Die Jungfrau von Stubbenkammer

[233] Volkssage


Ich trank in schnellen Zügen

Das Leben und den Tod

Beim Königsstuhl auf Rügen

Am Strand im Morgenrot.


Ich kam am frühen Tage

Nachsinnend einsam her,

Und lauscht dem Wellenschlage,

Und schaute übers Meer.


Wie schweifend aus der Weite

Mein Blick sich wieder neigt,

Da hat sich mir zur Seite

Ein Feenweib gezeigt.


An Schönheit sondergleichen,

Wie nimmer Augen sahn,

Mit goldner Kron und reichen

Gewändern angetan.


Sie kniet' auf Felsensteinen,

Umbrandet von der Flut,

Und wusch, mit vielem Weinen,

Ein Tuch befleckt mit Blut.
[233]

Umsonst war ihr Beginnen,

Sie wusch und wusch mit Fleiß,

Der böse Fleck im Linnen

Erschien doch nimmer weiß.


Da sah sie unter Tränen

Mich an, und bittend fast;

Da hat ein heißes Sehnen

Mich namenlos erfaßt.


»Gegrüßet mir, du blendend,

Du wundersames Bild! – –«

Sie aber, ab sich wendend,

Sprach schluchzend aber mild:


»Ich weine trüb und trüber

Die Augen mir und blind;

Gar viele ziehn vorüber,

Und nicht ein Sonntagskind.


Nach langem, bangem Hoffen

Erreichst auch du den Ort –

O hättest du getroffen

Zum Gruß das rechte Wort!


Hättst du Gott helf! gesprochen,

Ich war erlöst und dein,

Die Hoffnung ist gebrochen,

Es muß geschieden sein!« –


Da stand sie auf zu gehen,

Das Tuch in ihrer Hand,

Und, wo die Pfeiler stehen,

Versank sie und verschwand.


Ich trank in schnellen Zügen

Das Leben und den Tod

Beim Königsstuhl auf Rügen

Am Strand im Morgenrot.
[234]

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 233-235.
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