Erscheinung

[383] Die zwölfte Stunde war beim Klang der Becher

Und wüstem Treiben schon herangewacht,

Als ich hinaus mich stahl, ein müder Zecher.

Und um mich lag die kalte, finstre Nacht;

Ich hörte durch die Stille widerhallen

Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht.

Wie aus den klangreich fest-erhellten Hallen

In Einsamkeit sich meine Schritte wandten,

Ward ich von seltsam trübem Mut befallen.

Und meinem Hause nah, dem wohlbekannten,

Gewahrt ich, und ich stand versteinert fast,

Daß hinter meinen Fenstern Lichter brannten.

Ich prüfte zweifelnd eine lange Rast,

Und fragte: macht es nur in mir der Wein?

Wie käm zu dieser Stunde mir ein Gast?

Ich trat hinzu, und konnte bei dem Schein

Im wohlverschloßnen Schloß den Schlüssel drehen,

Und öffnete die Tür, und trat hinein.

Und, wie die Blicke nach dem Lichte spähen,

Da ward mir ein Gesicht gar schreckenreich, –[383]

Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen.

Ich rief: »Wer bist du, Spuk?« – er rief sogleich:

»Wer stört mich auf in später Geisterstunde?«

Und sah mich an, und ward, wie ich, auch bleich.

Und unermeßlich wollte die Sekunde

Sich dehnen, da wir starrend wechselseitig

Uns ansahn, sprachberaubt mit offnem Munde.

Und aus beklommner Brust zuerst befreit ich

Das schnelle Wort: »Du grause Truggestalt,

Entweiche, mache mir den Platz nicht streitig!«

Und er, als einer, über den Gewalt

Die Furcht nur hat, erzwingend sich ein leises

Und scheues Lächeln, sprach erwidernd: »Halt!

Ich bin's, du willst es sein; – um dieses Kreises,

Des wahnsinn-drohnden, Quadratur zu finden,

Bist du der rechte, wie du sagst, beweis es;

Ins Wesenlose will ich dann verschwinden.

Du Spuk, wie du mich nennst, gehst du das ein,

Und willst auch du zu Gleichem dich verbinden?«

Drauf ich entrüstet: »Ja, so soll es sein!

Es soll mein echtes Ich sich offenbaren,

Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schein!«

Und er: »So laß uns, wer du seist, erfahren!«

Und ich: »Ein solcher bin ich, der getrachtet

Nur einzig nach dem Schönen, Guten, Wahren;

Der Opfer nie dem Götzendienst geschlachtet,

Und nie gefrönt dem weltlich eitlen Brauch,

Verkannt, verhöhnt, der Schmerzen nie geachtet;

Der irrend zwar und träumend oft den Rauch

Für Flamme hielt, doch mutig beim Erwachen

Das Rechte nur verfocht: – bist du das auch?«

Und er mit wildem, kreischend lautem Lachen:

»Der du dich rühmst zu sein, der bin ich nicht.

Gar anders ist's bestellt um meine Sachen.

Ich bin ein feiger, lügenhafter Wicht,

Ein Heuchler mir und andern, tief im Herzen

Nur Eigennutz, und Trug im Angesicht.

Verkannter Edler du mit deinen Schmerzen,

Wer kennt sich nun? wer gab das rechte Zeichen?

Wer soll, ich oder du, sein Selbst verscherzen?

Tritt her, so du es wagst, ich will dir weichen!«[384]

Drauf mit Entsetzen ich zu jenem Graus:

»Du bist es, bleib, und laß hinweg mich schleichen!« –

Und schlich, zu weinen, in die Nacht hinaus.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 383-385.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand)
Gedichte Und Versgeschichten
Peter Schlemihls wundersame Geschichte und ausgewählte Gedichte.
Chamissos Werke: Erster Teil: Gedichte
Gedichte: Ausgabe letzter Hand
Hundert Gedichte

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon