Die goldene Zeit

[210] Oh le bon siècle, mes frères,

Que le siècle où nous vivons!

Armand Charlemagne

(Fliegendes Blatt)


Füllt die Becher bis zum Rand,

Tut, ihr Freunde, mir Bescheid:

Das befreite Vaterland,

Und die gute goldne Zeit!

Dann der Bürger denkt und glaubt,

Spricht und schreibt nun alles frei,

Was die hohe Polizei

Erst geprüft hat und erlaubt.


Du eröffnest mir den Mund,

Du geschwätz'ger Traubensaft,

Und die Wahrheit mach ich kund,

Rücksichtslos mit freud'ger Kraft.

Steigt die Sonne, wird es Tag,

Sinkt sie unter, wird es Nacht.

Nehm vor Feuer sich in Acht,

Wer sich nicht verbrennen mag.


Ungeschickt zum Löschen ist,

Wer da Öl gießt, wo es brennt;

Noch ist drum kein guter Christ,

Der zu Mahom sich bekennt.[210]

Scheut die Eule gleich das Licht,

Fährt sich's doch vorm Winde gut,

Besser noch mit Wind und Flut,

Aber gegen beide nicht.


Wer nicht sehen kann, ist blind,

Wer auf Krücken geht, ist lahm;

Mancher redet in den Wind,

Mancher geht, so wie er kam.

Grünt die Erde weit und breit,

Glaube nicht den Frühling fern;

Rückwärts gehn die Krebse gern,

Aber vorwärts eilt die Zeit.


Zwar ist nicht das Dunkle klar,

Doch ist nicht, was gut ist, schlecht;

Denn, was wahr ist, bleibt doch wahr,

Und, was recht ist, bleibt doch recht.

Goldes-Überfluß macht reich,

Aber Lumpen sind kein Geld.

Wer mit Steinen düngt sein Feld,

Macht gar einen dummen Streich.


An der Zeit, ist nicht zu spät,

Doch Geschehnes ist geschehn,

Und wer Disteln hat gesät,

Wird nicht Weizen reifen sehn.

Gestern war's, nun ist es heut,

Morgen bringt auch seinen Lohn;

Kluge Leute wissen's schon,

Nur sind Narren nicht gescheut.


Und am besten weiß, wer klagt,

Wo ihn drückt der eigne Schuh;

Wer zuerst nur A gesagt,

Setzt vielleicht noch B hinzu;

Denn, wie Adam Riese spricht,

Zwei und zwei sind eben vier – – –

Gott! wer pocht an unsre Tür?

Ihr, verratet mich nur nicht!
[211]

»Hebt auf das verruchte Nest,

Sie mißbrauchen die Geduld.

Setzt den Jakobiner fest,

Wir sind Zeugen seiner Schuld;

Er hat öffentlich gelehrt:

Zwei und zwei sind eben vier.« –

Nein, ich sagte... »Fort mit dir,

Daß die Lehre keiner hört!«


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 210-212.
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