt es sich übel zu sagen: ›Ich verehre dich, weil du schön bist, du mußt mich also lieben, bin ich gleich häßlich.‹ Wenn es sich aber auch trifft, daß gleiche Schöne sich entgegenkömmt, so macht dies nicht die Folge, daß sich die Wünsche begegnen müssen: denn nicht alle Schönen wirken Liebe, manche erfreuen das Auge, lassen aber den Willen frei, denn machten alle Reizende verliebt und fesselten sie den Willen, so würden sich alle Willen in verworrener Richtung fortbewegen, ohne zu wissen, auf welchem Gegenstand sie ruhen sollten; denn wie unzählig die Gegenstände der Schönheit sind, so unzählig müßten auch die Wünsche sein, und doch hat man mir gesagt, wie die wahre Liebe unteilbar ist, so sei sie auch freiwillig und ohne Zwang. Wenn dem so ist, wie ich es glaube, warum wollt Ihr meinen Willen durch Gewalt bezwingen, und aus keiner andern Ursache, als weil Ihr, wie Ihr es sagt, mich liebt? wo nicht, so sagt, ob es, wenn der Himmel, der mich schön geschaffen, mich häßlich gebildet hätte, recht wäre, wenn ich mich dann über Euch beklagte, daß Ihr mich nicht liebtet? wobei Ihr überdies erwägen müßt, daß ich mir meine Schönheit nicht erwählt habe, daß sie mir der Himmel ohne Bitte und Wahl nach seiner eignen Gnade verliehen hat; wie nun die Natter ohne Schuld ist, daß ihr Gift tötet, weil die Natur sie so eingerichtet hat, so verdiene auch ich nicht, daß man mir aus meiner Schönheit einen Vorwurf macht, denn die Schönheit der tugendvollen Frauen gleicht dem fernen Feuer oder dem scharfen Schwerte, weil jenes keinen brennt, dieses keinen verwundet, der ihnen fernbleibt. Die Ehre und die Tugend sind Schmuck der Seele, ohne welche der Leib, wie er auch sei, niemals schön erscheinen kann. Ist die Ehre nun von so hoher Tugend, daß sie Leib und Seele schmücken und verschönen kann, warum soll die, welche Ihr der Schöne wegen liebt, sie verlieren, dem Willen desjenigen zu gefallen, den einzig seine Leidenschaft treibt, ihren Verlust mit Gewalt und List zu suchen? Frei bin ich geboren; um frei zu leben, wählte ich die Einsamkeit des Gefildes. Die Bäume dieser Berge sind meine Gesellschaft, die hellen Wasser dieser Ströme meine Spiegel, diesen Bäumen, diesen Wassern mitteile ich meine Gedanken und Schönheit. Ein Feuer bin ich aus der Ferne, ein Schwert, weit weg gestellt. Wen mein Anblick zur Liebe lockte, den enttäuschten meine Worte. Wenn Wünsche sich von Hoffnungen nähren, so habe ich nicht die kleinste Hoffnung, weder dem Chrysostomus noch einem andern, gegeben, so daß man sagen kann, er sei an seinem Eigensinn, nicht an meiner Grausamkeit gestorben. Auf den Vorwurf,[111] daß seine Absichten redlich waren und daß ich sie deshalb hätte erwidern müssen, antworte ich, daß, wenn er an diesem Orte, an welchem jetzt sein Grab ausgehöhlt wird, mir die Redlichkeit seiner Gesinnung entdeckte, ich ihm hier erklärte, daß meine Gesinnung ist, in ewiger Einsamkeit zu leben, und wie nur die Erde das Kleinod meiner Schönheit und die Blume meiner Keuschheit genießen solle. Wenn er nun auch nach dieser Enttäuschung gegen alle Hoffnung seinen Sinn behalten und gegen den Wind segelte, wie bin ich schuld, wenn er mitten auf dem Meere seines Unsinns Schiffbruch leidet? Kam ich ihm entgegen, so war ich falsch, hätte ich seine Neigung erwidert, so hätte ich gegen meinen bessern Willen und Vorsatz gehandelt. Er kannte meine Gesinnung und blieb in seinem Wahne, er verzweifelt, ohne daß er von mir gehaßt ward; wo ist nun der Grund, daß Ihr die Schuld seines Todes mir beimessen könnt? Der Getäuschte klage, der verzweifle, den ich mit falscher Hoffnung hinterging, der rede laut, den ich herbeigelockt, der höhne mich, dem ich erwiderte; aber keiner nenne mich grausam oder Mörderin, dem ich nichts verspreche, ihn täusche, herbeirufe oder ihm Liebe erwidere. Bisher hatte es der Himmel über mich noch nicht verhängt, daß ich gezwungen lieben muß; der Glaube aber, daß ich aus Wahl lieben werde, ist Torheit. Diese allgemeine Enttäuschung sei für jeglichen von denen, die sich zu ihrem Vorteil um mich bewerben, jeder begreife in Zukunft, daß, wenn einer für mich stirbt, er nicht an Eifersucht und Unglück stirbt, denn wer keinen liebt, darf keinem Eifersucht geben; wie es auch unrecht wäre, diese Enttäuschungen für Verschmähungen anzusehen. Wer mich wild und Basilisk nennt, fliehe vor mir wie vor einem verderblichen und schädlichen Wesen; wer mich undankbar nennt, diene mir nicht, wer mich unerkenntlich heißt, bleibe mir unbekannt, grausam, der folge mir nicht: denn diese Wilde, der Basilisk, die Undankbare, Grausame, diese Unerkenntliche wird keinen suchen, ihm dienen, seine Bekanntschaft wünschen und auf keine Weise keinem folgen. Wenn Unvernunft und törichte Wünsche den Chrysostomus töteten, warum wird meine Ehre und Tugend angeklagt? Wenn ich meine Reinheit in Gesellschaft der Bäume bewahre, warum soll ich wünschen, daß sie der verletzt, der doch wünscht, daß ich sie unter den Menschen bewahre? Wie Ihr wißt, besitze ich eigenes Vermögen und begehre kein fremdes; ich bin frei, und es gefällt mir nicht, untertan zu werden; ich liebe und hasse keinen; ich täusche nicht den einen, bewerbe mich nicht um den andern, scherze nicht mit diesem, lache nicht mit jenem. Meine unbescholtene Gesellschaft sind die Hirtenmädchen dieser Gegend, meine Beschäftigung ist die Sorgfalt für meine Herde, meine Wünsche werden von diesen Bergen beschränkt; übersteigen sie diese, so geschieht es nur, die Schönheit des Himmels mir vorzustellen, den Aufenthalt, zu dem unsere Seele wie zu ihrer ersten Heimat zurückkehrt.«

Mit diesen letzten Worten wandte sie sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und verlor sich in einen nahen Hohlweg des Gebirges, indem sie alle über ihren Verstand wie über ihre Schönheit entzückt zurückließ. Einige von denen, die von den Strahlen ihrer schönen Augen wie von scharfen Pfeilen verwundet waren, wollten sich anschicken, ihr zu folgen, ohne die ausgesprochene Enttäuschung auf sich zu beziehen. Als Don Quixote dies bemerkte, schien es ihm, daß seine Ritterschaft hier trefflich anzuwenden sei, in Hülfe der genotdrängten Jungfrauen; er legte also die Hand an den Degen und sagte mit lauter und verständlicher Stimme: »Niemand, von wessen Stand und Würden er auch sei, unterfange sich, der schönen Marcella nachzufolgen, bei Strafe, meinen wütendsten Unwillen zu erfahren. Sie hat mit deutlichen und hinreichenden Gründen bewiesen, wie sie wenige oder keine Schuld am Tode des Chrysostomus habe und wie fern es ihr sei, in die Wünsche irgendeines ihrer Liebhaber einzustimmen; deshalb ist es gerecht, daß, statt gefolgt und verfolgt zu werden, man sie als das Edelste in der Welt schätze und verehre, denn sie ist wahrlich die einzige auf der Welt, die mit so edlen Vorsätzen lebt.«

Ob es nun die Drohungen Don Quixotes oder des Ambrosius Bitten bewirkten, daß sie alles, was er[112] seinem wackern Freunde schuldig sei, noch mit ihm vollbringen möchten, genug, alle gegenwärtigen Schäfer blieben ruhig, und keiner entfernte sich; so ward das Grab fertiggemacht, die Papiere des Chrysostomus wurden verbrannt, sein Leichnam in die Erde gelegt, wobei alle Umstehenden häufige Tränen vergossen. Mit einem großen Steine verschlossen sie das Begräbnis, auf dem sie Raum für eine Platte ließen, auf welche Ambrosius folgende Inschrift wollte eingraben lassen:


Hier liegt ein Opfer der Liebe,

Ein Schäfer vom Gefilde,

Der Grausamkeit zu milde,

Ihn tötete Unliebe.


Er starb dem mächt'gen Triebe

Zur undankbaren Schönen,

Die durch Verschmähn, Verhöhnen

Übt Tyrannei der Liebe.


Über das Grab wurden dann viele Blumen und Blätter gestreut, dann trennten sich alle vom Ambrosius, indem sie ihm wegen seines Freundes einen Trost über seinen Verlust sagten. Ebendies taten Vivaldo und sein Gefährte, und Don Quixote trennte sich von seinen Wirten und den Reisenden, die ihn baten, mit ihnen nach Sevilla zu ziehen, einem Orte, der, um Abenteuer zu finden, sehr bequem sei, denn in jedem Winkel und jeder Gasse stieße eins auf, mehr als irgendwo. Don Quixote bedankte sich für ihren Rat und ihre freundschaftliche Gesinnung, sagte aber zugleich, daß er für jetzt noch nicht nach Sevilla gehen dürfe, bis er alle diese Berge von den verborgenen schwarzen Mordbrennern gereinigt habe, mit denen sie angefüllt sein sollten. Da die Reisenden diesen edlen Entschluß hörten, drangen sie nicht weiter in ihn, sondern nahmen zum zweiten Male Abschied, verließen ihn und setzten ihren Weg fort, auf dem es ihnen nicht an Unterhaltung fehlte, sowohl über die Geschichte der Marcella und des Chrysostomus als auch über die Narrheit des Don Quixote. Dieser war entschlossen, die Schäferin Marcella aufzusuchen und ihr seine Dienste auf alle Weise anzubieten. Es kam aber nicht so, wie er es dachte, wie wir im weitern Verfolg dieser wahrhaften Historie hören werden, deren zweiter Teil hier beschlossen wird.

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 1, S. 105-113.
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