Adelbert von Chamisso

Adelberts Fabel

Adelbert merkte, als er erwachte, er müsse lange geschlafen haben; er rieb sich die Augen, die sich nicht recht dem Lichte öffnen wollten, und den Kopf, der ihm ganz wüste war; er besann sich endlich doch der Absicht, die er gehabt hatte: auf die weite mühselige Wanderung auszugehen, um die Welt zu erschauen, sich selbst in ihr, sodann nachzudenken, und zu begreifen, falls er's vermöchte; denn diese Dinge reizten ihn. Er sah den weißen Wanderstab neben sich liegen, wollte den ergreifen, sich aufraffen und unverdrossen weiter ziehen, aber der Winter war angebrochen und es war kalt; es hatte gefroren während seines Schlafes, und so fand er, daß sein Stab und seine Kleider und er selbst fest angefroren waren an dem Boden, so daß er sich nicht zu regen vermochte; die Hände nur, die auf seiner Brust geruht hatten, waren ihm frei geblieben. Durch die Zweige des Baumes, unter dem er lag, die nackt waren und ihres grünen Schmuckes beraubt, ging ein düstrer Nebelwind, daß sie unholden Klanges an einander rauschten; – es ist doch seltsam, dachte Adelbert; und er schlummerte wieder ein.

Adelbert schlummerte ein, und ward wach, und schlummerte wieder, und ermunterte sich aufs neue; hinter ihm (er lag gegen Norden hingestreckt) ging die Sonne auf, und ging nieder, und es wechselten die Monde, und die Jahre vergingen: er aber lag immer noch fest angefroren an dem Boden, und über seinem Haupte rauschten blätterlos die dürren windgeschlagenen Äste des Baumes. – Auch hatten sich rings um ihn, so weit er sehen konnte, Mauern aus Eis getürmt, die ihn umfingen und sich eng und enger um ihn drängten, gleich Mauern eines Kerkers, eines Grabes. Es ist doch seltsam, dachte Adelbert, und eine Beschwerde auf der Reise, und er dachte viel Törichtes, und wenig, das es nicht war; wie es denn manchem auf seiner Reise zu gehen pflegt.

Er dachte: man muß die Notwendigkeit männlich ertragen, und murren gegen das Verhängte, ist töricht. Gibt es einmal Gott, daß es Tauwetter werde, so erlang ich vielleicht wohl einmal noch meine Freiheit wieder, und setze dann meine Reise fort, und benutze klug, was ich alles sehe; und unter solchen Gedanken pflegt' er jedesmal wieder einzuschlafen.[7]

Er war durch gründliches Nachforschen, zu dem er auch vollkommen Zeit hatte, nun dahinter gekommen, wie das Wesen des Winters so sehr bösartig sei, und er hegte einen herben Haß gegen den Frost. Die einzige Lust, die er übrigens genoß, war, durch die Eisrinde, die ihn umschloß, zu den Sternen hinzuschauen, wann sie am nächtlichen Himmel prangten, und an dem ruhigen Kreislauf des himmlischen Wagens um den Polarstern lernt' er nach Zeiten erkennen, wann wiederum ein Jahr verstrichen war.

Da er eines Mittags zum ruhigen Nachdenken die Augen geschlossen hatte, und sodann entschlummert war, ward ihm, wie er die Augen wieder aufschloß, eine wundersame Erscheinung. Es stand vor ihm da in herrlicher Größe eine hohe weibliche Gestalt, nicht aber einem irdischen Weibe zu vergleichen. Sie schien in Schmerz versunken; mit langem Trauergewande war sie angetan, und ihr schwarzes Haar floß in nächtlichen Wellen von ihrer leuchtenden Stirne über ihr Antlitz herab zu den regen Lilien ihrer Brüste, und umgoß ihre schönen Glieder. Sie teilte mit einer Hand die Locken vor ihren Augen, und er sah ihr in das Angesicht; sein Herz erbebte in seiner Brust. Sie schritt näher zu ihm und neigte sich über ihn, und heftete die ernsten Blicke ihrer finsterflammenden Augen auf seine Blicke: sie sprach geheimnisreich die mächtigen Klänge ihres nichtirdischen Namens aus, wie nicht Töne von Menschenzungen sie nachzusprechen vermögen; dann schnitt sie und nahm mit sich fort eine Locke von seinem Haupte, und warf auf ihn eine Locke von ihrem eignen Haar, die sie durch einen Ring zog, den sie von ihrem Finger streifte; dann ward sie durch eine strenge Macht von ihm entfernt, und ihr ward ein Schweigensschleier übergeworfen, und sie hüllte sich in den Schleier, und häufig rückwärts blickend nach ihm wallte sie rasch nach Norden hin.

Umsonst raffte Adelbert, der besinnungslos und erstarrt lag, wie das Eis selbst, das ihn hielt, schnell seine Lebensgeister zusammen, und schrie ihr nach, flehend um Erbarmen, und weinte laut, und streckte seine Hände nach ihr – sie war entrückt, und es standen nur noch vor ihm da die düstern kalten Eismauern, die ihn umfingen. – Er vergoß viele Tränen, steckte den Ring an seinen Finger, die Locke auf seine Brust, und nachdem er sein Herz gesättigt mit seinen Tränen, entschlummerte er wieder aufs neue. Aber auch den Träumen seines Schlafes erschien das wundervolle Bild des Weibes, und quälte Adelberten mit Blicken, Schweigen und Entweichen; er erwachte und überdachte wieder das seltsame Ereignis, und schlummerte wieder ein, um zu träumen von dem Weibe. – Sein Herz war zu ihr entbrannt[8] in Liebe, und er fühlte, sie sei ihm und seinem Schicksal alles. Er flehte zu ihr mit Inbrunst, und hoffte und glaubte nur von ihr Rettung von seiner Pein und seiner Schmach. – Aber ihm erschien keine Rettung – also hielt er noch viele Monden aus. –

Endlich besann er sich eines Nützlicheren. Er hub an, den Ring mit angestrengtem Fleiße zu betrachten, welchen er annoch nur geküßt und an sein Herz gedrücket hatte, ob nicht etwa Zeichen in diesen Talisman eingegraben wären, und er wurde wirklich eingegrabne Zeichen an dem Ring gewahr – noch aber konnte er sie nicht lesen, es fehlte ihm das Verständnis.

Die Deutung nun der Zeichen zu erforschen, waren alle seine Geisteskräfte geschäftig rege, und er versuchte es angestrengt und unermüdet auf allen Wegen, und ward schlummerlos; noch zwar, so schien es, wollte ihm das Werk nicht gelingen; aber er verzweifelte nicht, er weinte nur Tränen der Seelenangst.

Und in einer Nacht, da er wieder das wunderbare Bild geträumt und scharf es angeschaut, da fuhr es wie ein Blitzstrahl durch seine Seele; er zog rasch den Ring hervor, und beim Schimmer des Polarsternes, der heller leuchtete, las er leicht und schnell das mächtige Wort: ΤΗΕΛΕΙΝ.

Θελειν! Wollen also?

»Sei's! Ich will's!« rief er mit Macht aus und sprang im Zorn auf, und die Bande des Eises, die ihn gehalten, waren zerschellt worden, leicht und rasch, wie ein Gedanke fleugt. – Er ergriff seinen Wanderstab: auch den gab das Eis willig los. – Itzt erhob sich die Sonne im Osten und übergoß mit blutigem Scheine die Wände des eisigen Burgverließes, in dem er, sich umschauend, bemerkte zu sein. Er steckte den Ring an den Zeigefinger seiner Rechten und ballte die Faust, und schritt zu der östlichen Wand, und tat einen gewaltigen Schlag, und mit donnerndem Schall erkrachte und stürzte zusammen das starre Gebäude, und lag in Trümmern um ihn. Und also stand er da, und überblickte nur einmal noch die Merkmale seiner langen Schmach, und weinte nicht, und lachte auch nicht auf; sondern er war ruhig ernst, bereit, Liebe im Busen, Kraft in den Gliedern, die vorgehabte Wanderung anzutreten.

Und die Sonne erhob sich flammend zu ihrem Mittage, und plötzlich schmolzen vor ihren Blicken die zerstreuten Trümmer der Eisburg. Da schwang sich ungestüm um Adelbert der Quell des lebendigen Wassers, und umkreiste ihn in wilder wirbelnder Strömung, da ward um ihn entfaltet ein unabsehbares Meer, das brandend aufbrauste mit drohendem Getöne, und die Wellen, die rings sich türmten,[9] schienen im Zorne gegen ihn erregt, sich in einander reißen zu wollen, auf daß sie ihn verschlängen. – Und ein Sturm erhob sich vom Meere mit entgegenstreitenden Winden, die alle Wolken über sein Haupt häuften. Er stand allein inmitten der Schrecken.

Und ein Windstoß stürmte zu ihm heran, daß er ihn niederwerfe – er stand fest – mit seinen Kleidern nur spielte der Sturm, aber die geheimnisvolle Locke, die er in seinem Busen verwahrte, ward ihm entrissen, und der Wind trieb sie über die Flut hin. Da warf er sich beherzt in die drohende Flut, und siehe! sanft ward er von den Wogen getragen, vor ihm ebnete sich das Meer, und legten sich die getürmten Wellen, die Orkane schwiegen vor seinem Nahen, und nur ein milder Hauch des Windes trieb ihn der windgetragenen Locke nach, die er mit unermüdlichem Auge verfolgte, ringend selber sie zu erreichen. Aber aus der dunkeln Locke erblühte vor seinen Blicken die ambrosische Gestalt selbst des geheimnisvollen verschleierten Weibes, die, geflügelten Fußes, und nicht berührend die Flut, dahin wallte vor dem Strebenden, lenkend gegen Norden und gegen Süden und gegen Westen seine eifernde Verfolgung.

Also vollbracht er viel des Weges, es war aber keine Zeit, die Sonne stand am südlichen Himmel; im Norden glänzte ernst und hell der Polarstern; die Rötin Aurora prangte im Osten, und im Westen waren ergossen die reichsten Gluten des Abends. Die Gestirne ordneten sich am Firmament zu wunderbaren Schicksalsfiguren; Azur war die Luft und Azur das Gewässer, dessen Schaum Rosen waren und Schmerzensblumen.

Und nach ungemessenem, langem, beharrendem Bestreben sah er die flüchtige schwebende Gestalt zu einem Lande, das zwischen Norden und Süden mit hohen Gebirgen erschien, ihren Flug lenken, und sie schaute nun häufiger und mit seltsameren Blicken nach ihm zurück. Und er spannte seine Kräfte mehr an, und schlug zum Schwimmen das Wasser mit erhöhter Macht, und nun wallte das Bild über das Ufer dahin, und erhob sich zu dem Gebirge; auch Adelbert erreichte das Land, und sein Fuß ruhete auf dem Festen; er begann den Lauf zu den Gebirgen hinan, immer verfolgend. Hinter ihm empörte sich die Flut und landeinwärts verfolgte ihn die drohende Brandung; die stürmischen Wellen brachen sich hinter seinen Fersen und riefen ihn mit Drohen und mit Klagen. Er schaute nur vor sich hin nach dem flüchtigen Ziele. Das führte ihn in ein Bergtal, das mehr und mehr sich vor ihm engte, und dessen überhängende Felsenwände das Getöse der steigenden Brandung donnernd nachhallten: und die Gestalt war jetzt vor ihm verschwunden. Das Tal, worin[10] er war, endigte in einen jähen Felsspalt, an dessen Eingange er nun stand. Verfolgt vom Meere preßte er sich in diese enge Pforte, und befand sich in einem unterirdischen, lichtlosen Gange, und es drang kein Klang mehr zu seinem Ohre: das Herz ergrauste ihm in dem Busen.

Er verfolgte lange mit Beharrlichkeit diesen Pfad, und harrte, getaucht in Finsternis, mutig vorwärts dringend, des Ausgangs. Und tiefer abwärts neigte sich der Gang, und immer nach der Tiefe zu führte er ihn, und er schien in unendliche Tiefe hinab sich zu senken.

Er war auf diese Weise lange hinab gestiegen, als ein fernes Leuchten durch die Finsternis zu dämmern anfing; da erweiterten sich die Felsenwände, und der Gang wölbte sich höher über seinem Haupte; ferne Harmonieen bewegten leise die Luft, er atmete freier, und verdoppelte den Schritt, immer vorwärts dringend; und hell und heller ward es vor ihm und tönender; aber zu dem Quelle des Zentrums, dem er nahte, zu gelangen, mußt er noch lange und zu unermeßlicher Tiefe hinabsteigen.

Da spähte er wundersame Gesichte! In unübersehbarem, unterirdischem Geschoß waren Webestühle ohne Zahl, an deren jeglichem zwo sich gleiche Gestalten im Gegenkampfe woben. Nur dies waren ihre Zeichen, daß man sie unterschiede: die einen trugen Karfunkel auf ihren Häuptern, die ihnen widerstreitenden aber eiserne Kronen, und wie die Macht von jenen siegend obwaltete, ward auch erhöhet die Helle des Steines, den sie trugen, und einzig den Steinen entquoll die Lichtluft dieses Fabelreiches, durch welche mächtige Harmonieen wogten.

Aber die Weberinnen an dem Webestuhle, dem er am nächsten war, erkannte er wohl, wie er sie schaute, und jenes wunderbare Weib waren sie, in Schmerz versunken, mit langem Trauergewande angetan, und das schwarze Haar ergossen von der leuchtenden Stirne über das Antlitz herab, zu den regen Lilien der Brüste und den schönen Gliedern. Die eine trug den Karfunkel, die eiserne Krone die andere; beide hefteten ernst die Augen auf ihn, Licht blickend jene, und diese Finsternis, und sie rangen angestrengt und woben: und er trat zu dem Webestuhle und schaute, und das Gewebe, das sie woben, war – sein eignes Leben.

»Ich habe euch erkannt, euch meine Schicksalsgenien«, rief Adelbert; »Karfunkel du meiner innern Selbstmacht, und du, finstrer Widerstreit der äußern Weltmächte; aber Macht und Helle werden dir, dir köstlichem Karfunkel!«[11]

Es ward ihm die Antwort: »Schaue auf!« dem Aufschauenden aber ward dies andere Gesicht:

Er sah mitten im Raume, in hehrer Majestät, auf erhabenem Throne einen Alten sitzen; der trug auf seiner Stirn seinen Namen, und dieser Name ist (ob auch tausendzungig anders ausgesprochen): ΑΝΑΓΚΗ. Sein weites Gewand war gestirnter Azur, die Harfe ruhte in seiner Linken, und mit seiner Rechten griff er in die Saiten, denen ewiglich alle Harmonieen entquollen. Und wie er in die Saiten griff, bewegten sich die Sterne seines Gewandes, und ordneten sich nach seinen Akkorden, und wie sich ordneten die Sterne, und wie die Macht war der Akkorde, die er griff, wogte auch der Kampf der webenden Gestalten. Und ihre Bewegungen, ihr Sinken, ihr Steigen, und all ihr Weben, und aller Glanz, den die Karfunkel sprühten, waren die Töne, die er griff. Aber die gesamten vielfarbigen Gewebe waren vor ihm ein einiges Gewebe, ein Akkord.

Und auf dem Altare vor dem Throne des Alten sah Adelbert die Locke seines Haupthaars mit jener andern Locke vereint; er zog den Ring von seinem Finger, las das Wort, las nun: ΣΨΝΤΗΕΛΕΙΝ. Er fiel nieder in Anbetung vor dem Throne. Da erwachte er; und er hatte das Antlitz gewendet gegen die in Osten aufsteigende Sonne.

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 7-12.
Erstdruck:
In: Erzählungen und Spiele. Herausgegeben von Wilhelm Neumann und Karl August Varnhagen, Hamburg (Adolph Schmidt) 1807.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Paoli, Betty

Gedichte

Gedichte

Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon