Frühling und Herbst

[194] Fürwahr, der Frühling ist erwacht;

Den holden Liebling zu empfahn,

Hat sich mit frischer Blumenpracht

Die junge Erde angetan.


Die muntern Vögel, lieberwärmt,

Begehn im grünen Hain ihr Fest.

Ein jeder singt, ein jeder schwärmt,

Und bauet emsig sich sein Nest.


Und alles lebt und liebt und singt,

Und preist den Frühling wunderbar,

Den Frühling, der die Freude bringt;

Ich aber bleibe stumm und starr.


Dir, Erde, gönn ich deine Zier,

Euch, Sänger, gönn ich eure Lust,

So gönnet meine Trauer mir,

Den tiefen Schmerz in meiner Brust.


Für mich ist Herbst; der Nebelwind

Durchwühlet kalt mein falbes Laub;

Die Äste mir zerschlagen sind,

Und meine Krone liegt im Staub.

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 194.
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